Seit dem Ende der ebenso radikalen wie unsinnigen dänischen
Filmbewegung "Dogme 95" hat vor allem einer ihrer beiden
Gründer auf sich aufmerksam gemacht: Lars von Trier widmete sich in
heiss diskutierten Projekten wie Antichrist oder Melancholia
primär seiner selbst und gab als Zugabe jeweils kryptisch-provokante
Interviews. Sein Freund und Dogme-Mitbegründer Thomas Vinterberg
hingegen hielt sich seit seinem grossen Erfolg Festen (1998)
eher bedeckt. Sein neuer Film, das beklemmende Psychodrama Jagten
(international: The Hunt), stellt jedoch von Triers
Arbeiten mühelos in den Schatten.
Lucas (Mads Mikkelsen) ist Anfang 40 und versucht, sein Leben neu zu
ordnen und auszurichten. Frisch geschieden, kämpft er erfolgreich
darum, dass sein Teenager-Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) bei ihm
wohnen kann, findet eine neue Freundin und geht mit viel Freude
seiner Arbeit als Betreuer im örtlichen Kindergarten nach, wo er
sich bei den Kindern grosser Beliebtheit erfreut. Doch als die kleine
Klara (Annika Wedderkopp), die Tochter seines besten Freundes (Thomas
Bo Larsen), zu übermütig wird und ihn auf den Mund küsst, weist er
sie sanft, aber bestimmt zurecht, woraufhin diese der
Kindergartenleiterin Grethe (Susse Wold) erzählt, Lucas habe ihr
seinen Penis gezeigt. Die Neuigkeit macht schnell die Runde und Lucas
wird von den Dorfbewohnern geächtet und schikaniert. Selbst als
Klara ihre Geschichte zurückzieht, glaubt kaum jemand noch an Lucas'
Unschuld.
Jagten
erzählt von den Abgründen der
menschlichen Natur, den Mechanismen, welche kein noch so hoher Grad
an Zivilisiertheit je auszuschalten vermag. Der Film mag in einer
gewöhnlichen Kleinstadt im modernen Wohlstandsstaat Dänemark
spielen, in der einzig die alljährlichen Jagdausflüge, die
Mutproben, die freundschaftlichen Trinkgelage und die Bartlänge der
mehrheitlich breitschultrigen Männer noch an eine entrückte
archaische Vergangenheit erinnern. Doch laut Vinterberg braucht es
nicht mehr als die Lüge eines rehäugigen Kindes, um in dieser
gutbürgerlichen Gesellschaft jene Triebe zu wecken, die zur
spanischen Inquisition, den Hexenverbrennungen und dem Holocaust
geführt haben. Ohne dass sich die Beweislage erhärtet hätte,
spricht Kindergärtnerin Grethe davon, dass nun "fast keine
Zweifel mehr an Lucas' Schuld bestehen"; Marcus wird daran
gehindert, für seinen Vater einzukaufen und verpasst damit auch die
Chance, der netten Kassiererin seiner eigenen Altersklasse näher zu
kommen; als Klara ihre Anschuldigung widerruft, kleiden die
Erwachsenen ihren Unglauben in vage psychologische Floskeln, um die
bereits gefällte Meinung um jeden Preis aufrecht zu erhalten.
Von fast allen verlassen: Lucas (Mads Mikkelsen), zu Unrecht der Pädophilie bezichtigt, wird von seinem Sohn unterstützt. |
Dass
Pädophilie zu den schlimmsten Verbrechen überhaupt zählt, ist
natürlich unumstritten. Doch Jagten
geht es darum, zu zeigen, wozu gesetzestreue Menschen im Angesicht
des vermeintlichen Bösen fähig sind, wie schnell man in der
Empörung über unmenschliche Taten die eigene Menschlichkeit
verliert. Vinterberg gönnt weder Zuschauer noch Lucas Gnade und
entfesselt nach sorgsamem Aufbau einen veritablen Sturm der Perfidie,
der nicht nur nachdenklich stimmt, sondern auch Wut auslöst. Anders
als Markus Schleinzers nur halbwegs gelungenes Experiment Michael
lässt Jagten
– quasi der inhaltliche Gegenentwurf zum Regiedebüt des
Österreichers – nicht kalt. Jede einzelne Gemeinheit, die Lucas
über sich ergehen lassen muss – würde er sich wehren, würde er
alles wohl noch schlimmer machen –, ist auch ein Stich ins Herz des
Kinogängers. Umso willkommener sind folglich Vinterbergs wohl
dosierte Momente sardonischen Humors,
Womöglich
liesse sich darüber diskutieren, ob der Ablauf der Dinge etwas zu
überspitzt und manipulativ dargestellt ist, ob es sich Jagten
der Botschaft willen ein wenig zu einfach macht. Tatsache ist jedoch,
dass, ob nun gänzlich realistisch oder nicht, die von Vinterberg und
Co-Autor Tobias Lindholm angeschlagene
Tendenz durchaus plausibel wirkt, dass heiliger Zorn auch in einem
Industriestaat des 21. Jahrhunderts beängstigend schnell in blinde
Lynchjustiz übergehen kann. Fast wirkt der Emdener "Mordfall
Lena" wie eine Blaupause des Films.
In
gewisser Hinsicht ist Vinterberg mit Jagten
das ideale Dogme-Werk gelungen, obgleich er sich auf der
filmtechnischen Ebene scharf vom Manifest jener Bewegung abgrenzt:
Seine Handlung greift Seh- und Urteilsgewohnheiten des Publikums
frontal an; gängige Moralvorstellungen werden untergraben; die
Erfahrung ist unangenehm, aber zutiefst faszinierend. Lars von Trier
provoziert bei der Pressekonferenz, Vinterberg auf der Leinwand. So
soll es sein.
★★★★
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