Freitag, 28. Juni 2013

Une Estonienne à Paris

Es gibt ein merkwürdiges Szenenpaar in Une Estonienne à Paris: Beide Szenen sind Teil einer übergeordneten Montage-Sequenz und zeigen die Hauptfigur Anne Rand (Laine Mägi), wie sie sich, einmal am Anfang, einmal am (möglichen) Ende ihres Paris-Aufenthalts, auf ihrer einsamen Wanderschaft durch die Strassen der Stadt der Liebe unversehens vor dem Eiffelturm wiederfindet. Ist der Platz zunächst noch übersät mit Touristen, hat sie ihn in der zweiten Szene für sich allein; ungestört steht sie da, doch sie ist in Gedanken versunken, die Sehenswürdigkeit kaum wahrnehmend. Das kleine Diptychon sagt viel über den Film als Ganzes aus: Es ist sinnträchtig, sorgsam komponiert und besticht durch dezent-verträumte Musikuntermalung, doch es fehlt ein erkennbarer Hinweis darauf, was in Anne vorgeht, wo die Signifikanz der Szenen und ihrer Kopplung liegt.

Das überrascht, denn Regisseur Ilmar Raag hat sich mit seinem letzten Film, The Class aus dem Jahr 2007, als bissiger Sozialkritiker erwiesen, dem die Zustände in Estlands Schulen und die Gesellschaft, in der die postsowjetische Generation aufwächst, ein Anliegen sind. Aus Une Estonienne à Paris sind diese sozialrealistischen Aspekte jedoch fast gänzlich verschwunden. Stattdessen gibt sich Raag mit einem vergleichsweise leichtgewichtigen Charakterdrama zufrieden, in dem die Tragödien milde, die Dramaturgie leichtfüssig und die Konflikte scheinbar unerheblich sind.

Vieles, so etwa diverse Entscheidungsprozesse oder die Frage, ob sich Anne in Paris neu verliebt, wird offen gelassen; in der Figurenzeichnung klaffen Lücken; immer wieder verliert sich die Geschichte auf Nebenpfaden wie kurzen Sightseeing-Einstellungen oder wenn die Kamera auf unbedeutenden Statisten verweilt, als liesse sich Raag von ihnen ablenken. Die Erzählung beschränkt sich auf die Dreiecksbeziehung zwischen Anne, einer estnischen Pflegerin, Frida (Jeanne Moreau), die als junge Frau aus Estland nach Paris emigrierte, 80-jährige Bourgeoise, um die sich Anne kümmern soll, und Stéphane (Patrick Pineau), wie Anne rund 50 Jahre alt, und einstiger Liebhaber Fridas.

Mit einbezogen werden persönliche Traumata wie der Tod von Annes Mutter, der sie dazu veranlasst hat, ihre Heimat zu verlassen, Stéphanes Unfähigkeit, eine feste Beziehung aufrecht zu erhalten, sowie ein nicht weit zurück liegender Selbstmordversuch Fridas. Das Arrangement ist konstruiert, das Verhältnis der beiden vereinsamten Frauen, der gealterten Diva und der geschiedenen Stoikerin, pendelt zwischen dem schwarzen Humor von Tatie Danielle und der aufrichtigen Emotion von Driving Miss Daisy.

Auf Wunsch von Stéphane (Patrick Pineau) kümmert sich die estnische Pflegerin Anne (Laine Mägi, links) in Paris um die vereinsamte Frida (Jeanne Moreau).
© Xenix Films
Das zwischenmenschliche Drama, obgleich praktisch allgegenwärtig, verblasst neben den Momenten, in denen Frida ihre Pflegerin zur eleganten Dame erziehen will ("Parfüms werden nicht gemischt!", "Croissants werden in der Bäckerei gekauft!", "Zieh dir etwas Schönes an!") und im Gegenzug wieder lernt, was es bedeutet, ein umgänglicher Mensch zu sein. Die Rolle Patrick Pineaus, ein rühmenswertes Jean-Reno-Double, wirkt hier zunehmend wie Ballast, sein spät angedeutetes Interesse an Anne wie eine Plot-Annehmlichkeit, die einen einfachen Übergang zum traumartigen Schluss erlaubt.

Und doch gelingt es Raag, seinen Film mit stilistischer Fingerfertigkeit über Wasser zu halten. Dass Une Estonienne à Paris letztendlich trotz all seiner kleinen und grösseren Unebenheiten menschlich anspricht, ist aber vorab seinen beiden Hauptdarstellerinnen zu verdanken. Jeanne Moreau, deren Legendenstatus gut zur Figur der Frida passt, offenbart hinter der knurrenden und zischenden Misanthropin ein verletzliches Inneres – eine Entwicklung, welche die grosse Mimin ohne Kitsch und Sentimentalität darzustellen weiss. Sie blüht auf im Zusammenspiel mit der ausserhalb Estlands nur wenig bekannten Laine Mägi, einer stillen Charakterdarstellerin, die aus demselben Holz geschnitzt scheint wie Aki Kaurismäkis Muse Kati Outinen. Sie vermag mit ihrer subtilen, aber zugleich kraftvollen Darbietung einige von Raags narrativen Lücken zu füllen. Dank ihr und Moreau werden aus Konstrukten Menschen.

★★★

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