Mittwoch, 30. Januar 2013

Blancanieves

Die Möglichkeit, dass die Preise, mit denen das französische Stummfilm-Imitat The Artist 2012 überhäuft wurde, einen neuen Retro-Trend einläuten würden, war von Anfang an gering. Trotzdem veranschaulicht der neue Film des Spaniers Pablo Berger die Macht solcher Awards: Nicht nur behauptet sich Blancanieves, primär wohl dank des Erfolgs von Michel Hazanavicius, im internationalen Geschäft; die fantasievolle Nacherzählung des Schneewittchen-Märchens wurde auch für 18 Goyas nominiert.

Andalusien in den Zwanzigerjahren: Der Star-Torero Antonio Villalta (Daniel Giménez Cacho) wird während eines Stierkampfes von einem Bullen aufgespiesst und ist fortan querschnittsgelähmt. Als seine Frau Carmen (Inma Cuesta) wenig später bei der Geburt des gemeinsamen Kindes stirbt, wittert die Krankenschwester Encarna (Maribel Verdú) ihre Chance und ehelicht den Invaliden. Jahre später tötet Encarna Antonio und plant, auch dessen Tochter Carmen (Macarena García) auszuschalten. Diese entkommt, verliert aber ihr Gedächtnis. Gefunden wird sie schliesslich von einer Gruppe von Torero-Zwergen, die ihr den Namen "Blancanieves" geben und sie einladen, mit ihnen durchs Land zu ziehen.

Eines der irritierenderen Probleme, welches an The Artist nagte, war der unüberbrückbare Graben zwischen Anspruch und Realität. Michel Hazanavicius' Projekt gerierte sich als Verneigung vor dem Stummfilm, war jedoch in Tat und Wahrheit ein charmantes, aber letztlich asymmetrisches Hybridwesen aus dem eigentlichen Medium, dem klassischen Studio-Musical und zahllosen Versatzstücken aus den ersten 30 Jahren Hollywoods. Künstlichkeit dieser Art tritt Pablo Berger (Torremolinos 73) in seinem erst zweiten Langspielfilm entschieden entgegen. Blancanieves ist als Hommage an den europäischen Stummfilm der Zwanzigerjahre angelegt und es ist von der ersten Einstellung an offensichtlich, dass Berger weiss, wovon er spricht. Er eröffnet seine Märchenadaption in einem Kinopalast aus längst vergangenen Tagen, ganz in der Tradition von Dziga Vertovs Man with a Movie Camera: Das Publikum kommt zur Ruhe, das Live-Orchester spielt sich ein, der rote Vorhang öffnet sich, die Vorstellung beginnt.

Blancanieves (Macarena García) in der Stierkampfarena.
Was folgt, ist eine handwerkliche Meisterleistung. Bergers Wanderung durch die Geschichte des späten Stummfilms ist ein Leckerbissen für das filmhistorisch geneigte Publikum. Wie Murnau überblendet er virtuos und lässt die Kamera frei durch den Raum schweben. Wie Eisenstein und Pudovkin schneidet er zuweilen im Rhythmus eines Maschinengewehrs. Wie Dreyer spielt er mit Licht, Schatten und Grossaufnahmen. Wie Buñuel und Dalí bedient er sich der surrealen Bildsprache. Seine Schauplätze führt er mit Griffith'scher Grandeur ein. Einzig die Zwischentitel, obwohl stimmig deklarativ, sind streckenweise fast zu kindlich gehalten und bewegen sich gefährlich nahe an der Grenze zur Selbstparodie. Insgesamt aber sind die Zitate, zu denen auch die eine oder andere Tonfilm-Referenz gehört, kein Selbstzweck, sondern strikt die Untertanen des Gezeigten. Berger versteht den Stummfilm und lässt dessen Stilistik für ihn und seine Geschichte arbeiten; er vermengt die Innovationen alter Meister mit eigenen Ideen – sein Gebrauch der Lochblende ist ebenso pfiffig wie elegant.

Die Hürde, die Blancanieves aber nicht meistern kann, ist die der Handlung. Das Schneewittchen-Märchen der Gebrüder Grimm gibt seit jeher bloss einen begrenzt attraktiven Filmstoff ab, was neben den beiden anderen diesbezüglichen Produktionen mit Jahrgang 2012 – Mirror Mirror und Snow White and the Huntsman – auch schon der erste Langfilm der Disney-Studios, Snow White and the Seven Dwarves aus dem Jahr 1937, aufgezeigt hat. Bergers Änderungen und Anpassungen des Originalstoffs sind zwar willkommen – der hehre Prinz ist verschwunden, die Zwerge, sechs an der Zahl, sind kleinwüchsige Show-Toreros –, vermögen allein aber die Länge von 90 Minuten nicht zu rechtfertigen. Repetition prägt den ersten Akt; Bergers Mühe, formale Brillanz mit inhaltlicher Kohäsion zu verbinden, ist kaum zu übersehen.
 
Schneewittchen und die sechs Zwerge: Carmen reist mit einer Gruppe von kleinwüchsigen Toreros durch Spanien.
So ähnelt Blancanieves The Artist wenigstens in einem Aspekt: Beides sind Filme mit dem Potenzial, ein Mainstream-Publikum auf die Klassiker des Stummfilms hinzuweisen, ohne selber zu einem solchen zu werden. Doch auch wenn Berger letztendlich an seiner Geschichte scheitert, so ist es ihm immerhin gelungen, der Welt einen "echten" Stummfilm zu schenken, einen, der sein Medium lebt statt nur imitiert. Selten war "Stil über Substanz" dermassen befriedigend.

★★★

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