Dienstag, 11. Juni 2013

Nairobi Half Life

Im vergangenen Jahr hat Kenia einen wichtigen Schritt in Richtung einer international wettbewerbsfähigen Filmindustrie unternommen: Erstmals schickte die Regierung eine einheimische Produktion ins Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Die Wahl fiel auf Nairobi Half Life, ein mitreissendes Thrillerdrama, welches neben den gesellschaftlichen Problemen Kenias auch vom Aufstieg des afrikanischen Kinos handelt.

Mwas hat einen Traum: Schauspieler möchte er werden, Kino- und Theaterzuschauer mit seinen Leistungen beeindrucken. Davon ist er allerdings noch weit entfernt: Noch lebt er mit seinen Eltern in einem Wellblech-Haus irgendwo auf dem kenianischen Land und verdient sich den Lebensunterhalt mit der Verhökerung illegaler DVD-Raubkopien. Hoch im Kurs stehen westliche Blockbuster wie Kill Bill oder 300, die er jeweils mit dramatischen Nachstellungen anzupreisen weiss. Seine Arbeit lebt von einer Technik, welche dem Kino Afrikas beileibe nicht fremd ist; so kennt etwa das nigerianische "Nollwood" Filme wie Titanic Battle – landesspezifische Neuinterpretationen bekannter Hollywood-Streifen, gedreht von Enthusiasten, die von der breiten Verfügbarkeit von Videokameras profitieren, wodurch sich nach und nach eine eigenständige nationale Filmkultur etabliert.

Dadurch erhält auch die Rolle des Kinos als Ort der Flucht eine neue Dimension. Mwas verkauft seine DVDs Arbeitslosen, Faulenzern und Halbkriminellen, die sich auf zwei Stunden Kintopp-Eskapismus freuen. Er selber hingegen sucht sein Heil in der realen Flucht; er will sich als Schauspieler beweisen, um seinen ärmlichen Verhältnissen, seinem alkoholkranken Vater, der perspektivlosen Provinz zu entkommen. So scheint Regisseur Tosh Gitonga sagen zu wollen, dass das Kino neben seiner Funktion als Unterhaltungsmedium im grösseren Zusammenhang auch ein Weg in eine bessere Zukunft sein könnte.

Dieser gestaltet sich für Mwas – von Joseph Wairimu mit dem Feuer eines Issiaka Kane (Yeelen) verkörpert – jedoch als schwierig: Kaum ist er dem Bus entstiegen, der ihn in die berüchtigte Hauptstadt Nairobi gefahren hat und welcher Erinnerungen an das Titel gebende Vehikel in Moussa Tourés Komödie TGV weckt, wird er ausgeraubt und kurz darauf irrtümlich verhaftet. Während seines Aufenthalts in einem schmutzigen, hoffnungslos überfüllten Gefängnis macht er den erfahrenen Strauchdieb Oti (Olwenya Maina) auf sich aufmerksam, der ihm rät, sich seiner Gang anzuschliessen, wenn er in Nairobi überleben will. Bald schon führt Mwas ein riskantes Doppelleben als Ersatzteildieb und -dealer und als Mitwirkender in einem gesellschaftskritischen, ironisch plakativen Theaterstück. Einzige Mitwisserin ist Otis einfühlsame Freundin, die Prostituierte Amina (Nancy Wanjiku Karanja).

Mwas (Joseph Wairimu) erreicht Nairobi.
© trigon-film
Das Thema von besagtem Bühnenstück ist die Wohlstandsschere, welche im Quasi-Schwellenland Kenia, wo mittlerweile "zehn Prozent der Bevölkerung 90 Prozent der Geldmittel kontrollieren", mehr denn je auseinander klafft. Im Ganzen mag Gitongas Fokus zwar auf Faktoren wie der grassierenden Polizei-Korruption liegen, doch auch abseits der Theaterbühne verweist er auf die diesbezüglichen Probleme, an welchen sein Heimatland leidet: In einer brillanten Kranaufnahme, die sich langsam von Mwas entfernt, bis dieser schliesslich völlig in der Menge verschwunden ist, zeigt er die in der Tropensonne funkelnden Glasfassaden der Hochhäuser im Zentrum von Nairobi – Banken, IT-Firmen, Einkaufspaläste, Fünf-Sterne-Hotels; derweil die Slums der Megastadt, welche malerische Namen wie Majengo, Matopeni oder Kibera tragen, nur durch Abwesenheit glänzen – ein sardonischer Verweis auf die von vielen Kenianern als gescheitert erachtete nationale Politik, welche in gewissen Fällen nicht einmal die Existenz eines Slums anerkennt.

Doch Gitonga lässt trotz dieses reichen Subtexts weder Erzählung noch Figuren aussen vor. Nairobi Half Life vermischt auf kuriose – aber äusserst effektive – Art und Weise die Coming-of-Age-Dramatik eines Billy Elliot mit der halbdokumentarischen Milieustudie von Tsotsi oder City of God; dem Film gelingt der heikle Wechsel zwischen amüsanten Charakter-Vignetten und wuchtigen Darstellungen brutaler Bandenkriege und sadistischer Slum-Polizisten mühelos. Dennoch wird es Gitongas Debüt leicht fallen, ein internationales Publikum für sich zu gewinnen, nicht zuletzt dank prominenter Produktionshilfe (Tom Tykwer) und einer bekömmlichen Dramaturgie (die dem Film keineswegs zum Vorwurf gemacht werden soll).

Aus Geldnot schliesst sich Mwas der Strassenbande von Oti (Olwenya Maina) an.
© trigon-film
Kenias Entwicklung in Richtung eines emanzipierten Exporteurs von hochkarätigem Weltkino hat allerdings erst gerade begonnen; Tosh Gitonga dürfte jedoch eine grosse Zukunft als führender Vertreter dieser Industrie vergönnt sein. Nairobi Half Life zeichnet sich nämlich neben seiner inhaltlichen Stärke auch durch eine stilsichere, visuell eindrückliche Regie aus; die in Zusammenarbeit mit Kameramann Christian Almesberger entstandenen Kompositionen sowie die sorgfältig ausgearbeitete Farbgebung (mitunter sind Anklänge an Mahamat Saleh-Haroun erkennbar) tragen erheblich zur Wirkung des Projekts bei. Nairobi Half Life endet mit tosendem Applaus für das Theaterstück, in welchem Mwas mitwirkt. In diesen kann man als Kinogänger guten Gewissens mit einstimmen.

★★★★

1 Kommentar:

  1. Treffende, schöne Kritik, aber Kenia als (Quasi-)Schwellenland zu bezeichnen, finde ich etwas gewagt. Viellecht ein Film-Schwellenland? :)

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