Ein
junger Mann und eine junge Frau schmücken in einem schicken
Restaurant in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo einen kleinen
Weihnachtsbaum mit Lametta und Kunststoffkugeln. Eine etwas ältere,
vornehmer gekleidete Dame tritt hinzu und herrscht die beiden an: Ob
sie eigentlich nicht gelernt hätten, dass man den Baum nicht von
unten nach oben schmückt, dass sie besonders von ihm, einem
Katholiken, zumindest dieses Mass an Intelligenz erwartet hätte.
"Wir waren eben im Krieg", so die junge Frau. Sie heisst
Rahima (Marija Pikić), ist 23 Jahre alt, bekennende Muslimin,
arbeitet als Küchengehilfin im Restaurant und weist mit ihrer
Aussage auf eine der vielen Widersprüchlichkeiten im modernen
Bosnien hin: Anders als im Westen Europas ist es hier die junge
Generation, die mit Schiessereien, Bombardierungen und Massakern
aufgewachsen ist. Seit ihre Eltern in besagtem Krieg ums Leben
gekommen sind, kümmert sie sich um ihren jüngeren Bruder Nedim
(Ismir Gagula), der ihr ihre Bemühungen damit "dankt",
regelmässig die Schule zu schwänzen und sich mit zwielichtigen
Gestalten herumzutreiben.
Und doch
muss Rahima damit leben, dass ihr Alltag von den Behörden als
weniger erstrebenswert erachtet wird als der ihres Bruders: "Du
machst es besser als deine Schwester", loben ihn zwei
Polizisten, als sie Rahima auf Grund der Falschaussage eines
Regierungsoffiziellen einen Besuch abstatten. "Das ist
unverantwortlich", wird sie von einer Steuerbeamtin getadelt,
als sie dieser beichtet, sie habe wegen ihrer Arbeit nicht genug Zeit
aufbringen können, den diabetischen Nedim zur Arztkontrolle zu
bringen. Ihr Beruf macht sie zu einer Unberührbaren: Ihr Chef
verweigert ihr den Lohnausweis; sucht sie das Gespräch mit einem
besser gestellten Mann, wird sie umgehend mit der Entschuldigung
abgewimmelt, er trage gerade kein Kleingeld bei sich.
Doch in
einem weiteren Widerspruch scheint sich Rahima nirgends so heimisch
zu fühlen wie in der Küche ihrer verhassten Arbeitsstelle. Dort
lebt sie mit ihren zynischen Leidensgenossen ein beinahe utopisches
Leben; nirgendwo sonst lacht sie so befreit wie unter ihren Kollegen.
Hier scheinen religiöse Vorurteile und alte Konflikte vergessen zu
sein; hier schmunzelt die Muslimin über den ungeschickten
katholischen Laufburschen, unterhält den offen homosexuellen Koch,
indem sie mit dem Kopf eines Schafs Hamlets berühmten Monolog
nachspricht. Und doch bereitet ihr auch ihre Religion Kopfschmerzen:
Zwar schreibt sie ihren Wandel vom wilden Teenager zur
verantwortungsbewussten Frau ihrem Glauben zu, doch selbst enge
Freunde sind von ihrem Kopftuch verunsichert, während sie selbst von
Lynch'schen Albträumen heimgesucht wird, in denen sie einer
körperlosen, spiegelgesichtigen Burka nachjagt.
Ungleiche Geschwister: die Waisen Nedim (Ismir Gagula) und Rahima (Marija Pikić).
© trigon-film
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Die
spezifische Verwandschaft zu Loach wird erst durch Begićs Porträt
der bosnischen Arbeiterklasse und deren Beziehung zu ihren Oberen
offensichtlich. Children of Sarajevo ist
geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Privatwirtschaft,
die einmal direkt als Grund für Bosniens wirtschaftliche Misere
genannt wird, sowie jenen, welche masslos von ihr profitieren; jenen,
die in der Regierung die Fäden ziehen, im Namen der Armen Politik
machen, sich aber hinter dicken Autotüren und in von bewaffneten
Wachen geschützten Häusern vor ihnen verstecken. In seinen
mutigsten Momenten bemüht der Film sogar Loach'sche Polemik: Mit
einem geringfügig umformulierten "Arbeit macht frei"
kommentiert eine Figur die angeblichen Möglichkeiten des
Kapitalismus.
Rahima arbeitet Überstunden, um sich und Nedim ernähren zu können. © trigon-film |
Man kann
Aida Begić vorwerfen, dass ihre Dramaturgie unter dem komplexen
Subtext leidet. Mitunter ist es allzu einfach, hinter den einzelnen
Stationen der Handlung die lenkende Hand der Autorin zu sehen, die
emotionale Reise von Rahima und Nedim als Parabel zu erkennen. Als
solche ist der Geschichte ihre Wucht aber nicht abzusprechen.
Veranschaulicht wird diese Aussagekraft durch jene Szenen, zwischen
welchen der ganze Film eingespannt ist.
Die
erste zeigt eine mit einer Videokamera aufgenommene Gruppe von nervös
spielenden Kindern, während draussen Schiessgefechte und
detonierende Bomben zu hören sind. In der Schlussszene von Djeca,
"Kinder", so der bosnische Originaltitel, fallen sich
Rahima und Nedim in die Arme; als ein Silvester-Feuerwerk losbricht,
gehen die ungleichen Geschwister reflexartig in Deckung, lachen über
ihren Irrtum und machen sich auf den Heimweg. Beide Szenen sind mit
Beethovens eigentlich viel zu friedvoller Pastoralsinfonie unterlegt;
beide sagen viel über das moderne Bosnien aus: Im Krieg wurde mit
viel Lärm um die Zukunft gekämpft, heute wird mit ebenso viel Lärm
die erstarrte Gegenwart gefeiert. Der Kampf hat sich von aussen nach
innen verlagert. Nun liegt die Hoffnung auf der desillusionierten,
traumatisierten Jugend.
★★★★
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