Mittwoch, 12. Juni 2013

Der grosse Kanton

Der grosse Kanton, Viktor Giacobbos Versuch einer satirischen Dokumentation über die schweizerisch-deutschen Beziehungen vor dem Hintergrund von Fluglärm-Debatten und Steuer-CDs, lässt sich mit einer Szene zusammenfassen: FDP-Parteipräsident Philipp Müller äussert sich zu einem Thema, eine Fliege umschwirrt sein Gesicht, er unterbricht seine Ausführungen, um sie zu verjagen, bemerkt grinsend, das Insekt käme sicher auch aus Deutschland, und fügt, zum Interviewer Giacobbo gewandt, hinzu, er könne diesen Moment im fertigen Film verwenden, ihm sei das egal.

Sicher ist der Clip leidlich amüsant, doch er zeigt auch, wie fieberhaft sich Giacobbo darum bemüht, Lacher in sein Projekt einzubauen. Dass seine Prämisse – was wäre, wenn die Schweiz Deutschland als 27. Kanton eingliedern, aufnehmen oder annektieren würde? – solche nicht unbedingt von alleine mit sich bringt, macht sich an allen Ecken und Enden bemerkbar. Überflüssige Einspieler, von den deplatzierten, gestellten Szenen mit Darbietungen von Michael Finger und dem Chaostheater Oropax bis zu einer abstrusen Sirtaki-Archivaufnahme, sind in einem Masse vorhanden, welches offenlegt, dass Der grosse Kanton als drastisch gekürztes Fernsehspecial wahrscheinlich am besten funktioniert hätte.

Entsprechend weiss der Film vor allem dann zu unterhalten, wenn sich Giacobbo hinter der Kamera aufhält, Fotomontagen und hypothetische Statistiken auftischt und seine diversen prominenten Interviewpartner zu Wort kommen lässt. Obwohl sie praktisch alle die Idee für undurchführbar halten, akzeptieren sie das Gedankenexperiment mit unerwarteter akademischer Begeisterung. Deutsche Politiker wie Gregor Gysi, Joschka Fischer oder Frank-Walter Steinmeier – von Angela Merkels Kabinett bekundete offenbar nur Wolfgang Schäuble Interesse, entschied sich letzten Endes aber gegen einen Auftritt – beleuchten Aspekte wie neue Steuergesetzte, verlegte Hauptstädte und -orte und Sprachproblematiken; Bundesrätin Doris Leuthard wägt allfällige Auswirkungen auf Deutschlands EU-Verpflichtungen ab. Am anderen Ende des Spektrums steht hingegen etwa die Beteiligung von SVP-Nationalrätin Natalie Rickli, mit der Giacobbo nichts anzufangen weiss: Er überquert mit ihr die Grenze, fragt sie, wie sie sich fühle, und lässt sie nach ihrer erwartungsgemäss unspektakulären Antwort ("Normal") aus dem Film verschwinden.

Swiss – bald nicht mehr Miniatur? Viktor Giacobbo (rechts) mit Ständeratspräsident Filippo Lombardi in Melide.
© Vega Film
Insgesamt aber überwiegt die Zahl jener Mitwirkenden, welche fundiert und/oder humorvoll Auskunft geben. Zwar übertreiben Exponenten wie Philipp Müller oder Oskar Freysinger, dessen Chanson über den "Anschluss" des grossen deutschen Nachbarn schön gedichtet, aber doch auch ziemlich farblos daherkommt, ihr Bestreben, sich Giacobbos "satirischer" Befragungslinie anzupassen; während Elke Heidenreich primär durch ihr (gespieltes?) Unwissen über Schweizer Eigenheiten ("Fränkli") auffällt. Doch für jeden uninspirierten oder gezwungenen Beitrag findet sich ein Bonmot von Ständeratspräsident Filippo Lombardi, welcher mit seiner jovialen Attitüde ideale Wahlwerbung in eigener Sache betreibt, ein ironischer Kommentar vom SP-Vorsitzenden Christian Levrat oder eine kleine Perle aus dem Archiv des Schweizer Fernsehens.

Insofern fügt sich Der grosse Kanton nahtlos ins komödiantische Gesamtwerk Giacobbos ein: Gewisse Ideen greifen, andere scheitern – manchmal kläglich –, allzu viel ist abhängig von Stimmung und Qualität der Gäste; die Frage nach dem Realitätsbezug der Grundidee erübrigt sich rasch. Die scharfsinnigsten Beobachtungen sind denn auch nicht den wirtschaftlichen und politischen Schwergewichten vorbehalten, sondern dem Germanisten Peter von Matt, der mit klugem, klarsichtigem Witz dem Film zu sporadischem intellektuellem Niveau verhilft. Als substantiellster humoristischer Wert erweist sich indessen Gerhard Polt, der mit gehobenem Nonsens die Schweizer Geschichte uminterpretiert und der ganzen helvetisch-biederen Angelegenheit eine dringend benötigte Prise Surrealismus verleiht: "Geschichte ist wie Plastilin", so Polt. "Man kanns so formen oder so, aber es gibt halt Leute, die formen sie mehr so".

★★★

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