Dienstag, 2. April 2013

Children of Sarajevo

Nach Jahren des Krieges, der Misswirtschaft und der innerlichen Zerrüttung kämpft sich Bosnien und Herzegowina aus seinen zahlreichen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krisen. Mit ihrem neuen Film erweist sich die 36-jährige Aida Begić als kritische Chronistin dieser mühevollen Entwicklung. Children of Sarajevo zeigt ein widersprüchliches Land, gefangen in einer anhaltenden Nachkriegsmentalität.

Ein junger Mann und eine junge Frau schmücken in einem schicken Restaurant in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo einen kleinen Weihnachtsbaum mit Lametta und Kunststoffkugeln. Eine etwas ältere, vornehmer gekleidete Dame tritt hinzu und herrscht die beiden an: Ob sie eigentlich nicht gelernt hätten, dass man den Baum nicht von unten nach oben schmückt, dass sie besonders von ihm, einem Katholiken, zumindest dieses Mass an Intelligenz erwartet hätte. "Wir waren eben im Krieg", so die junge Frau. Sie heisst Rahima (Marija Pikić), ist 23 Jahre alt, bekennende Muslimin, arbeitet als Küchengehilfin im Restaurant und weist mit ihrer Aussage auf eine der vielen Widersprüchlichkeiten im modernen Bosnien hin: Anders als im Westen Europas ist es hier die junge Generation, die mit Schiessereien, Bombardierungen und Massakern aufgewachsen ist. Seit ihre Eltern in besagtem Krieg ums Leben gekommen sind, kümmert sie sich um ihren jüngeren Bruder Nedim (Ismir Gagula), der ihr ihre Bemühungen damit "dankt", regelmässig die Schule zu schwänzen und sich mit zwielichtigen Gestalten herumzutreiben.

Und doch muss Rahima damit leben, dass ihr Alltag von den Behörden als weniger erstrebenswert erachtet wird als der ihres Bruders: "Du machst es besser als deine Schwester", loben ihn zwei Polizisten, als sie Rahima auf Grund der Falschaussage eines Regierungsoffiziellen einen Besuch abstatten. "Das ist unverantwortlich", wird sie von einer Steuerbeamtin getadelt, als sie dieser beichtet, sie habe wegen ihrer Arbeit nicht genug Zeit aufbringen können, den diabetischen Nedim zur Arztkontrolle zu bringen. Ihr Beruf macht sie zu einer Unberührbaren: Ihr Chef verweigert ihr den Lohnausweis; sucht sie das Gespräch mit einem besser gestellten Mann, wird sie umgehend mit der Entschuldigung abgewimmelt, er trage gerade kein Kleingeld bei sich.

Doch in einem weiteren Widerspruch scheint sich Rahima nirgends so heimisch zu fühlen wie in der Küche ihrer verhassten Arbeitsstelle. Dort lebt sie mit ihren zynischen Leidensgenossen ein beinahe utopisches Leben; nirgendwo sonst lacht sie so befreit wie unter ihren Kollegen. Hier scheinen religiöse Vorurteile und alte Konflikte vergessen zu sein; hier schmunzelt die Muslimin über den ungeschickten katholischen Laufburschen, unterhält den offen homosexuellen Koch, indem sie mit dem Kopf eines Schafs Hamlets berühmten Monolog nachspricht. Und doch bereitet ihr auch ihre Religion Kopfschmerzen: Zwar schreibt sie ihren Wandel vom wilden Teenager zur verantwortungsbewussten Frau ihrem Glauben zu, doch selbst enge Freunde sind von ihrem Kopftuch verunsichert, während sie selbst von Lynch'schen Albträumen heimgesucht wird, in denen sie einer körperlosen, spiegelgesichtigen Burka nachjagt.

Ungleiche Geschwister: die Waisen Nedim (Ismir Gagula) und Rahima (Marija Pikić).
© trigon-film
Es ist nicht zuletzt diese Verbindung des Religiösen mit dem Gesellschaftlichen, die Begić in der Nähe von Ken Loach situiert. Wie der Katholizismus in Raining Stones wird hier der Islam zur zweifelhaften Stütze der unteren Schichten: Obwohl er dabei helfen kann, das Strassenelend hinter sich zu lassen, muss man sich fragen, ob er, nachdem dieser Schritt vollzogen worden ist, immer noch vonnöten ist. Allerdings teilt Children of Sarajevo dieses Motiv, wie auch seine ästhetische Präsentation – vorab Handkamera und Plansequenzen –, mit den Filmen Asghar Farhadis oder jenen des italienischen Neorealismus.

Die spezifische Verwandschaft zu Loach wird erst durch Begićs Porträt der bosnischen Arbeiterklasse und deren Beziehung zu ihren Oberen offensichtlich. Children of Sarajevo ist geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Privatwirtschaft, die einmal direkt als Grund für Bosniens wirtschaftliche Misere genannt wird, sowie jenen, welche masslos von ihr profitieren; jenen, die in der Regierung die Fäden ziehen, im Namen der Armen Politik machen, sich aber hinter dicken Autotüren und in von bewaffneten Wachen geschützten Häusern vor ihnen verstecken. In seinen mutigsten Momenten bemüht der Film sogar Loach'sche Polemik: Mit einem geringfügig umformulierten "Arbeit macht frei" kommentiert eine Figur die angeblichen Möglichkeiten des Kapitalismus.

Rahima arbeitet Überstunden, um sich und Nedim ernähren zu können.
© trigon-film
Man kann Aida Begić vorwerfen, dass ihre Dramaturgie unter dem komplexen Subtext leidet. Mitunter ist es allzu einfach, hinter den einzelnen Stationen der Handlung die lenkende Hand der Autorin zu sehen, die emotionale Reise von Rahima und Nedim als Parabel zu erkennen. Als solche ist der Geschichte ihre Wucht aber nicht abzusprechen. Veranschaulicht wird diese Aussagekraft durch jene Szenen, zwischen welchen der ganze Film eingespannt ist.

Die erste zeigt eine mit einer Videokamera aufgenommene Gruppe von nervös spielenden Kindern, während draussen Schiessgefechte und detonierende Bomben zu hören sind. In der Schlussszene von Djeca, "Kinder", so der bosnische Originaltitel, fallen sich Rahima und Nedim in die Arme; als ein Silvester-Feuerwerk losbricht, gehen die ungleichen Geschwister reflexartig in Deckung, lachen über ihren Irrtum und machen sich auf den Heimweg. Beide Szenen sind mit Beethovens eigentlich viel zu friedvoller Pastoralsinfonie unterlegt; beide sagen viel über das moderne Bosnien aus: Im Krieg wurde mit viel Lärm um die Zukunft gekämpft, heute wird mit ebenso viel Lärm die erstarrte Gegenwart gefeiert. Der Kampf hat sich von aussen nach innen verlagert. Nun liegt die Hoffnung auf der desillusionierten, traumatisierten Jugend.

★★★★

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