Der Mexikaner Carlos Reygadas gehört zu den populärsten Vertretern
des radikal kontemplativen und assoziativen Weltkinos. Seine Filme
experimentieren mit gesellschaftlichen Tabus, Sehgewohnheiten,
mitunter auch den Grenzen des guten Geschmacks. Post Tenebras Lux,
sein erster Film seit 2007, ein enigmatisches, minimalistisches
Impressionismus-Kunstwerk, überspannt den Bogen.
Juan (Adolfo Jiménez Castro) und Natalia (Nathalia Acevedo) leben
mit ihren gemeinsamen Kindern Rut (Rut Reygadas) und Eleazar (Eleazar
Reygadas) auf einem wohnlichen Anwesen in den mexikanischen Wäldern.
Doch das Ehepaar hat seit geraumer Zeit mit Problemen zu kämpfen:
Während er sich Abend für Abend Pornografie aus dem Internet
herunterlädt, hat sie die Lust am Sex verloren. Auch ein Besuch in
einem belgischen Swingerclub erweist sich als wenig hilfreich.
Derweil wird der Faulpelz Seven (Willebaldo Torres) beauftragt, einen
grossen Baum zu fällen, da der angeblich den Boden verseucht, indem
er mit dem ihm umgebenden Geäst intime Beziehungen unterhält. Um
sein langweiliges Leben etwas aufregender zu gestalten, beschliesst
Seven, das Haus von Juan und Natalia auszuräumen.
Bestünde Post Tenebras Lux nur aus seinen ersten beiden
Sequenzen, dann wäre Carlos Reygadas' Nachfolgewerk zum
plautdietschen Drama Silent Light (Original:
Stellet Lijcht)
ein Meisterwerk surrealer Auteur-Vision. Der Film beginnt mit der
kleinen Rut Reygadas, die, umgeben von Hunden, Kühen und Eseln, in
der Abenddämmerung über ein weitläufiges Feld in der mexikanischen
Pampa rennt. Am Horizont sammeln sich Wolken, das Mädchen ruft nach
seiner Familie, während sich Alexis Zabés Kamera, ähnlich
derjenigen Emmanuel Lubezkis (The
Tree of Life),
scheinbar schwerelos durch das Geschehen bewegt und die auch im
weiteren Verlauf benutzte, den Bildrand verzerrende Doppellinse
Menschen und Gegenstände kubistisch verdoppelt. In diesen ersten
zehn Minuten entwirft Reygadas eine rohe, archaische Welt, die, von
Kinderaugen betrachtet, eine entrückte, poetische Dimension erhält.
Als anschliessend der Sturm
losbricht und nur noch Blitze die Finsternis erhellen, wird der
Filmtitel Wort für Wort eingeblendet – "Post tenebras lux"
bedeutet "Licht nach der Dunkelheit" – und der Zuschauer
findet sich in einer abgedunkelten Wohnung wieder, die plötzlich von
Licht erfüllt wird: Eine schemenhafte, neonrot leuchtende
Teufelsgestalt, komplett mit Ziegenkopf und -beinen, tritt durch die
Tür, einen Werkzeugkasten in der Hand. Es ist eine Szene, die sich
jeglicher rationalen Erklärung entzieht und damit zur freien
Assoziation einlädt. Der CGI-Beelzebub ist dermassen grotesk, dass
es fast unmöglich ist, davon nicht fasziniert zu sein. In bester
surrealistischer Tradition fordert Reygadas sein Publikum mit einem
Bild heraus, das es in dieser Form noch nie zu Gesicht bekommen hat.
Vage erinnert die Figur in ihren linkischen Bewegungen an den
Auftritt des Affenmenschen Boonsong (Jeerasak Kulhong) im
thailändischen Film Uncle
Boonmee Who Can Recall His Past Lives.
Im Swingerclub versucht Natalia (Nathalia Acevedo), die Freude am Sex wieder zu finden. |
Solche Momente, in denen Reygadas
sich auf das bizarre Genie eines Apichatpong Weerasethakul oder die
Tradition des "Dritten Kinos" nach Glauber Rocha (Antônio
das Mortes) beruft,
sind es, die aus Post Tenebras Lux herausstechen.
Vereinzelte Einstellungen und Kompositionen sind komplexe kleine
Kunstwerke; andere provozieren und attackieren die Sinne. Insgesamt
aber greifen diese Elemente nicht ineinander. Handlung und Subtext
schweben frei im Raum, ohne greifbare Bezugspunkte. Der
philosophische Kern des Films bleibt ebenso nebulös wie die
Konflikte der Protagonisten. Sind die ersten zehn Minuten noch
Ausdruck künstlerischer Vision, dann führt das, was folgt, zum Tod
derselben.
Reygadas klammert sich an
Strohhalme, die weder die Emotionen noch den Intellekt zu befriedigen
vermögen: Mal scheint er die menschliche Obsession mit der
Selbstfindung zu thematisieren; mal erforscht er die Omnipräsenz des
Sexuellen; dann wieder kehrt er zum Ursprung zurück und zeigt die
Welt vom Standpunkt eines Kindes aus. Die wohl greifbarste Idee
inmitten dieser Ansammlung von abstrakten Ansätzen ist in einer
Verschaltung zweier Szenen zu finden und handelt sprechenderweise von
der Natur der narrativen Geschichte: Während Rut nach einem
Gutenacht-Märchen verlangt, in dem Planeten eine Rolle spielen,
erheitert Eleazar seinen Vater mit einer Nacherzählung eines
Spider-Man-Abenteuers.
Reygadas rechtfertigt demnach seinen losen Plot mit einem Verweis
darauf, dass eine klassische Geschichte eine kindliche Angelegenheit
ist.
Kunst in der Natur: die nebelverhangenen Wälder Mexikos. |
Zwar ist die Tatsache, dass sich
Surrealismus durch keine kritische Annäherung ausser einer
psychoanalytischen erklären lässt, spätestens seit Un
chien andalou, dem
Kurzfilm-Meisterwerk von Luis Buñuel und Salvador Dalí,
unbestritten. Doch die Weigerung des Films, etwas fundamental
Substantielles von sich zu geben, liesse sich leichter verschmerzen,
wenn er sich auf seine wenigen interessanten Punkte beschränken
würde. Leider aber enthält Post Tenebras Lux auch
bedeutungsschwangere Szenen sowie Sequenzen und Abschweifungen von
nachgerade beleidigender Banalität – Füllmaterial scheint das
passende Wort zu sein. Wenn der Film etwa Tolstoy, Dostoyevsky und
Chekhov zitiert, dann emuliert er allenfalls deren Gravitas, nicht
aber deren Gehalt.
Kunst kann vieles sein. Sie kann
verstören, provozieren, amüsieren, bewegen, anregen. Post Tenebras Lux hätte
das Potential, all dies in sich zu vereinen, wenn sein Regisseur
nicht an den Glauben gekettet wäre, er müsse sein Publikum
frustrieren, indem er legitime philosophische Ansätze in einem
inerten Film ertränkt, der jede Reflexion über das Gesehene in
einer Sackgasse enden lässt. Wie passend, dass die ganze Farce mit
einem Mann ihr Ende findet, der sich seinen eigenen Kopf abreisst.
Besser hätte Reygadas den Effekt seines Films nicht antizipieren
können.
★★
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