Sonntag, 17. Februar 2013

Post Tenebras Lux

Der Mexikaner Carlos Reygadas gehört zu den populärsten Vertretern des radikal kontemplativen und assoziativen Weltkinos. Seine Filme experimentieren mit gesellschaftlichen Tabus, Sehgewohnheiten, mitunter auch den Grenzen des guten Geschmacks. Post Tenebras Lux, sein erster Film seit 2007, ein enigmatisches, minimalistisches Impressionismus-Kunstwerk, überspannt den Bogen.

Juan (Adolfo Jiménez Castro) und Natalia (Nathalia Acevedo) leben mit ihren gemeinsamen Kindern Rut (Rut Reygadas) und Eleazar (Eleazar Reygadas) auf einem wohnlichen Anwesen in den mexikanischen Wäldern. Doch das Ehepaar hat seit geraumer Zeit mit Problemen zu kämpfen: Während er sich Abend für Abend Pornografie aus dem Internet herunterlädt, hat sie die Lust am Sex verloren. Auch ein Besuch in einem belgischen Swingerclub erweist sich als wenig hilfreich. Derweil wird der Faulpelz Seven (Willebaldo Torres) beauftragt, einen grossen Baum zu fällen, da der angeblich den Boden verseucht, indem er mit dem ihm umgebenden Geäst intime Beziehungen unterhält. Um sein langweiliges Leben etwas aufregender zu gestalten, beschliesst Seven, das Haus von Juan und Natalia auszuräumen.

Bestünde Post Tenebras Lux nur aus seinen ersten beiden Sequenzen, dann wäre Carlos Reygadas' Nachfolgewerk zum plautdietschen Drama Silent Light (Original: Stellet Lijcht) ein Meisterwerk surrealer Auteur-Vision. Der Film beginnt mit der kleinen Rut Reygadas, die, umgeben von Hunden, Kühen und Eseln, in der Abenddämmerung über ein weitläufiges Feld in der mexikanischen Pampa rennt. Am Horizont sammeln sich Wolken, das Mädchen ruft nach seiner Familie, während sich Alexis Zabés Kamera, ähnlich derjenigen Emmanuel Lubezkis (The Tree of Life), scheinbar schwerelos durch das Geschehen bewegt und die auch im weiteren Verlauf benutzte, den Bildrand verzerrende Doppellinse Menschen und Gegenstände kubistisch verdoppelt. In diesen ersten zehn Minuten entwirft Reygadas eine rohe, archaische Welt, die, von Kinderaugen betrachtet, eine entrückte, poetische Dimension erhält.

Als anschliessend der Sturm losbricht und nur noch Blitze die Finsternis erhellen, wird der Filmtitel Wort für Wort eingeblendet – "Post tenebras lux" bedeutet "Licht nach der Dunkelheit" – und der Zuschauer findet sich in einer abgedunkelten Wohnung wieder, die plötzlich von Licht erfüllt wird: Eine schemenhafte, neonrot leuchtende Teufelsgestalt, komplett mit Ziegenkopf und -beinen, tritt durch die Tür, einen Werkzeugkasten in der Hand. Es ist eine Szene, die sich jeglicher rationalen Erklärung entzieht und damit zur freien Assoziation einlädt. Der CGI-Beelzebub ist dermassen grotesk, dass es fast unmöglich ist, davon nicht fasziniert zu sein. In bester surrealistischer Tradition fordert Reygadas sein Publikum mit einem Bild heraus, das es in dieser Form noch nie zu Gesicht bekommen hat. Vage erinnert die Figur in ihren linkischen Bewegungen an den Auftritt des Affenmenschen Boonsong (Jeerasak Kulhong) im thailändischen Film Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives.

Im Swingerclub versucht Natalia (Nathalia Acevedo), die Freude am Sex wieder zu finden.
Solche Momente, in denen Reygadas sich auf das bizarre Genie eines Apichatpong Weerasethakul oder die Tradition des "Dritten Kinos" nach Glauber Rocha (Antônio das Mortes) beruft, sind es, die aus Post Tenebras Lux herausstechen. Vereinzelte Einstellungen und Kompositionen sind komplexe kleine Kunstwerke; andere provozieren und attackieren die Sinne. Insgesamt aber greifen diese Elemente nicht ineinander. Handlung und Subtext schweben frei im Raum, ohne greifbare Bezugspunkte. Der philosophische Kern des Films bleibt ebenso nebulös wie die Konflikte der Protagonisten. Sind die ersten zehn Minuten noch Ausdruck künstlerischer Vision, dann führt das, was folgt, zum Tod derselben.

Reygadas klammert sich an Strohhalme, die weder die Emotionen noch den Intellekt zu befriedigen vermögen: Mal scheint er die menschliche Obsession mit der Selbstfindung zu thematisieren; mal erforscht er die Omnipräsenz des Sexuellen; dann wieder kehrt er zum Ursprung zurück und zeigt die Welt vom Standpunkt eines Kindes aus. Die wohl greifbarste Idee inmitten dieser Ansammlung von abstrakten Ansätzen ist in einer Verschaltung zweier Szenen zu finden und handelt sprechenderweise von der Natur der narrativen Geschichte: Während Rut nach einem Gutenacht-Märchen verlangt, in dem Planeten eine Rolle spielen, erheitert Eleazar seinen Vater mit einer Nacherzählung eines Spider-Man-Abenteuers. Reygadas rechtfertigt demnach seinen losen Plot mit einem Verweis darauf, dass eine klassische Geschichte eine kindliche Angelegenheit ist.

Kunst in der Natur: die nebelverhangenen Wälder Mexikos.
Zwar ist die Tatsache, dass sich Surrealismus durch keine kritische Annäherung ausser einer psychoanalytischen erklären lässt, spätestens seit Un chien andalou, dem Kurzfilm-Meisterwerk von Luis Buñuel und Salvador Dalí, unbestritten. Doch die Weigerung des Films, etwas fundamental Substantielles von sich zu geben, liesse sich leichter verschmerzen, wenn er sich auf seine wenigen interessanten Punkte beschränken würde. Leider aber enthält Post Tenebras Lux auch bedeutungsschwangere Szenen sowie Sequenzen und Abschweifungen von nachgerade beleidigender Banalität – Füllmaterial scheint das passende Wort zu sein. Wenn der Film etwa Tolstoy, Dostoyevsky und Chekhov zitiert, dann emuliert er allenfalls deren Gravitas, nicht aber deren Gehalt.

Kunst kann vieles sein. Sie kann verstören, provozieren, amüsieren, bewegen, anregen. Post Tenebras Lux hätte das Potential, all dies in sich zu vereinen, wenn sein Regisseur nicht an den Glauben gekettet wäre, er müsse sein Publikum frustrieren, indem er legitime philosophische Ansätze in einem inerten Film ertränkt, der jede Reflexion über das Gesehene in einer Sackgasse enden lässt. Wie passend, dass die ganze Farce mit einem Mann ihr Ende findet, der sich seinen eigenen Kopf abreisst. Besser hätte Reygadas den Effekt seines Films nicht antizipieren können.

★★

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