Im vergangenen Jahr hat Kenia einen wichtigen Schritt in Richtung
einer international wettbewerbsfähigen Filmindustrie unternommen:
Erstmals schickte die Regierung eine einheimische Produktion ins
Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Die Wahl
fiel auf Nairobi Half Life, ein mitreissendes Thrillerdrama,
welches neben den gesellschaftlichen Problemen Kenias auch vom
Aufstieg des afrikanischen Kinos handelt.
Mwas hat einen Traum: Schauspieler möchte er werden, Kino- und
Theaterzuschauer mit seinen Leistungen beeindrucken. Davon ist er
allerdings noch weit entfernt: Noch lebt er mit seinen Eltern in
einem Wellblech-Haus irgendwo auf dem kenianischen Land und verdient
sich den Lebensunterhalt mit der Verhökerung illegaler
DVD-Raubkopien. Hoch im Kurs stehen westliche Blockbuster wie Kill
Bill oder 300, die er jeweils mit dramatischen
Nachstellungen anzupreisen weiss. Seine Arbeit lebt von einer
Technik, welche dem Kino Afrikas beileibe nicht fremd ist; so kennt
etwa das nigerianische "Nollwood" Filme wie Titanic
Battle – landesspezifische Neuinterpretationen bekannter
Hollywood-Streifen, gedreht von Enthusiasten, die von der breiten
Verfügbarkeit von Videokameras profitieren, wodurch sich nach und
nach eine eigenständige nationale Filmkultur etabliert.
Dadurch erhält auch die Rolle des Kinos als Ort der Flucht eine neue
Dimension. Mwas verkauft seine DVDs Arbeitslosen, Faulenzern und
Halbkriminellen, die sich auf zwei Stunden Kintopp-Eskapismus freuen.
Er selber hingegen sucht sein Heil in der realen Flucht; er will sich
als Schauspieler beweisen, um seinen ärmlichen Verhältnissen,
seinem alkoholkranken Vater, der perspektivlosen Provinz zu
entkommen. So scheint Regisseur Tosh Gitonga sagen zu wollen, dass
das Kino neben seiner Funktion als Unterhaltungsmedium im grösseren
Zusammenhang auch ein Weg in eine bessere Zukunft sein könnte.
Dieser gestaltet sich für Mwas – von Joseph Wairimu mit dem Feuer
eines Issiaka Kane (Yeelen) verkörpert – jedoch als
schwierig: Kaum ist er dem Bus entstiegen, der ihn in die berüchtigte
Hauptstadt Nairobi gefahren hat und welcher Erinnerungen an das Titel
gebende Vehikel in Moussa Tourés Komödie TGV weckt, wird er
ausgeraubt und kurz darauf irrtümlich verhaftet. Während seines
Aufenthalts in einem schmutzigen, hoffnungslos überfüllten
Gefängnis macht er den erfahrenen Strauchdieb Oti (Olwenya Maina)
auf sich aufmerksam, der ihm rät, sich seiner Gang anzuschliessen,
wenn er in Nairobi überleben will. Bald schon führt Mwas ein
riskantes Doppelleben als Ersatzteildieb und -dealer und als
Mitwirkender in einem gesellschaftskritischen, ironisch plakativen
Theaterstück. Einzige Mitwisserin ist Otis einfühlsame Freundin,
die Prostituierte Amina (Nancy Wanjiku Karanja).
Mwas (Joseph Wairimu) erreicht Nairobi. © trigon-film |
Das Thema von besagtem Bühnenstück ist die Wohlstandsschere, welche
im Quasi-Schwellenland Kenia, wo mittlerweile "zehn Prozent der
Bevölkerung 90 Prozent der Geldmittel kontrollieren", mehr denn
je auseinander klafft. Im Ganzen mag Gitongas Fokus zwar auf Faktoren
wie der grassierenden Polizei-Korruption liegen, doch auch abseits
der Theaterbühne verweist er auf die diesbezüglichen Probleme, an
welchen sein Heimatland leidet: In einer brillanten Kranaufnahme, die
sich langsam von Mwas entfernt, bis dieser schliesslich völlig in
der Menge verschwunden ist, zeigt er die in der Tropensonne
funkelnden Glasfassaden der Hochhäuser im Zentrum von Nairobi –
Banken, IT-Firmen, Einkaufspaläste, Fünf-Sterne-Hotels; derweil die
Slums der Megastadt, welche malerische Namen wie Majengo, Matopeni
oder Kibera tragen, nur durch Abwesenheit glänzen – ein
sardonischer Verweis auf die von vielen Kenianern als gescheitert
erachtete nationale Politik, welche in gewissen Fällen nicht einmal
die Existenz eines Slums anerkennt.
Doch Gitonga lässt trotz dieses reichen Subtexts weder Erzählung
noch Figuren aussen vor. Nairobi Half Life vermischt auf
kuriose – aber äusserst effektive – Art und Weise die
Coming-of-Age-Dramatik eines Billy Elliot mit der
halbdokumentarischen Milieustudie von Tsotsi oder City of
God; dem Film gelingt der heikle Wechsel zwischen amüsanten
Charakter-Vignetten und wuchtigen Darstellungen brutaler Bandenkriege
und sadistischer Slum-Polizisten mühelos. Dennoch wird es Gitongas
Debüt leicht fallen, ein internationales Publikum für sich zu
gewinnen, nicht zuletzt dank prominenter Produktionshilfe (Tom
Tykwer) und einer bekömmlichen Dramaturgie (die dem Film keineswegs
zum Vorwurf gemacht werden soll).
Aus Geldnot schliesst sich Mwas der Strassenbande von Oti (Olwenya Maina) an. © trigon-film |
Kenias Entwicklung in Richtung eines emanzipierten Exporteurs von
hochkarätigem Weltkino hat allerdings erst gerade begonnen; Tosh
Gitonga dürfte jedoch eine grosse Zukunft als führender Vertreter
dieser Industrie vergönnt sein. Nairobi Half Life zeichnet
sich nämlich neben seiner inhaltlichen Stärke auch durch eine
stilsichere, visuell eindrückliche Regie aus; die in Zusammenarbeit
mit Kameramann Christian Almesberger entstandenen Kompositionen sowie
die sorgfältig ausgearbeitete Farbgebung (mitunter sind Anklänge an
Mahamat Saleh-Haroun erkennbar) tragen erheblich zur Wirkung des
Projekts bei. Nairobi Half Life endet mit tosendem Applaus für
das Theaterstück, in welchem Mwas mitwirkt. In diesen kann man als
Kinogänger guten Gewissens mit einstimmen.
★★★★
Treffende, schöne Kritik, aber Kenia als (Quasi-)Schwellenland zu bezeichnen, finde ich etwas gewagt. Viellecht ein Film-Schwellenland? :)
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