Nach mehr als einem Jahrzehnt hat sich Robert Zemeckis mit Flight
wieder dem Realspielfilm zugewandt. Zwar kann das vielschichtige
Drama seinen hohen Ansprüchen nicht ganz gerecht werden, doch der
Regisseur von Forrest Gump kombiniert Versatzstücke des
Hollywoods der Neunzigerjahre zu einem soliden Stück Kino.
Es tagt in Orlando und William "Whip" Whitaker (Denzel
Washington) hat wieder einmal kaum geschlafen. Zum Frühstück
genehmigt er sich einen Schluck Bier und eine Linie Kokain, danach
verlässt er das Hotel und schleppt sich zum Flugzeug, welches er
gleich als Pilot nach Atlanta manövrieren soll. 52 Minuten wird der
Flug voraussichtlich dauern, das Wetter ist garstig, doch Whip ist
ein erfahrener und geachteter Pilot, der, wie es scheint, schon
Übleres gemeistert hat. Doch etwa nach der Hälfte der Reisezeit,
bei klarem Wetter, zerfällt die Maschine buchstäblich in ihre
Einzelteile. Dank einiger gewagter Massnahmen gelingt es Whitaker,
das Flugzeug in einem Feld aufzusetzen. Eine Bruchlandung, ja, aber
fernab jeglicher Wohngebiete; von 102 Passagieren überleben 96.
Während Whip sich von seinen Verletzungen erholt und von den Medien
als stiller Held gefeiert wird, bricht neues Unheil über ihn herein:
Eine Blutprobe hat ergeben, dass er während des Flugs alkoholisiert
war. Gemeinsam mit seinem Anwalt Hugh Lang (Don Cheadle) und seinem
Freund Charlie (Bruce Greenwood) kämpft er gegen die Justiz, während
er versucht, seinem Alkoholproblem Herr zu werden, wobei ihm die
Ex-Drogenhabhängige Nicole (Kelly Reilly) zur Seite zu stehen
versucht.
Der Titel ist in Flight gleich in mehrfacher Hinsicht
Programm: Die ersten 25 Minuten des Films beschäftigen sich mit Whip
Whitaker "Flug" ins Unglück, brillant gefilmt, packend
inszeniert; fast glaubt man die sturmbedingten Turbulenzen im
Kinosessel zu spüren. Auf beängstigende Art und Weise zeigen Robert
Zemeckis und Drehbuchautor John Gatins, dass Flugzeuge, obwohl dies
in der Welt nach 9/11 zur Marginalie geworden sein scheint, auch ohne
menschliches Zutun abstürzen können. Doch diese furiose
Eingangssequenz, eines hochkarätigen Katastophenfilms würdig,
bleibt die einzige im ganzen Film, die Zemeckis' Gespür für die
Inszenierung von Action erahnen lässt. Action ist hier bloss als der
Stein des Anstosses für die menschliche Tragödie, Whitakers
"Flucht" – vor Verantwortung, vor der Justiz, vor
Schuldgefühlen, vor der Realität, vor den leer getrunkenen
Flaschen.
Ein Trio von Rechtsverdrehern: Gewerkschafter Charlie Anderson (Bruce Greenwood, links), Anwalt Hugh Lang (Don Cheadle, Mitte) und der alkoholabhängige Pilot Whip Whitaker (Denzel Washington). |
Hand in Hand mit dieser multiplen Flucht geht eine Vielfalt an Tönen,
die Gatins anschlägt. Wie in den gewichtigen Dramen der
Neunzigerjahre folgt Genre auf Genre: Während Whip in mehreren
Tausend Metern Höhe um das Überleben seiner Passagiere kämpft,
setzt sich Nicole in ihrer Wohnung einen Schuss. Whips
Krankenhausaufenthalt erhält plötzlich eine fröhlichere Dimension,
als sein Freund und Drogendealer, die aalglatte Quasselstrippe
Harling auftaucht (John Goodman – das schiere Vergnügen, wie
immer). Szenen erfolglosen Alkoholverzichts wechseln sich ab mit
juristischen Besprechungen, alles verflochten mit der schwierigen
Beziehung zwischen Whip und Nicole. Die Fülle an Aspekten bringt
Flight, wie schon andere Filme von Zemeckis (Forrest Gump,
Contact), auf eine übermässige Laufzeit von gut 140 Minuten.
Langeweile kommt zwar nie auf, aber auch nicht Stringenz und
uneingeschränkte Überzeugungskraft. Weder Zemeckis noch Gatins
gelingt es gänzlich, Genres und Handlungsstränge zusammenzuführen,
schon gar nicht mit dem allzu blitzsauberen Ende aller Ebenen –
trotz eines unerwarteten (unbeabsichtigten?) Bob-Dylan-Zitats aus Pat
Garrett and Billy the Kid.
Entsprechend ist es auch nicht explizit Zemeckis' Verdienst, dass
Flight dennoch funktioniert. Was der womöglich allzu
konstruierten Handlung die nötige Tiefe und Glaubwürdigkeit
verleiht, ist eine Gruppe von talentierten und stellenweise
überragend agierenden Schauspielern, angeführt von einem
abgeklärten und durch und durch überzeugenden Denzel Washington,
der das moralische Zwielicht seiner Figur punktgenau zu vermitteln
weiss. Trotz Whips Zustand ist Washington nicht geneigt, dem
theatralischem Schauspiel zu verfallen; Subtilität prägt seine
Darstellung. Auch Kelly Reilly und Melissa Leo, die nur auf dem
dramatischen Höhepunkt des Films zu sehen ist, hinterlassen einen
starken Eindruck, wobei die intensivste Nebenrolle aber einer eher
unerwarteten Quelle zuzuschreiben ist. James Badge Dale (The
Departed) spielt einen namenlosen Krebskranken, der sich im
Krankenhaus von Atlanta eine Zigarette lang mit Nicole und Whip
unterhält. Er ist ein Enigma, er geht so plötzlich wie er gekommen
ist, sein Schicksal ist unbekannt – und doch ist sein Kurzauftritt
nur schwer zu vergessen. Dales feurige Performance ist eine Miniatur
schauspielerischer Klasse in einem makellos gespielten Film.
Trautes Heim? Nicole (Kelly Reilly) versucht, Whip bei seinem Entzug beizustehen. |
Schon oft wurde Robert Zemeckis mit Steven Spielberg verglichen, bei
Erfolgen war er sein "Erbe", bei Flops sein "Nachahmer".
Auch in Flight scheint sich die Gegenüberstellung
aufzudrängen. Es ist durchaus möglich, dass Spielberg mit dem
vorhandenen Stoff ein runderes, stimmigeres Drama gelungen wäre.
Doch angetrieben von einer interessanten Prämisse und einem
herausragenden Cast, vermag auch Zemeckis' neueste – unvollkommene
– Regiearbeit zu überzeugen.
★★★
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