Jede Kunstform hat ihren Ursprung in einem Werk, einer Idee, einer Person. So etwa die Geschichte der modernen Musik: Das 20. Jahrhundert hat unzählige stilbildende Künstler hervorgebracht – Hank Williams, Muddy Waters, Bob Dylan –, doch die Kette der Inspiration lässt sich letzten Endes, mehr oder weniger zumindest, auf den legendären Delta-Bluesman Robert Johnson, der 1938 mit nur 27 Jahren starb, zurückverfolgen.
Eine ähnliche Logik kann auch auf den Film, das definierende Kunstmedium des letzten Jahrhunderts, angewendet werden. Hier steht allerdings kein Einzelwerk an der Spitze der Hierarchie, sondern vielmehr eine Gruppe von Filmen, doch das Phänomen ist dasselbe. Was, wenn Meilensteine wie Le voyage dans la lune (1902), The Birth of a Nation (1915), Metropolis (1927), La passion de Jeanne d'Arc (1928) oder eben Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) nicht existierten? Nicht auszudenken, wo das bewegte Bild als Erzählform heute wäre.
Der Stellenwert, den Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari in der Filmhistorie einnimmt, lässt sich kaum hoch genug schätzen. Nicht nur ist der Stummfilm ein frühes Beispiel für den expressionistischen Film der Weimarer Republik und somit ein Vorreiter des deutschen Kinos, er ebnete quasi im Alleingang den Weg für das Genre des Horrorfilms (zwei Jahre nach seinem Erscheinen entstand F.W. Murnaus Nosferatu, eine Symphonie des Grauens) und er gilt allgemein als einer der frühesten Streifen, der sich des Stilelements der Rahmenhandlung bediente. Auch was die Geschichte betrifft, ist der Einfluss des Films nicht nur immens, sondern auch anhaltend. Filme wie The Imaginarium of Doctor Parnassus oder Shutter Island wurden, nach Angaben der Regisseure – Terry Gilliam respektive Martin Scorsese –, stark von der Thematik von Wienes Film beeinflusst.
Tatsächlich liest sich der Plot von Das Cabinet des Dr. Caligari wie eine Art Blaupause für zahlreiche Mysterystreifen, die in den 90 Jahren seit dessen Veröffentlichung über die Leinwände flackerten: Francis (Friedrich Fehér) sitzt mit einem älteren Mann (Hans Lanser-Rudolf) auf einer Bank, als Francis' Verlobte Jane (Lil Dagover) vorübergeht. Daraufhin erzählt der junge Mann die Geschichte des verrückten Dr. Caligari (Werner Krauss), der auf dem Jahrmarkt im Dorf Holstenwall seinen Somnambulisten (einen Schlafwandler) namens Cesare (Conrad Veidt, der in Casablanca seinen zweitletzten Auftritt hatte) ausstellte und ihn Prophezeihungen machen liess. Auf die Frage von Francis' Freund Alan, der ebenfalls in Jane verliebt war, wann er sterben würde, antwortet Cesare "Noch vor der nächsten Morgendämmerung", was sich auch prompt bewahrheitet. Bald ist ganz Holstenwall in heller Panik und sucht verzweifelt nach dem kaltblütigen Mörder.
Ist es möglich, Das Cabinet des Dr. Caligari nach heutigen Standards zu messen? Nein. Was aber möglich ist, ist die Frage, ob der Film nach wie vor seinen Zweck erfüllt. Fasziniert er noch immer? Ist noch Spannung im Plot vorhanden? Allerdings. Zwar lässt sich die Lösung des Mörderrätsels relativ leicht erahnen, doch das Ende wird einen dennoch auf dem falschen Fuss erwischen. Auch visuell ist Wienes Film ein Unikat – auch wenn umstritten ist, wieviel tatsächlich dem Regisseur zuzuschreiben ist. Es wird hervorragend mit Licht und Schatten gearbeitet und der expressionistische Hintergrund kommt wundervoll zum Ausdruck: Ausstattung, Architektur, ja selbst die Dialog-Zwischentitel sind von Asymmetrie geprägt; einzig die Fassade des Irrenhauses ist den Gesetzen des "normalen" Bauwesens unterworfen - daraus soll jeder seine eigenen Schlüsse ziehen.
Es ist wenig überraschend, dass es Myriaden von Interpretationen zu Das Cabinet des Dr. Caligari gibt. Während die einen seine Aussage der der Norm trotzenden Bewegung des Expressionismus zuordnen, sehen andere in ihm den klassischen Kampf zwischen Diener und Meister, dargestellt im Konflikt von Caligari und Cesare. Die bekannteste Deutung des Stoffs ist aber zweifelsfrei diejenige, die Siegfried Kracauer in seinem Buch Von Caligari zu Hitler (1947) darlegte. Kracauer zufolge widerspiegelt Das Cabinet des Dr. Caligari, gemeinsam mit anderen Filmen der frühen Weimarer Republik, in denen Tyrannen-Charaktere figurieren, die soziale Einstellung der Deutschen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die sich nach einer hierarchischen Ideologie wie Adolf Hitlers Nationalsozialismus sehnten. Laut ihm symbolisiere der Holstenwaller Jahrmarkt das Chaos der Nachkriegsgesellschaft, der nur eine diktatorische Person wie Dr. Caligari entgegenwirken könne.
Ob diese ambitionierte These nun der Weisheit letzter Schluss ist, soll jeder selber für sich entscheiden. Tatsache ist, dass Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari auch im 21. Jahrhundert, fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen, eine besondere Faszination ausübt, der man sich nur sehr schwer entziehen kann. Die ungewöhnliche äussere Erscheinung des Films, die ursprüngliche, spannende Geschichte – alle diese Faktoren funktionieren heute noch genauso wie bei der Premiere am 27. Februar 1920. Denn Filmmagie ist zeitlos.
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