Sonntag, 7. April 2013

Le magasin des suicides

Habe keine Angst davor, deinen Horizont zu erweitern. Diesen Satz hat sich der arrivierte französische Regisseur Patrice Leconte (Le mari de la coiffeuse) für sein neues Projekt sichtlich zu Herzen genommen. Le magasin des suicides ist Lecontes erster Animationsfilm und passt mit seiner schwarzhumorigen Behandlung von Krise und Existenzangst perfekt in den Zeitgeist – möchte man meinen. Leider aber verfehlt die Buchverfilmung ihr Ziel komplett.

Rund um den Laden der Familie Tuvache herrscht Tristesse. Reihenweise stürzen sich Menschen aus Fenstern, lassen sich von Lastwagen überrollen, knüpfen sich an Stricken auf. Doch die Tuvaches freuen sich unbändig über die deprimierende Umweltverschmutzung, die Hiobsbotschaften in den Nachrichten und die beunruhigende Wirtschaftslage, denn sie führen ein Fachgeschäft für Selbstmordzubehör: Vater Mishima (benannt nach dem japanischen Autor Yukio Mishima; Stimme: Bernard Alane) und Mutter Lucrèce (Isabelle Spade) beraten die geschätzte Kundschaft, während ihre missmutigen Kinder Vincent (Vincent Van Gogh; Stimme: Laurent Gendron) und Marilyn (Marilyn Monroe; Stimme: Isabelle Giami) sicherstellen, dass diese ihren Einkauf fachgerecht zur Anwendung bringt. Als jedoch der kleine Alan (Kacey Mottet Klein) geboren wird, droht dem Familienunternehmen der Untergang: Das Kind ist eine wahre Frohnatur und entschlossen, den Menschen Freude zu bereiten.

Manch eine Inhaltsangabe von Patrice Lecontes 27. Regiearbeit, einschliesslich die vorliegende, ist eigentlich viel zu ausführlich. Le magasin des suicides mag zwar nur bescheidene 79 Minuten dauern, doch zwischen Vor- und Abspann spielt sich weitaus weniger Plot ab, als eine Zusammenfassung suggeriert. Lecontes Adaption von Jean Teulés gleichnamigem Erfolgsroman aus dem Jahr 2006 wird von einer hauchdünnen Kurzfilm-Handlung getragen, in deren Namen gleichförmige Dialogszenen, schwache Running Gags und platte, übertrieben lange Musiknummern ad nauseam aneinander gereiht werden.

Händler des Todes: die Familie Tuvache.
© Frenetic Films
Mit dem dringenden Wunsch, morbid und sardonisch ("burtonesk") zu wirken, werden verschiedene Arten des Suizids in einer gefühlten Endlosschlaufe vorgestellt und besungen: Gleich mehrere Lieder lobpreisen Gift, Strick und Pistole samt ihrem positiven Effekt auf den Geldbeutel der Familie Tuvache. Auch lässt sich kaum zählen, wie oft Lucrèce einen unentschlossenen Kunden zu einer Gifttinktur überreden will, wie viele Male Mishima innerhalb einer Szene ob der Fröhlichkeit seines jüngsten Sohnes die Augen verdreht. Die hinterhältig kindliche Animation, welche sich offenkundig an den Werken Sylvain Chomets (Les Triplettes de Belleville, L'illusionniste) orientiert, die rabenschwarze Thematik sowie die überraschend hohe Altersbeschränkung des Films zeigt die Ambition Lecontes, eine animierte Satire für Erwachsene zu bewerkstelligen. Die unablässige Wiederholung des ewig Gleichen hingegen scheint aber eher auf die besonders herablassende Behandlung eines minderjährigen Publikums hinzudeuten.

Doch Leconte belässt es leider nicht dabei, seine unbestritten fantasievolle Vision an einer dermassen uninspirierten Möchtegern-Satire zu verschwenden. Spätestens als Alan seine Schwester mit einem Geburtstagsgeschenk dazu bewegt, sich in der vermeintlichen Privatsphäre ihres Zimmers einem nackten Bauchtanz hinzugeben, beobachtet von Alan und seinen Freunden, betritt Le magasin des suicides nämlich auch die Gefilde des Scham- und Geschmacklosen. Dies ist weit mehr als nur ein weiteres Beispiel für die ohnehin allen Figuren abgehende Motivation; es ist eine verstörende Szene, die Alan plötzlich vom Sockel des hehren Protagonisten und in die Richtung eines inzestuös veranlagten Kindes stösst. Gewollt ist dies, gemessen am lockeren Tonfall der Szene, vermutlich nicht. Vielmehr ist es der letzte Nagel im Sargdeckel eines zutiefst verwirrten Films.

