Die Kultur seines Landes mag durch Instabilität gelähmt werden, doch trotzdem ist es dem Afghanen Atiq Rahimi gelungen, seinen Roman Syngué sabour, pierre de patience, zu verfilmen. 30 Minuten lang gehört The Patience Stone gar zu den besten Filmen des Jahres – dann setzt der Plot ein.
Eine junge Frau (Golshifteh Farahani) tritt aus einem Keller in einen
eingefriedeten Garten. Gerade hat sie sich mit einigen Bekannten vor
den Gewehr- und Panzerschüssen versteckt; in ihrer anonymen
afghanischen Heimatstadt herrscht Krieg zwischen weitgehend
unbekannten Milizen. Die Ruhe nach dem Kampf durchbricht ein Murmeln:
Die Frau tritt durch ein Loch in einer Mauer und findet ihre alte
Nachbarin vor, wie sie in einer Art Trance sagt: "Der König hat
ihren Kopf gestreichelt". Die junge Afghanin dreht sich um und ihr
entfährt ein durchdringender Schrei: In einem Baum hängen zwei
erschossene Männer, daneben liegt eine Frau, aus deren Hals ein
Blutstrom fliesst. Es ist die eindringlichste Szene in The
Patience Stone, ein archaisches, ebenso prägnantes wie
erschütterndes Bild vom Grauen des Krieges, der Afghanistan nun
schon bald zwei Jahrzehnte heimsucht.
Die erste halbe Stunde von Atiq Rahimis Film enthält viele solch
eindrückliche Bilder, poetische, fast gemäldeartige Tableaux im
Breitwandformat, eingefangen von Thierry Arbogast (Léon, L'Appartement, Black Cat, White Cat). Zusammen mit den
sphärischen Klängen von Max Richters Soundtrack und Rahimis
hautnaher Inszenierung erzeugen sie eine ungemein effektive
beklemmende Stimmung, in der die (anfänglich) gesichtslose Bedrohung
beinahe greifbar wird. The Patience Stone ist zunächst
radikales, visionäres Arthouse-Kino, welches sich bewusst auf den
europäischen Kunstfilm der frühen Sechzigerjahre bezieht: Panzer
rollen durch die Strassen wie einst in Ingmar Bergmans The
Silence, die Einsamkeit und die Entfremdung von Golshifteh
Farahanis namenloser Protagonistin evozieren neben den literarischen
Werken von Brecht und Beckett auch die Filme Michaelangelo
Antonionis. Über allem liegt das Gefühl der Ohnmacht, Flucht ist,
wie in Luis Buñuels El ángel exterminador, unmöglich.
Während ihr Ehemann (Hamidreza Javdan) im Koma liegt, schüttet ihm
die namenlose Hauptfigur (Golshifteh Farahani) ihr Herz aus.
© filmcoopi
|
Für das Drehbuch von The Patience Stone zeichnen zwei
Personen: Regisseur Rahimi und Jean-Claude Carrière. Letzterer ist
nicht zuletzt dank seiner Beiträge zum Spätwerk Buñuels in die
Annalen des Kinos eingegangen: Sechsmal hat er mit dem Spanier
kollaboriert; dabei entstanden Meisterwerke wie Belle de Jour, Le charme discret de la bourgeoisie oder Le fantôme de la
liberté. Sie alle zeichnen sich durch dramaturgische
Geschlossenheit, eine innere Harmonie aus. So ist es verlockend, den
Grund für die qualitative Bruchlandung von Rahimis Film bei den
ungleichen Autoren zu suchen. Denn mit dem Ende des durchaus
surrealistisch angehauchten ersten Drittels verschwindet auch die
Wucht von The Patience Stone und der Film verheddert sich in
der vom Quellenmaterial diktierten Geschichte.
Es folgen nach wie vor herausragend fotografierte, aber überwiegend
langatmige 70 Minuten, in denen Farahanis Figur ihre Zeit alleine an
der Seite ihres komatösen Ehemannes (Hamidreza Javdan) verbringt,
ihm ihr Herz ausschüttet und gleichzeitig die Aufmerksamkeit eines
schüchternen Soldaten weckt. Gewalt und Tod weichen gemeinsam mit
dem gnadenlosen, mitunter schockierenden Surrealismus Farahanis
beinahe beschaulicher Selbsttherapie – fast scheint es, als hätte
sich Carrières Kontrolle über das Geschehen auf die Exposition
beschränkt. Aus furioser Arthouse-Kunst wird konventionelles
Konsens-Weltkino. Schade.
★★
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen