Der grosse
Kanton, Viktor Giacobbos Versuch
einer satirischen Dokumentation über die schweizerisch-deutschen
Beziehungen vor dem Hintergrund von Fluglärm-Debatten und
Steuer-CDs, lässt sich mit einer Szene zusammenfassen:
FDP-Parteipräsident Philipp Müller äussert sich zu einem Thema,
eine Fliege umschwirrt sein Gesicht, er unterbricht seine
Ausführungen, um sie zu verjagen, bemerkt grinsend, das Insekt käme
sicher auch aus Deutschland, und fügt, zum Interviewer Giacobbo
gewandt, hinzu, er könne diesen Moment im fertigen Film verwenden,
ihm sei das egal.
Sicher
ist der Clip leidlich amüsant, doch er zeigt auch, wie fieberhaft
sich Giacobbo darum bemüht, Lacher in sein Projekt einzubauen. Dass
seine Prämisse – was wäre, wenn die Schweiz Deutschland als 27.
Kanton eingliedern, aufnehmen oder annektieren würde? – solche
nicht unbedingt von alleine mit sich bringt, macht sich an allen
Ecken und Enden bemerkbar. Überflüssige Einspieler, von den
deplatzierten, gestellten Szenen mit Darbietungen von Michael Finger
und dem Chaostheater Oropax bis zu einer abstrusen
Sirtaki-Archivaufnahme, sind in einem Masse vorhanden, welches
offenlegt, dass Der grosse Kanton
als drastisch gekürztes Fernsehspecial wahrscheinlich am besten
funktioniert hätte.
Entsprechend weiss der Film vor allem dann zu unterhalten, wenn sich
Giacobbo hinter der Kamera aufhält, Fotomontagen und hypothetische
Statistiken auftischt und seine diversen prominenten Interviewpartner
zu Wort kommen lässt. Obwohl sie praktisch alle die Idee für
undurchführbar halten, akzeptieren sie das Gedankenexperiment mit
unerwarteter akademischer Begeisterung. Deutsche Politiker wie Gregor
Gysi, Joschka Fischer oder Frank-Walter Steinmeier – von Angela
Merkels Kabinett bekundete offenbar nur Wolfgang Schäuble Interesse,
entschied sich letzten Endes aber gegen einen Auftritt – beleuchten
Aspekte wie neue Steuergesetzte, verlegte Hauptstädte und -orte und
Sprachproblematiken; Bundesrätin Doris Leuthard wägt allfällige
Auswirkungen auf Deutschlands EU-Verpflichtungen ab. Am anderen Ende
des Spektrums steht hingegen etwa die Beteiligung von
SVP-Nationalrätin Natalie Rickli, mit der Giacobbo nichts anzufangen
weiss: Er überquert mit ihr die Grenze, fragt sie, wie sie sich
fühle, und lässt sie nach ihrer erwartungsgemäss unspektakulären
Antwort ("Normal") aus dem Film verschwinden.
Swiss – bald nicht mehr Miniatur? Viktor Giacobbo (rechts) mit Ständeratspräsident Filippo Lombardi in Melide. © Vega Film |
Insgesamt aber überwiegt die Zahl jener Mitwirkenden, welche
fundiert und/oder humorvoll Auskunft geben. Zwar übertreiben
Exponenten wie Philipp Müller oder Oskar Freysinger, dessen Chanson
über den "Anschluss" des grossen deutschen Nachbarn schön
gedichtet, aber doch auch ziemlich farblos daherkommt, ihr Bestreben,
sich Giacobbos "satirischer" Befragungslinie anzupassen;
während Elke Heidenreich primär durch ihr (gespieltes?) Unwissen
über Schweizer Eigenheiten ("Fränkli") auffällt. Doch
für jeden uninspirierten oder gezwungenen Beitrag findet sich ein
Bonmot von Ständeratspräsident Filippo Lombardi, welcher mit seiner
jovialen Attitüde ideale Wahlwerbung in eigener Sache betreibt, ein
ironischer Kommentar vom SP-Vorsitzenden Christian Levrat oder eine
kleine Perle aus dem Archiv des Schweizer Fernsehens.
Insofern
fügt sich Der grosse Kanton nahtlos
ins komödiantische Gesamtwerk Giacobbos ein: Gewisse Ideen greifen,
andere scheitern – manchmal kläglich –, allzu viel ist abhängig
von Stimmung und Qualität der Gäste; die Frage nach dem
Realitätsbezug der Grundidee erübrigt sich rasch. Die
scharfsinnigsten Beobachtungen sind denn auch nicht den
wirtschaftlichen und politischen Schwergewichten vorbehalten, sondern
dem Germanisten Peter von Matt, der mit klugem, klarsichtigem Witz
dem Film zu sporadischem intellektuellem Niveau verhilft. Als
substantiellster humoristischer Wert erweist sich indessen Gerhard
Polt, der mit gehobenem Nonsens die Schweizer Geschichte
uminterpretiert und der ganzen helvetisch-biederen Angelegenheit eine
dringend benötigte Prise Surrealismus verleiht: "Geschichte ist
wie Plastilin", so Polt. "Man kanns so formen oder so, aber
es gibt halt Leute, die formen sie mehr so".
★★★
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