4 Kommentare:

  1. Sie scheinen gar keine Ahnung zu haben.
    Der Film ist nicht topklasse, aber schlecht ist er nicht. Schon allein wie Sie die Bauchtanz-Szene interpretieren ist vollkommen daneben. Alan geht es dabei nicht um etwas sexuelles, sondern lediglich darum, dass er seine Schwester schön findet.
    Das ist übrigens absolut kein ungewöhnliches Verhalten. Jungs in seinem Alter sind sehr neugierig, und dabei kommt es halt auch vor, dass dir grosse Schwester in solchen Momenten bespitzelt wird.
    Das selbe Phänomen gibt es auch bei Mädchen die ihren Brüdern nachspionieren. Es ist die Neugier auf den Körper des anderen Geschlechts der zu so etwas verleitet, nicht das Verlangen nach Sex.
    Die langgezogenen und traurigen Musikteile sind sehr passend, schliesslich geht es um einen Selbstmord-Laden. Oder glauben Sie wer Selbstmord begeht ist stets bester Laune, immer gut drauf und fröhlich? Andere Musik würde gar nicht dazu passen.
    Scheinbar schauen Sie sich einen Film nur an, Sie versuchen erst gar nicht eine Botschaft zu verstehen und einen Blick hinter die Fassade zu riskieren.
    Dieser Film (und auch das Buch) soll zum Nachdenken über unsere egoistische und depressive Gesellschaft verleiten, doch anscheinend haben Sie das nicht verstanden.
    Es ist ein Film der gut und gerne 4 Sterne verdient.

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    1. Ich bitte Sie darum, sich noch ein wenig zu gedulden. Ich werde eine ausführliche Antwort folgen lassen, nur bin ich momentan etwas ausgebucht. Sie können sich aber sicher sein, dass ich auf Ihren Kommentar eingehen werde.

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    2. So. Ich entschuldige mich für die Verspätung.

      1. Wenn Sie einen Kommentar mit dem Satz "Sie scheinen gar keine Ahnung zu haben" beginnen, dann verumöglicht das im Grunde bereits eine sachliche, konstruktive Diskussion. Indem Sie meinen Standpunkt von Anfang an als ignorant bezeichnen, büssen Sie viel Glaubwürdigkeit ein.

      2. Dass Brüder im echten Leben ihren Schwestern nachspionieren, ist durchaus möglich, auch wenn ich noch nie gehört habe, dass dies in unserer Gesellschaft als Normalfall betrachtet wird. Meine Beanstandung hat allerdings weniger mit der Realitätsnähe oder -ferne der Szene zu tun, sondern eher damit, dass diese Aktion im Rahmen des Films so gar nicht zu Alan passt, dass sie ein sehr schräge Licht auf jene Figur wirft, mit welcher man sich als Zuschauer am meisten identifizieren sollte.

      3. Auch bezüglich der Songs scheinen Sie mich missverstanden zu haben. Die Stimmung der Songs mag durchaus zur Thematik passen, nur scheinen sie immer und immer wieder dasselbe Thema zu besingen: das schreckliche Leben und die verschiedenen Methoden, diesem ein Ende zu setzen. Wenn der Film schon ein Musical sein muss (auch eine Entscheidung, mit der ich nicht einverstanden bin), dann darf man doch auch Lieder erwarten, welche inhaltlich und musikalisch etwas variantenreicher sind.

      4. "Dieser Film (und auch das Buch) soll zum Nachdenken über unsere egoistische und depressive Gesellschaft verleiten, doch anscheinend haben Sie das nicht verstanden." – Dies ist keine Buchkritik. Ich bespreche hier die Verfilmung und ihre filmischen Qualitäten und Mängel (inhaltlich wie formal). Und ich finde, der Film regt nicht zum Nachdenken über die Gesellschaft an; stattdessen ertränkt er die unbestritten relevante Botschaft des Buches in eintönigen Songs, schlechten Witzen und uninspirierten Momenten.

      5. "Scheinbar schauen Sie sich einen Film nur an, Sie versuchen erst gar nicht eine Botschaft zu verstehen und einen Blick hinter die Fassade zu riskieren." – Bevor Sie sich zu so einer Aussage hinreissen lassen, sollten Sie sich vielleicht ein wenig auf diesem Blog umsehen. Ich bilde mir ein, mit einer gewissen Regelmässigkeit Blicke hinter die Fassaden von Filmen zu riskieren. Ansonsten würde ich mich schämen, mich als Kritiker zu bezeichnen. Als Beispiele fallen mir spontan Rezensionen zu 'The Turin Horse' (http://www.facingthebittertruth.com/2012/04/turin-horse.html), 'Cosmopolis' (http://www.facingthebittertruth.com/2012/07/cosmopolis.html) und 'Like Someone in Love' (http://www.facingthebittertruth.com/2013/03/like-someone-in-love.html) ein. Man kann diese Kritiken gut oder schlecht finden; aber ich glaube, man kann mir nicht den Vorwurf machen, nur oberflächlich auf Filme einzugehen.

      Wenn Ihnen wirklich an einer fruchtbaren Diskussion gelegen ist, dann würde ich Ihnen überdies empfehlen, eine Mailadresse und/oder einen Namen anzugeben. Ansonsten könnte man Sie leicht für einen Troll halten.

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  2. Also ich bin eigentlich der gleichen Meinung wie "Anonymous": ich fand den Film super und er regt auf jeden Fall zum Nachdenken an!! Klar, die Musik nervt auf Dauer da es echt immer das Gleiche ist, aber so ist das manchmal eben. Eine Salsa würde zum Beispiel sowieso nicht passen.
    Das einzige, was ich persönlich nicht so mochte, war das Ende. Das ist jedoch Geschmackssache.

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