Es gibt ein merkwürdiges Szenenpaar in Une Estonienne à Paris:
Beide Szenen sind Teil einer übergeordneten Montage-Sequenz und
zeigen die Hauptfigur Anne Rand (Laine Mägi), wie sie sich, einmal
am Anfang, einmal am (möglichen) Ende ihres Paris-Aufenthalts, auf
ihrer einsamen Wanderschaft durch die Strassen der Stadt der Liebe
unversehens vor dem Eiffelturm wiederfindet. Ist der Platz zunächst
noch übersät mit Touristen, hat sie ihn in der zweiten Szene für
sich allein; ungestört steht sie da, doch sie ist in Gedanken
versunken, die Sehenswürdigkeit kaum wahrnehmend. Das kleine
Diptychon sagt viel über den Film als Ganzes aus: Es ist
sinnträchtig, sorgsam komponiert und besticht durch
dezent-verträumte Musikuntermalung, doch es fehlt ein erkennbarer
Hinweis darauf, was in Anne vorgeht, wo die Signifikanz der Szenen
und ihrer Kopplung liegt.
Das überrascht, denn Regisseur Ilmar Raag hat sich mit seinem
letzten Film, The Class aus dem Jahr 2007, als bissiger
Sozialkritiker erwiesen, dem die Zustände in Estlands Schulen und
die Gesellschaft, in der die postsowjetische Generation aufwächst,
ein Anliegen sind. Aus Une Estonienne à Paris sind diese
sozialrealistischen Aspekte jedoch fast gänzlich verschwunden.
Stattdessen gibt sich Raag mit einem vergleichsweise
leichtgewichtigen Charakterdrama zufrieden, in dem die Tragödien
milde, die Dramaturgie leichtfüssig und die Konflikte scheinbar
unerheblich sind.
Vieles, so etwa diverse Entscheidungsprozesse oder die Frage, ob sich
Anne in Paris neu verliebt, wird offen gelassen; in der
Figurenzeichnung klaffen Lücken; immer wieder verliert sich die
Geschichte auf Nebenpfaden wie kurzen Sightseeing-Einstellungen oder
wenn die Kamera auf unbedeutenden Statisten verweilt, als liesse sich
Raag von ihnen ablenken. Die Erzählung beschränkt sich auf die
Dreiecksbeziehung zwischen Anne, einer estnischen Pflegerin, Frida
(Jeanne Moreau), die als junge Frau aus Estland nach Paris
emigrierte, 80-jährige Bourgeoise, um die sich Anne kümmern soll,
und Stéphane (Patrick Pineau), wie Anne rund 50 Jahre alt, und
einstiger Liebhaber Fridas.
Mit einbezogen werden persönliche Traumata wie der Tod von Annes
Mutter, der sie dazu veranlasst hat, ihre Heimat zu verlassen,
Stéphanes Unfähigkeit, eine feste Beziehung aufrecht zu erhalten,
sowie ein nicht weit zurück liegender Selbstmordversuch Fridas. Das
Arrangement ist konstruiert, das Verhältnis der beiden vereinsamten
Frauen, der gealterten Diva und der geschiedenen Stoikerin, pendelt
zwischen dem schwarzen Humor von Tatie Danielle und der
aufrichtigen Emotion von Driving Miss Daisy.
Auf Wunsch von Stéphane (Patrick Pineau) kümmert sich die estnische Pflegerin Anne (Laine Mägi, links) in Paris um die vereinsamte Frida (Jeanne Moreau). © Xenix Films |
Das zwischenmenschliche Drama, obgleich praktisch allgegenwärtig,
verblasst neben den Momenten, in denen Frida ihre Pflegerin zur
eleganten Dame erziehen will ("Parfüms werden nicht gemischt!",
"Croissants werden in der Bäckerei gekauft!", "Zieh
dir etwas Schönes an!") und im Gegenzug wieder lernt, was es
bedeutet, ein umgänglicher Mensch zu sein. Die Rolle Patrick
Pineaus, ein rühmenswertes Jean-Reno-Double, wirkt hier zunehmend
wie Ballast, sein spät angedeutetes Interesse an Anne wie eine
Plot-Annehmlichkeit, die einen einfachen Übergang zum traumartigen
Schluss erlaubt.
Und doch gelingt es Raag, seinen Film mit stilistischer
Fingerfertigkeit über Wasser zu halten. Dass Une Estonienne à
Paris letztendlich trotz all seiner kleinen und grösseren
Unebenheiten menschlich anspricht, ist aber vorab seinen beiden
Hauptdarstellerinnen zu verdanken. Jeanne Moreau, deren
Legendenstatus gut zur Figur der Frida passt, offenbart hinter der
knurrenden und zischenden Misanthropin ein verletzliches Inneres –
eine Entwicklung, welche die grosse Mimin ohne Kitsch und
Sentimentalität darzustellen weiss. Sie blüht auf im Zusammenspiel
mit der ausserhalb Estlands nur wenig bekannten Laine Mägi, einer
stillen Charakterdarstellerin, die aus demselben Holz geschnitzt
scheint wie Aki Kaurismäkis Muse Kati Outinen. Sie vermag mit ihrer
subtilen, aber zugleich kraftvollen Darbietung einige von Raags
narrativen Lücken zu füllen. Dank ihr und Moreau werden aus
Konstrukten Menschen.
★★★
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