Dienstag, 4. Juni 2013

Schlafkrankheit

Warnung: Diese Kritik verrät eine Plot-Wendung.

Kunst, wie auch Geschichtsschreibung, war lange Jahre etwas, was dem afrikanischen Kontinent zugefügt anstatt von ihm initiiert wurde. Selbst nach dem Niedergang der grossen Kolonialimperien und der Emanzipation der indigenen Kultur – etwa durch Autoren wie Chinua Achebe oder Filmemacher wie Ousmane Sembène – blieb der Afrikaner das Objekt, die Sehenswürdigkeit des kolonialistisch-imperialistisch geprägten Europäers. Ein Umdenken mag seither stattgefunden haben, doch noch immer scheint der westlich-abendländische Blick von einer Dichotomie beherrscht zu sein: Afrika ist entweder ein Ort der flächendeckenden humanitären Krise (Blood Diamond, Lord of War) oder ein anachronistisches, verwunschenes Eden (Out of Africa).

An diesem Punkt setzt Ulrich Köhler, ein wenig bekannter Vertreter der Berliner Schule, mit Schlafkrankheit an, seinem dritten Langspielfilm, für den er 2011 auf der Berlinale den Preis für die beste Regie verliehen bekam. Das postkolonial angehauchte Drama geht vom erfrischend nüchternen Standpunkt aus, dass auch auf dem schwarzen Kontinent der Alltag existiert, dass sich hinter den Nachrichten über politische Instabilität im Norden, unaufhörliche Gewalt im Süden und Armut in jeder Ecke ein Afrika verbirgt, in dem Menschen langweilige Büroberufe ausüben, China-Restaurants besuchen und aus den Radios die gleiche Musik schallt, wie sie auch in New York und London zu hören ist.

Trotzdem ist der Arzt Ebbo Velten (Pierre Bokma) immer noch begeistert von der "Ursprünglichkeit" seiner derzeitigen Heimat Kamerun. Dort wohnt er mit seiner Frau Vera (Jenny Schily) in der Hauptstadt Yaoundé und leitet ein Projekt zur Eindämmung der Schlafkrankheit, die angeblich in der Provinz grassiert. Mit seinen Kollegen versteht er sich blendend – obwohl ihm sein Freund, der Geschäftsmann Gaspard Signac (Hippolyte Girardot), ständig zweifelhafte Angebote unterbreitet –, sein Beruf fällt ihm leicht, er geniesst die Einfachheit des Lebens, die ihm sein Status in einem Entwicklungsland erlaubt. Doch das Glück hat nicht Bestand: Um näher bei der gemeinsamen Tochter zu sein, die in Deutschland ein Internat besucht, drängt Vera Ebbo dazu, nach Europa zurückzukehren, worzu er letztendlich schweren Herzens einwilligt.

Dieser erste Teil des Films lebt von seinem dezent ironischen Kommentar auf jene naive Romantik, von der Auswärtige jahrhundertelang ergriffen wurden, als sie erstmals ihren Fuss auf Afrika setzten. Schlafkrankheit beginnt als Darstellung eines Kolonialisten, Ebbo, der sich, wie Robert Redford in Out of Africa, an die Vorgänge im "eroberten" Land gewöhnt und sogar angepasst hat und sich kein Leben mehr ohne diese Eigenarten vorstellen kann. Wenn er nachts von bewaffneten Militärs angehalten wird, stutzt er nicht mehr; bieten sie ihm an, ihn gegen ein kleines Entgelt durchzuwinken, obwohl seine Tochter ihren Pass nicht finden kann, weigert er sich; schlussendlich handelt er sein Gegenüber, einen Hauptmann, darauf herunter, ihn in die Stadt mitzunehmen. Dem Zuschauer jedoch bleibt die Magie, die Ebbo in Kamerun zu sehen scheint, verborgen. Yaoundé ist eine Grossstadt wie jede andere: dichter Verkehr, Hochhäuser, reichere und ärmere Nachbarschaften.

Gefangen im Paradies: Dr. Ebbo Velten (Pierre Bokma) will seine Frau (Jenny Schily) davon überzeugen, in Kamerun zu bleiben.
© cineworx
Diesen Blick teilt auch Dr. Alex Nzila (Jean-Christophe Folly), ein kongolesischstämmiger Franzose, der drei Jahre später Ebbos Arbeit für die Weltgesundheitsorganisation evaluieren soll, in der entsprechenden Klinik aber keinen Dr. Velten, sondern nur eine einzige Schlafkrankheit-Patientin sowie eine hochschwangere Frau vorfindet, deren Wehen soeben eingesetzt haben. Anders als Ebbo, der es zumindest anfänglich geschafft hat, sich als weisser Mitteleuropäer im Herzen Afrikas zu integrieren, ist Alex überall ein Fremder: In Frankreich, dem Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist, behandeln ihn Kollegen und Klienten wie eine Koryphäe für afrikanische Fragen; in Kamerun schlagen ihm antikongolesische Vorurteile und Spott gegen ihn als ahnungslosen französischen Touristen entgegen.

