Dienstag, 9. Juli 2013

Child's Pose

In kurzen, klaren, sicherlich auch vereinfachten Worten werden in der englischen Ausgabe der Wikipedia die zentralen Anliegen der "Noul val românesc" ersichtlich, jener rumänischen Filmbewegung, zu der junge Künstler wie Cristi Puiu (The Death of Mr. Lăzărescu, Aurora) oder Cristian Mungiu (4 Months, 3 Weeks and 2 Days, Beyond the Hills) gezählt werden: "Freiheit und Widerstand unter der kommunistischen Diktatur" sind essentiell, ebenso die Frage, wie "die freie kapitalistische Marktwirtschaft und die Demokratie die rumänische Gesellschaft nach 1989 geprägt haben".

Reduziert man Călin Peter Netzers dritten Film, Child's Pose, Gewinner des Goldenen Bären bei der diesjährigen Berlinale, auf das Wesentliche, erscheint ein Drama, welches exakt dieser Rezeptur zu folgen scheint. Netzer geht es um die klaffenden Gräben im zeitgenössischen Rumänien, zwischen Stadt und Land, zwischen Reich und Arm, um Korruption, alte Seilschaften und darum, wie sowjetische Vetternwirtschaft und bürokratische Ränkespiele unter dem Mantel kapitalistischer Geschäftstüchtigkeit überlebt haben.

Verkörpert wird die Macht der postsowjetischen Bourgeoisie durch Cornelia (Luminița Gheorghiu), 60 Jahre alt, geachtete Opern-Bühnenbildnerin und Besitzerin einer schicken Bukarester Stadtwohnung. Privat ist ihr aber weniger Erfolg vergönnt: Mit ihrem schweigsamen Mann (Florin Zamfirescu) unterhält sie eher eine professionelle als eine romantische Beziehung, während ihr 34-jähriger Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache) sich mit barschen Äusserungen gegen ihre Versuche wehrt, ein engeres Verhältnis mit ihm zu pflegen. Als Barbu eines Nachts aber einen Teenager zu Tode fährt, sieht sich Cornelia berufen, zusammen mit ihrer Freundin Olga (Nataşa Raab) zu verhindern, dass er ins Gefängnis wandert.

Männer spielen in diesem Rumänien trotz der patriarchalisch-orthodoxen Tradition ledigliche eine marginale Rolle. Stumm sitzen sie am Rand einer Einstellung, während die wilde Handkamera den fast ausschliesslich von Frauen geführten Auseinandersetzungen folgt. Wie ein Kind bleibt Barbu im Auto sitzen (auf der Rückbank, versteht sich), als seine Freundin (Ilinca Goia) zusammen mit Cornelia die Arbeiterklasse-Familie des Unfallopfers besucht ("Wir sollten ihm etwas Verantwortung abnehmen"). Die Rolle des trauernden Vaters als Familienoberhaupt hat nur noch eine zeremonielle Funktion, ist bloss Fassade; erst als er, ein weinendes Häufchen Elend, das Zimmer verlässt, kann Cornelia mit der Mutter unter der Hand "Geschäftliches" besprechen. Tränenreich wird um finanzielle Hilfe als Gegenleistung für den Verzicht auf juristische Schritte gefeilscht. Ob Cornelias Tränen echt sind, vor allem in diesem Ausmass, wird nicht vollständig aufgelöst, im Hinblick auf den Rest des Films wirken auch sie eher als Teil ihrer Verhandlungsstrategie.

Bukarester Bourgeoisie: Bühnenbildnerin und Quasi-Geschäftsfrau Cornelia (Luminița Gheorghiu).
© filmcoopi
Selbst in der nur kurz skizzierten Gegenwelt der Bukarester Oper haben die Frauen das Sagen: Eine Choreografin befiehlt während der Probe über ihre Darsteller, Cornelia bestimmt, wie das Bühnenbild auszusehen hat, wohingegen die männlichen Akteure stumm im Zuschauerraum sitzen. Die wenigen wirklich einflussreichen Männer in Child's Pose, etwa der einzige Zeuge des Unfalls, ein offenbar schwer reicher Unternehmer, tätigen ihre Geschäfte im Ausland. Netzer scheint zeigen zu wollen – eine endgültige Wertung behält er sich klugerweise vor –, dass die Zukunft Rumäniens, realistisch betrachtet, in weiblichen Händen liegt.

Aber die Gesellschaft, in der sich diese Entwicklung abspielt, ist noch weit von einem utopischen Ideal entfernt, geniesst doch immer noch Cornelias soziale Klasse die grösste politische Macht. Die rostigen Zahnräder der postsowjetischen Bürokratie werden von der reichen Oberschicht geölt, Geld und Standesdünkel regieren den Alltag. Dass Cornelia, als Vertreterin dieser Klasse, als einnehmende, wenn auch nicht gänzlich sympathische Protagonistin dennoch reüssiert, hat zwei Gründe. Der erste und offensichtlichste ist die nuancenreiche Darstellung Luminița Gheorghius, einer Grande Dame des osteuropäischen Kinos. Der zweite hängt mit Netzers Figurenzeichnung zusammen, welche leider dem nicht immer subtilen Subtext untergeordnet wird. Child's Pose handelt mit teils allzu groben Schablonen: dumpfen, gewalttätigen Arbeitern vom Land, die sich, in stereotype Jogging-Anzüge gekleidet, auf die in Pelzmäntel gehüllten Städterinnen Olga und Cornelia stürzen.

Machtlose Männer: Cornelias Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache) hat einen Teenager überfahren.
© filmcoopi
Obwohl Netzer in Child's Pose ein spannendes Thema aufgreift, ist sein Film somit oft mehr intelligentes Traktat als emotional befriedigende Geschichte. Besonders leidet er im Vergleich mit einem anderen Noul-val-românesc-Werk der jüngeren Vergangenheit, Cristian Mungius Beyond the Hills, der seine kritischen Denkanstösse zur schizophrenen Natur der rumänischen Gesellschaft nach Ceaușescu in ein Bergman'sches Stück über Freundschaft und Glaube einbettete. Das ist grosses Kino. Ganz so weit ist Netzer noch nicht, doch das Potential ist da.

★★★

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