Die Möglichkeit, dass die Preise, mit denen das französische
Stummfilm-Imitat The Artist 2012 überhäuft wurde, einen
neuen Retro-Trend einläuten würden, war von Anfang an gering.
Trotzdem veranschaulicht der neue Film des Spaniers Pablo Berger die
Macht solcher Awards: Nicht nur behauptet sich Blancanieves,
primär wohl dank des Erfolgs von Michel Hazanavicius, im
internationalen Geschäft; die fantasievolle Nacherzählung des
Schneewittchen-Märchens wurde auch für 18 Goyas nominiert.
Andalusien in den Zwanzigerjahren: Der Star-Torero Antonio Villalta
(Daniel Giménez Cacho) wird während eines Stierkampfes von einem
Bullen aufgespiesst und ist fortan querschnittsgelähmt. Als seine
Frau Carmen (Inma Cuesta) wenig später bei der Geburt des
gemeinsamen Kindes stirbt, wittert die Krankenschwester Encarna
(Maribel Verdú) ihre Chance und ehelicht den Invaliden. Jahre später
tötet Encarna Antonio und plant, auch dessen Tochter Carmen
(Macarena García) auszuschalten. Diese entkommt, verliert aber ihr
Gedächtnis. Gefunden wird sie schliesslich von einer Gruppe von
Torero-Zwergen, die ihr den Namen "Blancanieves" geben und
sie einladen, mit ihnen durchs Land zu ziehen.
Eines der irritierenderen Probleme, welches an The Artist nagte,
war der unüberbrückbare Graben zwischen Anspruch und Realität.
Michel Hazanavicius' Projekt gerierte sich als Verneigung vor dem
Stummfilm, war jedoch in Tat und Wahrheit ein charmantes, aber
letztlich asymmetrisches Hybridwesen aus dem eigentlichen Medium, dem
klassischen Studio-Musical und zahllosen Versatzstücken aus den
ersten 30 Jahren Hollywoods. Künstlichkeit dieser Art tritt Pablo
Berger (Torremolinos 73) in seinem erst zweiten Langspielfilm
entschieden entgegen. Blancanieves ist als Hommage an den
europäischen Stummfilm der Zwanzigerjahre angelegt und es ist von
der ersten Einstellung an offensichtlich, dass Berger weiss, wovon er
spricht. Er eröffnet seine Märchenadaption in einem Kinopalast aus
längst vergangenen Tagen, ganz in der Tradition von Dziga Vertovs
Man with a Movie Camera: Das Publikum kommt zur Ruhe, das
Live-Orchester spielt sich ein, der rote Vorhang öffnet sich, die
Vorstellung beginnt.
Blancanieves (Macarena García) in der Stierkampfarena. |
Was folgt, ist eine handwerkliche Meisterleistung. Bergers Wanderung
durch die Geschichte des späten Stummfilms ist ein Leckerbissen für
das filmhistorisch geneigte Publikum. Wie Murnau überblendet er
virtuos und lässt die Kamera frei durch den Raum schweben. Wie
Eisenstein und Pudovkin schneidet er zuweilen im Rhythmus eines
Maschinengewehrs. Wie Dreyer spielt er mit Licht, Schatten und
Grossaufnahmen. Wie Buñuel und Dalí bedient er sich der surrealen
Bildsprache. Seine Schauplätze führt er mit Griffith'scher Grandeur
ein. Einzig die Zwischentitel, obwohl stimmig deklarativ, sind
streckenweise fast zu kindlich gehalten und bewegen sich gefährlich
nahe an der Grenze zur Selbstparodie. Insgesamt aber sind die Zitate,
zu denen auch die eine oder andere Tonfilm-Referenz gehört, kein
Selbstzweck, sondern strikt die Untertanen des Gezeigten. Berger
versteht den Stummfilm und lässt dessen Stilistik für ihn und seine
Geschichte arbeiten; er vermengt die Innovationen alter Meister mit
eigenen Ideen – sein Gebrauch der Lochblende ist ebenso pfiffig wie
elegant.
Die Hürde, die Blancanieves aber nicht meistern kann, ist die
der Handlung. Das Schneewittchen-Märchen der Gebrüder Grimm gibt
seit jeher bloss einen begrenzt attraktiven Filmstoff ab, was neben
den beiden anderen diesbezüglichen Produktionen mit Jahrgang 2012 –
Mirror Mirror und Snow White and the Huntsman – auch
schon der erste Langfilm der Disney-Studios, Snow
White and the Seven Dwarves
aus dem Jahr 1937, aufgezeigt hat. Bergers Änderungen und
Anpassungen des Originalstoffs sind zwar willkommen – der hehre
Prinz ist verschwunden, die Zwerge, sechs an der Zahl, sind
kleinwüchsige Show-Toreros –, vermögen allein aber die Länge von
90 Minuten nicht zu rechtfertigen. Repetition prägt den ersten Akt;
Bergers Mühe, formale Brillanz mit inhaltlicher Kohäsion zu
verbinden, ist kaum zu übersehen.
Schneewittchen und die sechs Zwerge: Carmen reist mit einer Gruppe von kleinwüchsigen Toreros durch Spanien. |
So ähnelt Blancanieves
The Artist wenigstens
in einem Aspekt: Beides sind Filme mit dem Potenzial, ein
Mainstream-Publikum auf die Klassiker des Stummfilms hinzuweisen,
ohne selber zu einem solchen zu werden. Doch auch wenn Berger
letztendlich an seiner Geschichte scheitert, so ist es ihm immerhin
gelungen, der Welt einen "echten" Stummfilm zu schenken,
einen, der sein Medium lebt statt nur imitiert. Selten war "Stil
über Substanz" dermassen befriedigend.
★★★
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