Donnerstag, 11. Juli 2013

The Patience Stone

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Die Kultur seines Landes mag durch Instabilität gelähmt werden, doch trotzdem ist es dem Afghanen Atiq Rahimi gelungen, seinen Roman Syngué sabour, pierre de patience, zu verfilmen. 30 Minuten lang gehört The Patience Stone gar zu den besten Filmen des Jahres – dann setzt der Plot ein.

Eine junge Frau (Golshifteh Farahani) tritt aus einem Keller in einen eingefriedeten Garten. Gerade hat sie sich mit einigen Bekannten vor den Gewehr- und Panzerschüssen versteckt; in ihrer anonymen afghanischen Heimatstadt herrscht Krieg zwischen weitgehend unbekannten Milizen. Die Ruhe nach dem Kampf durchbricht ein Murmeln: Die Frau tritt durch ein Loch in einer Mauer und findet ihre alte Nachbarin vor, wie sie in einer Art Trance sagt: "Der König hat ihren Kopf gestreichelt". Die junge Afghanin dreht sich um und ihr entfährt ein durchdringender Schrei: In einem Baum hängen zwei erschossene Männer, daneben liegt eine Frau, aus deren Hals ein Blutstrom fliesst. Es ist die eindringlichste Szene in The Patience Stone, ein archaisches, ebenso prägnantes wie erschütterndes Bild vom Grauen des Krieges, der Afghanistan nun schon bald zwei Jahrzehnte heimsucht.

Die erste halbe Stunde von Atiq Rahimis Film enthält viele solch eindrückliche Bilder, poetische, fast gemäldeartige Tableaux im Breitwandformat, eingefangen von Thierry Arbogast (Léon, L'Appartement, Black Cat, White Cat). Zusammen mit den sphärischen Klängen von Max Richters Soundtrack und Rahimis hautnaher Inszenierung erzeugen sie eine ungemein effektive beklemmende Stimmung, in der die (anfänglich) gesichtslose Bedrohung beinahe greifbar wird. The Patience Stone ist zunächst radikales, visionäres Arthouse-Kino, welches sich bewusst auf den europäischen Kunstfilm der frühen Sechzigerjahre bezieht: Panzer rollen durch die Strassen wie einst in Ingmar Bergmans The Silence, die Einsamkeit und die Entfremdung von Golshifteh Farahanis namenloser Protagonistin evozieren neben den literarischen Werken von Brecht und Beckett auch die Filme Michaelangelo Antonionis. Über allem liegt das Gefühl der Ohnmacht, Flucht ist, wie in Luis Buñuels El ángel exterminador, unmöglich.

Während ihr Ehemann (Hamidreza Javdan) im Koma liegt, schüttet ihm die namenlose Hauptfigur (Golshifteh Farahani) ihr Herz aus.
© filmcoopi
Für das Drehbuch von The Patience Stone zeichnen zwei Personen: Regisseur Rahimi und Jean-Claude Carrière. Letzterer ist nicht zuletzt dank seiner Beiträge zum Spätwerk Buñuels in die Annalen des Kinos eingegangen: Sechsmal hat er mit dem Spanier kollaboriert; dabei entstanden Meisterwerke wie Belle de Jour, Le charme discret de la bourgeoisie oder Le fantôme de la liberté. Sie alle zeichnen sich durch dramaturgische Geschlossenheit, eine innere Harmonie aus. So ist es verlockend, den Grund für die qualitative Bruchlandung von Rahimis Film bei den ungleichen Autoren zu suchen. Denn mit dem Ende des durchaus surrealistisch angehauchten ersten Drittels verschwindet auch die Wucht von The Patience Stone und der Film verheddert sich in der vom Quellenmaterial diktierten Geschichte.

Es folgen nach wie vor herausragend fotografierte, aber überwiegend langatmige 70 Minuten, in denen Farahanis Figur ihre Zeit alleine an der Seite ihres komatösen Ehemannes (Hamidreza Javdan) verbringt, ihm ihr Herz ausschüttet und gleichzeitig die Aufmerksamkeit eines schüchternen Soldaten weckt. Gewalt und Tod weichen gemeinsam mit dem gnadenlosen, mitunter schockierenden Surrealismus Farahanis beinahe beschaulicher Selbsttherapie – fast scheint es, als hätte sich Carrières Kontrolle über das Geschehen auf die Exposition beschränkt. Aus furioser Arthouse-Kunst wird konventionelles Konsens-Weltkino. Schade.

★★

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