Donnerstag, 11. April 2013

Laurence Anyways

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Obwohl erst 24 Jahre alt, gehört der Québécois Xavier Dolan bereits zu den international bekanntesten frankokanadischen Regisseuren. Auch in seinem dritten Film, Laurence Anyways, einem epischen Beziehungsdrama um Identität und Geschlechtergrenzen, erweist er sich als virtuoser Künstler.

1987 lernen sich die Werbefilmerin Frédérique "Fred" Belair (Suzanne Clément) und der Lehrer Laurence Alia (Melvil Poupaud) kennen und führen zwei Jahre lang eine leidenschaftliche, glückliche Beziehung. Dann jedoch, kurz nach seinem 35. Geburtstag, gesteht Laurence seiner Freundin, dass er sich seit seiner Kindheit eine Geschlechtsumwandlung wünscht, dass er sich fühlt wie eine Frau, gefangen in einem männlichen Körper. Nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hat, entschliesst sich Fred, Laurence treu zu bleiben und sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Doch mit den Jahren entsteht ein stetig wachsender Graben zwischen den beiden.

Laurence Anyways ist das ambitionierte Opus magnum eines stürmenden und drängenden Jungfilmers, eines vielversprechenden Auteurs, der seine Stimme gefunden hat: selbstgerecht, überbordend, unvollkommen, überwältigend. Unterstützt von einem dröhnenden Soundtrack, der Brahms, Mahler und Beethoven auf Duran Duran, The Cure, Depeche Mode und Kim Carnes' "Bette Davis Eyes" prallen lässt, kreiert Xavier Dolan (J'ai tué ma mèreLes amours imaginaires) eine faszinierende Ästhetik: Laurence, die "Queer", ist verloren in einer "straighten" Welt, wo die kargen Bilderwelten des späteren Stanley Kubrick vorherrschen – schnurgerade, senkrechte Linien, durch das Weitwinkel-Objektiv ins Extreme verlängert. Immer wieder jedoch verabschiedet sich Dolan von dieser gestrengen Vision und emuliert den bizarr überkandidelten Pomp, die melancholische Dekadenz von François Ozons 8 femmes, Terry Gilliams Brazil, Luchino Viscontis Il gattopardo und der Romane Bret Easton Ellis'.

Die Frau im Manne: Laurence (Melvil Poupaud) ist eine Verlorene in einer heteronormativen Welt.
© filmcoopi

Mit ähnlichem Furor geht Dolan auch seine Geschichte an. Laurence Anyways ist gleichermassen ein Angriff auf die heteronormative Gesellschaft und ein melodramatisches Porträt zweier Opfer derselben. Hier aber falliert der Film, da es ihm nicht gelingt, diese (mit ihrer 165-minütigen Laufzeit deutlich zu lange) Story überzeugend aufzuziehen. Trotz bewundernswerter Leistungen von Suzanne Clément und Melvil Poupaud, dessen dezente Wandlungsfähigkeit stark an die Darbietungen Denis Lavants unter Leos Carax erinnert, bleiben Fred und Laurence – man bemerke die androgyne Namensgebung – als Figuren stets unklar umrissene Konstrukte. Entsprechend fehlt dem Film die emotionale Zugkraft; der Einblick in die desillusionierte Psyche eines Transsexuellen erzielt nicht die gewollte Wirkung; die Auseinandersetzung mit "Normativen" und Aussenseitern ist nicht vollauf realisiert.

Dem Film aber vorzuwerfen, er kaschiere mit seiner ästhetischen Virtuosität die eigene Bedeutungslosigkeit, würde der Wahrheit nicht gerecht. Laurence Anyways ist ein durchdachtes Stück "Queer Cinema", dem einzig ein eindeutiges Motiv zum Erfolg zu fehlen scheint. Xavier Dolan ist ohne Zweifel ein aussergewöhnlicher Stilist mit einer beeindruckenden Vision – aber vorerst noch ohne klare Botschaft.

★★★

1 Kommentar:

  1. Auch wenn der Film tatsächlich recht lang ist, fand ich ihn keine Sekunde langweilig. Der Bezug zu den Hauptfiguren ist durch den gesamten Film hin stärker geworden bis zur letzten, äußerst emotionalen Szene.

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