Während seiner Feldforschungen in Polynesien in den 1930er Jahren
entdeckt der norwegische Ethnograf Thor Heyerdahl (Pål Sverre
Valheim Hagen) mit seiner Frau Liv (Agnes Kittelsen) Erstaunliches:
Die Mythen der Einheimischen, die Strömungen des Pazifiks sowie alte
Götterstatuen, welche jenen auf dem südamerikanischen Festland
ähneln, bringen ihn dazu, die Lehrmeinung, die polynesischen Inseln
wären von Asien aus besiedelt worden, zu hinterfragen. Knapp zehn
Jahre lang versucht Thor vergeblich, die Welt der Wissenschaft von
seiner These zu überzeugen. 1946 beschliesst er, den praktischen
Beweis anzutreten: Er baut ein originalgetreues Floss namens
"Kon-Tiki", mit dem er, wie einst die peruanischen
Ureinwohner, den Ozean überqueren und das polynesische Archipel
erreichen will – getragen von den Meeresströmungen. Mit einer
fünfköpfigen Mannschaft sticht er im April 1947 in See, wo sein
primitives Gefährt Haien, Stürmen und Materialermüdung ausgesetzt
ist.
Sechs Männer kämpfen in einem kaum steuerbaren Boot mitten im Meer
um ihr körperliches und mentales Überleben, umgeben von einer end-
und uferlos scheinenden Wassermasse. Die Ähnlichkeit, die Norwegens
fünfter oscarnominierter Film mit Life of Pi, dem
zahlenmässigen Gewinner der Academy Awards 2013, trägt, ist
unübersehbar. Sogar einer der Hauptkritikpunkte, den sich Ang Lees
Romanadaption regelmässig anhören musste – dass sie, wie ein
früher Tonfilm, ihre Eloquenz verliert, wenn die Stille den Worten
weicht –, trifft auf Kon-Tiki zu: Mit dem an sich hehren
Ziel, Thor Heyerdahls bahnbrechende transpazifische Flossfahrt mit
menschlichem Interesse anzureichern, liessen sich Joachim Rønning
und Espen Sandberg (das Duo hinter Bandidas) zu mitunter
dubioser künstlerischer Freiheit hinreissen.
Noch herrscht die Zivilisation: die Gruppe um Thor Heyerdahl (Pål Sverre Valheim Hagen, 2.v.l.) vor ihrem Aufbruch. © dcm |
Das zwischenmenschliche Drama, welches sich zwischen den Männern
abspielt, wirkt in gewissen Momenten ein wenig zu künstlich, die
Spannung zu sehr komponiert; Heyerdahls Kampf um seine Theorie wird
auf ein simples Gut-Böse Schema reduziert: die bärtigen,
holzbeinigen Abenteurer, die Erben Darwins, gegen die verknöcherten
Stubenhocker der elitären National Geographic Society. Die englische
Fassung führt stellenweise zu arg gestelzten Dialogen. Auch
dramaturgisch ist Kon-Tiki nicht über jeden Zweifel erhaben,
zumal sich der Löwenanteil seiner Laufzeit mit den ersten 1500
Kilometern der mehr als viermal so langen Strecke befasst.
Ähnlich wie Life of Pi jedoch ist auch Kon-Tiki ein
Film, bei dem die Erwähnung vereinzelter Mängel letztlich
Pedanterie gleich kommt. Geschichte werden Rønning und Sandberg mit
ihrer Verfilmung eines der grossen Abenteuer der Moderne nicht
schreiben, noch vermögen sie Ang Lees religionsphilosophisches Drama
qualitativ zu überbieten; doch ist es ihnen gelungen, Heyerdahl ein
(fiktionalisiertes) filmisches Denkmal zu setzten, welches den
ehrfürchtigen Zuschauer in den Zustand kindlichen Staunens versetzt.
Archaischer Kampf: Ein Hai attackiert das Floss. © dcm |
Daran haben zweifellos Geir Hartly Andreassens Aufnahmen, verfeinert
mit eindrücklichen Spezialeffekten, grossen Anteil. Die
Entscheidung, Kon-Tiki im Meer statt im Studiotank zu drehen,
rechtfertigt sich in jeder Einstellung: Der Pazifik, obwohl auf der
Leinwand vertreten durch die Gewässer um Malta, Thailand und die
Malediven, wird so zum lebendigen Ozean, wo am Himmel eine echte
Sonne strahlt, der Horizont ein realer Horizont ist, wo sich unter
der Wasseroberfläche nicht ein Kunststoffboden, sondern wahrhaftiger
Meeresgrund befindet. So minim der Unterschied auch sein mag, er ist
spürbar.
Doch Kon-Tiki ist mehr als ein Augenschmaus und auch mehr als
eine Verneigung vor der Leistung von Thor Heyerdahl, Herman Watzinger
(Anders Baasmo Christiansen), Bengt Danielsson (Gustaf Skarsgård),
Knut Haugland (Tobias Santelmann), Erik Hesselberg (Odd-Magnus
Williamson) und Torstein Raaby (Jakob Oftebro). Das Werk ist ein
Plädoyer für Heyerdahls pantheistischen Pioniergeist, eine
nostalgische Rückbesinnung auf die Zeit, in der das Mysterium und
die Unzähmbarkeit der Erde noch selbstverständlich waren.
Mit sich und der Welt im Reinen: die "Kon-Tiki" auf dem Pazifik. © dcm |
Die Crewmitglieder der "Kon-Tiki" verlassen Peru in Anzug
und Krawatte und erreichen das polynesische Raroia-Atoll gebräunt,
gekleidet in schmutzigen Fetzen, ausgestattet mit langen, wilden
Wikinger-Bärten. Dazwischen haben sie Haie bekämpft, Stürmen
getrotzt, bizarre Meeresbewohner beobachtet, einen Walhai bestaunt,
ihn attackiert und sich darob Vorwürfe gemacht. Kon-Tiki erzählt
die Geschichte vom Menschen und seinem Kampf, seinen Platz in der
Natur und seine Einstellung ihr gegenüber zu finden. Die
kathartische Lösung dieses Dilemmas, die Erfüllung des unmöglichen
Traumes der Menschheit, gewähren Rønning und Sandberg ihren Helden
in einer der berückendsten Szenen des Films, einem atemberaubenden
CGI-Schwenk über die Erdatmosphäre. Die sechs Skandinavier liegen
auf ihrem Floss und konstatieren, mit sich und der Welt im Reinen:
"Maybe nature has just accepted us as a part of itself".
★★★★
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