Freitag, 8. Februar 2013

Jagten

Seit dem Ende der ebenso radikalen wie unsinnigen dänischen Filmbewegung "Dogme 95" hat vor allem einer ihrer beiden Gründer auf sich aufmerksam gemacht: Lars von Trier widmete sich in heiss diskutierten Projekten wie Antichrist oder Melancholia primär seiner selbst und gab als Zugabe jeweils kryptisch-provokante Interviews. Sein Freund und Dogme-Mitbegründer Thomas Vinterberg hingegen hielt sich seit seinem grossen Erfolg Festen (1998) eher bedeckt. Sein neuer Film, das beklemmende Psychodrama Jagten (international: The Hunt), stellt jedoch von Triers Arbeiten mühelos in den Schatten.

Lucas (Mads Mikkelsen) ist Anfang 40 und versucht, sein Leben neu zu ordnen und auszurichten. Frisch geschieden, kämpft er erfolgreich darum, dass sein Teenager-Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) bei ihm wohnen kann, findet eine neue Freundin und geht mit viel Freude seiner Arbeit als Betreuer im örtlichen Kindergarten nach, wo er sich bei den Kindern grosser Beliebtheit erfreut. Doch als die kleine Klara (Annika Wedderkopp), die Tochter seines besten Freundes (Thomas Bo Larsen), zu übermütig wird und ihn auf den Mund küsst, weist er sie sanft, aber bestimmt zurecht, woraufhin diese der Kindergartenleiterin Grethe (Susse Wold) erzählt, Lucas habe ihr seinen Penis gezeigt. Die Neuigkeit macht schnell die Runde und Lucas wird von den Dorfbewohnern geächtet und schikaniert. Selbst als Klara ihre Geschichte zurückzieht, glaubt kaum jemand noch an Lucas' Unschuld.

Jagten erzählt von den Abgründen der menschlichen Natur, den Mechanismen, welche kein noch so hoher Grad an Zivilisiertheit je auszuschalten vermag. Der Film mag in einer gewöhnlichen Kleinstadt im modernen Wohlstandsstaat Dänemark spielen, in der einzig die alljährlichen Jagdausflüge, die Mutproben, die freundschaftlichen Trinkgelage und die Bartlänge der mehrheitlich breitschultrigen Männer noch an eine entrückte archaische Vergangenheit erinnern. Doch laut Vinterberg braucht es nicht mehr als die Lüge eines rehäugigen Kindes, um in dieser gutbürgerlichen Gesellschaft jene Triebe zu wecken, die zur spanischen Inquisition, den Hexenverbrennungen und dem Holocaust geführt haben. Ohne dass sich die Beweislage erhärtet hätte, spricht Kindergärtnerin Grethe davon, dass nun "fast keine Zweifel mehr an Lucas' Schuld bestehen"; Marcus wird daran gehindert, für seinen Vater einzukaufen und verpasst damit auch die Chance, der netten Kassiererin seiner eigenen Altersklasse näher zu kommen; als Klara ihre Anschuldigung widerruft, kleiden die Erwachsenen ihren Unglauben in vage psychologische Floskeln, um die bereits gefällte Meinung um jeden Preis aufrecht zu erhalten.

Von fast allen verlassen: Lucas (Mads Mikkelsen), zu Unrecht der Pädophilie bezichtigt, wird von seinem Sohn unterstützt.
Dass Pädophilie zu den schlimmsten Verbrechen überhaupt zählt, ist natürlich unumstritten. Doch Jagten geht es darum, zu zeigen, wozu gesetzestreue Menschen im Angesicht des vermeintlichen Bösen fähig sind, wie schnell man in der Empörung über unmenschliche Taten die eigene Menschlichkeit verliert. Vinterberg gönnt weder Zuschauer noch Lucas Gnade und entfesselt nach sorgsamem Aufbau einen veritablen Sturm der Perfidie, der nicht nur nachdenklich stimmt, sondern auch Wut auslöst. Anders als Markus Schleinzers nur halbwegs gelungenes Experiment Michael lässt Jagten – quasi der inhaltliche Gegenentwurf zum Regiedebüt des Österreichers – nicht kalt. Jede einzelne Gemeinheit, die Lucas über sich ergehen lassen muss – würde er sich wehren, würde er alles wohl noch schlimmer machen –, ist auch ein Stich ins Herz des Kinogängers. Umso willkommener sind folglich Vinterbergs wohl dosierte Momente sardonischen Humors,

Womöglich liesse sich darüber diskutieren, ob der Ablauf der Dinge etwas zu überspitzt und manipulativ dargestellt ist, ob es sich Jagten der Botschaft willen ein wenig zu einfach macht. Tatsache ist jedoch, dass, ob nun gänzlich realistisch oder nicht, die von Vinterberg und Co-Autor Tobias Lindholm angeschlagene Tendenz durchaus plausibel wirkt, dass heiliger Zorn auch in einem Industriestaat des 21. Jahrhunderts beängstigend schnell in blinde Lynchjustiz übergehen kann. Fast wirkt der Emdener "Mordfall Lena" wie eine Blaupause des Films.

In gewisser Hinsicht ist Vinterberg mit Jagten das ideale Dogme-Werk gelungen, obgleich er sich auf der filmtechnischen Ebene scharf vom Manifest jener Bewegung abgrenzt: Seine Handlung greift Seh- und Urteilsgewohnheiten des Publikums frontal an; gängige Moralvorstellungen werden untergraben; die Erfahrung ist unangenehm, aber zutiefst faszinierend. Lars von Trier provoziert bei der Pressekonferenz, Vinterberg auf der Leinwand. So soll es sein.

★★★★

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