Wie Queer-Theoretiker fixe Geschlechtergrenzen anfechten, widersetzt sich Ulrich Köhler der Auffassung, geografisch-kulturelle Identitäten könnten klar definiert werden, besonders nach einem halben Jahrhundert postkolonialer Entwicklung. Im Bereich der Figurenkonstellation ist Schlafkrankheit ein spannendes Traktat über die trügerische Aussagekraft von Hautfarbe und Herkunft. Der homosexuelle, an die Annehmlichkeiten westlicher Industriestaaten gewöhnte Alex ist von der Laissez-faire-Attitüde seiner Gastgeber im kamerunischen Busch ebenso überfordert wie Ebbo im wohlgeordneten Europa.

Doch auch Velten ist drei Jahre nach seinem Entschluss, Afrika zu verlassen, auf dem harten Boden der Tatsachen gelandet. Frau und Tochter hat er in Deutschland zurückgelassen und durch eine neue Familie ersetzt – die schwangere Frau, die Alex erfolglos zu behandeln versucht, ist seine Frau, ihr schliesslich per Kaiserschnitt geborenes Kind sein Sohn. Sein blauäugiger Enthusiasmus für die afrikanische "Kolonie" ist dem Überdruss über die Forderungen seiner neuen Sippe gewichen. Das Schicksal des imperialistischen Romantikers (verewigt durch den Protagonisten aus William Somerset Maughams Kurzgeschichte The Force of Circumstance) hat nun auch ihn ereilt.

Der französische Arzt Dr. Alex Nzila (Jean-Christophe Folly) soll im kamerunischen Busch Ebbo Veltens Arbeit evaluieren.
© cineworx
Die einheimische Zweitfamilie bleibt indes nicht der einzige Topos kolonialer Literatur, auf welchen Köhler in seinem postkolonialen Kunstfilm eingeht: Am Ende lassen nämlich Ebbo und Alex die Zivilisation – erst Yaoundé, dann die leere Dschungelklinik – ganz hinter sich und fallen in die festgefügten Rollen der Imperialismus-Ära zurück. Sie begeben sich als weisse Pioniere auf die Jagd durch den afrikanischen Busch, wo sie beide auf ihre Weise mit dem immer noch geheimnisvollen, aber längst gezähmten Kontinent abschliessen. Die Entfremdung von Alex erreicht ihren Höhepunkt, als er eine einsame, unruhige Nacht am Lagerfeuer verbringt und danach das Land, vermutlich für immer, verschmutzt, verwirrt und im Wissen, dass ihn nichts mehr mit seinen Wurzeln verbindet, verlässt. Ebbo hingegen geht jenen Weg, der für so viele koloniale und postkoloniale Figuren – darunter den ikonischen Kurtz in Joseph Conrads Heart of Darkness – Apotheose und Verdammnis zugleich bedeutete: Er ergibt sich seiner neuen Umwelt und assimiliert sich ("going native"). Ebbo verschwindet Off-Screen in einem Strom, welchem kurz darauf ein Flusspferd entsteigt (ein Rückgriff auf eine Geschichte, die er zuvor erzählt hat).

Ob dies nun seinen Tod oder seine Metamorphose symbolisiert, lässt Köhler offen und entschliesst sich dazu, seinen ansonsten kühl-realistischen Film mit einem Stück unerklärtem Mystizismus enden zu lassen, wobei er sich an Regisseuren wie Apichatpong Weerasethakul oder Carlos Reygadas, Vorbildern der Berliner Schule, zu orientieren scheint. Anderweitig fehlt es Köhler aber an jedweder auktorialer Identität. Inhaltlich ist Schlafkrankheit zweifelsohne ein komplexes kleines Kunstwerk, das mit Versatzstücken klassischer (post-)kolonialer Literatur und einer tranceartigen Atmosphäre, welche in gewissen Momenten von ferne an Lynch und Antonioni erinnert, erst frustriert, dann intellektuell herausfordert – wenngleich bis zum Schluss unklar bleibt, worauf die rudimentäre Geschichte eigentlich hinaus will. Köhler zeigt ein reifes Afrika-Bild, weiss damit aber nicht allzu viel anzufangen, auch nicht auf der künstlerischen Ebene: Seine Vision ist von einer ärgerlichen Banalität, die dem Film jedes Leben entzieht. Um die Frustration Ebbos und Alex' zu unterstreichen, spielen sich gewisse Szenen quälend langsam ab. Blutleere Sequenz wird an blutleere Sequenz gereiht; die übergreifende Inszenierung lässt jeglichen Sinn für narrative Fantasie vermissen, wodurch Schlafkrankheit seinem Titel letzten Endes leider allzu gerecht wird.

★★

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