In
kurzen, klaren, sicherlich auch vereinfachten Worten werden in der
englischen Ausgabe der Wikipedia die zentralen Anliegen der "Noul
val românesc" ersichtlich, jener rumänischen Filmbewegung, zu
der junge Künstler wie Cristi Puiu (The
Death of Mr. Lăzărescu,
Aurora)
oder Cristian Mungiu (4
Months, 3 Weeks and 2 Days,
Beyond the Hills)
gezählt werden: "Freiheit und Widerstand unter der
kommunistischen Diktatur" sind essentiell, ebenso die Frage, wie
"die freie kapitalistische Marktwirtschaft und die Demokratie
die rumänische Gesellschaft nach 1989 geprägt haben".
Reduziert
man Călin Peter Netzers dritten Film, Child's
Pose,
Gewinner des Goldenen Bären bei der diesjährigen Berlinale, auf das
Wesentliche, erscheint ein Drama, welches exakt dieser Rezeptur zu
folgen scheint. Netzer geht es um die klaffenden Gräben im
zeitgenössischen Rumänien, zwischen Stadt und Land, zwischen Reich
und Arm, um Korruption, alte Seilschaften und darum, wie sowjetische
Vetternwirtschaft und bürokratische Ränkespiele unter dem Mantel
kapitalistischer Geschäftstüchtigkeit überlebt haben.
Verkörpert
wird die Macht der postsowjetischen Bourgeoisie durch Cornelia
(Luminița Gheorghiu), 60 Jahre alt, geachtete Opern-Bühnenbildnerin
und Besitzerin einer schicken Bukarester Stadtwohnung. Privat ist ihr
aber weniger Erfolg vergönnt: Mit ihrem schweigsamen Mann (Florin
Zamfirescu) unterhält sie eher eine professionelle als eine
romantische Beziehung, während ihr 34-jähriger Sohn Barbu (Bogdan
Dumitrache) sich mit barschen Äusserungen gegen ihre Versuche wehrt,
ein engeres Verhältnis mit ihm zu pflegen. Als Barbu eines Nachts
aber einen Teenager zu Tode fährt, sieht sich Cornelia berufen,
zusammen mit ihrer Freundin Olga (Nataşa Raab) zu verhindern, dass
er ins Gefängnis wandert.
Männer spielen in diesem Rumänien trotz der
patriarchalisch-orthodoxen Tradition ledigliche eine marginale Rolle.
Stumm sitzen sie am Rand einer Einstellung, während die wilde
Handkamera den fast ausschliesslich von Frauen geführten
Auseinandersetzungen folgt. Wie ein Kind bleibt Barbu im Auto sitzen
(auf der Rückbank, versteht sich), als seine Freundin (Ilinca Goia)
zusammen mit Cornelia die Arbeiterklasse-Familie des Unfallopfers
besucht ("Wir sollten ihm etwas Verantwortung abnehmen").
Die Rolle des trauernden Vaters als Familienoberhaupt hat nur noch
eine zeremonielle Funktion, ist bloss Fassade; erst als er, ein
weinendes Häufchen Elend, das Zimmer verlässt, kann Cornelia mit
der Mutter unter der Hand "Geschäftliches" besprechen.
Tränenreich wird um finanzielle Hilfe als Gegenleistung für den
Verzicht auf juristische Schritte gefeilscht. Ob Cornelias Tränen
echt sind, vor allem in diesem Ausmass, wird nicht vollständig
aufgelöst, im Hinblick auf den Rest des Films wirken auch sie eher
als Teil ihrer Verhandlungsstrategie.
Bukarester Bourgeoisie: Bühnenbildnerin und Quasi-Geschäftsfrau Cornelia (Luminița Gheorghiu). © filmcoopi |
Selbst
in der nur kurz skizzierten Gegenwelt der Bukarester Oper haben die
Frauen das Sagen: Eine Choreografin befiehlt während der Probe über
ihre Darsteller, Cornelia bestimmt, wie das Bühnenbild auszusehen
hat, wohingegen die männlichen Akteure stumm im Zuschauerraum
sitzen. Die wenigen wirklich einflussreichen Männer in Child's
Pose,
etwa der einzige Zeuge des Unfalls, ein offenbar schwer reicher
Unternehmer, tätigen ihre Geschäfte im Ausland. Netzer scheint
zeigen zu wollen – eine endgültige Wertung behält er sich
klugerweise vor –, dass die Zukunft Rumäniens, realistisch
betrachtet, in weiblichen Händen liegt.
Aber
die Gesellschaft, in der sich diese Entwicklung abspielt, ist noch
weit von einem utopischen Ideal entfernt, geniesst doch immer noch
Cornelias soziale Klasse die grösste politische Macht. Die rostigen
Zahnräder der postsowjetischen Bürokratie werden von der reichen
Oberschicht geölt, Geld und Standesdünkel regieren den Alltag. Dass
Cornelia, als Vertreterin dieser Klasse, als einnehmende, wenn auch
nicht gänzlich sympathische Protagonistin dennoch reüssiert, hat
zwei Gründe. Der erste und offensichtlichste ist die nuancenreiche
Darstellung Luminița Gheorghius, einer Grande Dame des
osteuropäischen Kinos. Der zweite hängt mit Netzers
Figurenzeichnung zusammen, welche leider dem nicht immer subtilen
Subtext untergeordnet wird. Child's
Pose handelt
mit teils allzu groben Schablonen: dumpfen, gewalttätigen Arbeitern
vom Land, die sich, in stereotype Jogging-Anzüge gekleidet, auf die
in Pelzmäntel gehüllten Städterinnen Olga und Cornelia stürzen.
Machtlose Männer: Cornelias Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache) hat einen Teenager überfahren. © filmcoopi |
Obwohl
Netzer in Child's
Pose
ein spannendes Thema aufgreift, ist sein Film somit oft mehr
intelligentes Traktat als emotional befriedigende Geschichte.
Besonders leidet er im Vergleich mit einem anderen
Noul-val-românesc-Werk der jüngeren Vergangenheit, Cristian Mungius
Beyond the Hills,
der seine kritischen Denkanstösse zur schizophrenen Natur der
rumänischen Gesellschaft nach Ceaușescu in ein Bergman'sches Stück
über Freundschaft und Glaube einbettete. Das ist grosses Kino. Ganz
so weit ist Netzer noch nicht, doch das Potential ist da.
★★★
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