Sonntag, 18. August 2013

Rebelle

Kim Nguyens mit zehn kanadischen Screen Awards ausgezeichnetes Drama Rebelle ist ein Film in der Schwebe: zwischen abgründigem Realismus und märchenhafter Entrücktheit, zwischen drastischer Gewalt im Cinéma-vérité-Stil und kunstvollen, einfacher zu vermarktenden visuellen Euphemismen, zwischen kultureller Spezifität und skizzenhafter Vagheit.

Nguyens Titel gebende Hauptfigur ist Komona (die hervorragende Rachel Mwanza), die im Alter von zwölf Jahren von Rebellen entführt und zur Soldatin ausgebildet wird. Mittels hallzuinogener "magischer Milch" ist sie in der Lage, Geister zu sehen, was ihr schon bald den Ruf einbringt eine Hexe zu sein – sehr zum Gefallen des Rebellenführers (Mizinga Mwinga).

Dieser Teil der Handlung allein, welcher nur knapp die Hälfte des gesamten Filmes ausmacht, ist voller Ambiguität, welche mitunter Abbas Kiarostamis Kino der ewigen Unsicherheiten in Erinnerung ruft. Nguyen zeigt Mut, indem er Komonas Alltag als Kindersoldatin nicht partout als Hölle auf Erden inszeniert. Deserteure werden zwar erschossen, Jungen und Mädchen, viele kaum grösser als die Kalaschnikows, die sie tragen, als Zwangsarbeiter ausgebeutet; Fussballspiele und Geschichten am Lagerfeuer genügen nicht als Entschädigung. Doch auch Komonas nur kurz beleuchtetes Familienleben in baufälligen Barracken an einem mit Plastikmüll verschmutzten Flusslauf ist keine Utopie. Vielmehr stellt Nguyen ihr Leben in einen grösseren Zusammenhang; er erzählt von der Ausweg- und Perspektivlosigkeit im bürgerkriegsversehrten Afrika. So wird denn auch nicht abschliessend geklärt, wo Rebelle spielt. Gedreht wurde in der Demokratischen Republik Kongo, doch der Schauplatz steht in seiner Anonymität stellvertretend für so viele subsaharische Staaten, in denen Kinder für militärische Zwecke instrumentalisiert werden – Sierra Leone, Burundi, Uganda.

Dem gegenüber steht ein heitereres Intermezzo, in dem Komona mit dem etwas älteren Albino-Soldaten "Magicien" (Serge Kanyinda) die Flucht ergreift und Schutz bei dessen Onkel (Ralph Prosper) sucht, wobei auch hier gewichtige und heikle Fragen aufgeworfen werden. Gründet die aufblühende Liebe zwischen den beiden traumatisierten Jugendlichen darauf, dass Komona nach Monaten unter Magiciens Aufsicht dem Stockholm-Syndrom erlegen ist? Und wie glücklich kann man mit einer derartigen Vergangenheit im Leben überhaupt werden? Auch in jenen humoristisch angehauchten Episoden – etwa Magiciens Jagd nach einem weissen Hahn, den Komona als Preis für ihr Jawort verlangt – ist die düstere Realität nicht fern: Hausfrauen verteidigen Hab und Gut mit Sturmgewehren; ein in den Boden eingegrabener Autoreifen dient als subtiles Mahnmal an die Erzählung vom ungehorsamen Rebellen-Soldat, der einst dasselbe Schicksal erlitten haben soll.

Das vorübergehende Idyll: Komona (Rachel Mwanza) und Magicien (Serge Kanyinda) sind aus einem Kindersoldaten-Lager geflohen.
© Agora Films
Es ist ein tristes Bild, welches Nguyen vom modernen Afrika malt – natürlich hat die idyllische Zweisamkeit von Komona und Magicien nicht lange Bestand –, doch eines, welches weit über die Darstellung von Kriegsschrecken hinaus geht. Auch hier erweist sich Rebelle als ein Film der variablen Bezugspunkte. Wie Youssouf Djaoro in Mahamat Saleh-Harouns Un homme qui crie symbolisiert Komona die Pein vieler von Krieg und Armut geschundener afrikanischer Völker, doch durch ihre Geschichte erhält man auch Einblick in die komplexe Identität der multikulturell und -religiös geprägten Region zwischen Sahara und Kalahari.

In Rebelle treffen Stammestraditionen auf christliche Dogmen, abrahamitisch geprägten Aberglauben und politische Führerkulte. Für seine Rebellen ist Mizinga Mwingas Anführer eine mythische Figur mit dem verklärenden Titel "Grosser Tiger", ein Schamane weiht in Trance die Gewehre der Kindersoldaten, während Komona sich in ihrem Voiceover oft an einen frustrierend gleichgültig scheinenden Gott wendet und als angebliche Hexe bald verehrt, bald verteufelt wird. (Nguyens kreatives Meisterstück ist in diesem Zusammenhang die äusserst wirkungsvolle archaische Gestaltung von Komonas Geistervisionen – stumme, weiss bemalte Menschen mit leeren Augen, Figuren, die aus Souleymane Cissés Yeelen stammen könnten.) Doch trotz der Faszination, welche diese Vision einer afrikanischen "Pidgin-Religion" ausübt, stösst hier die Diskrepanz zwischen vager Andeutung und spezifischer Anspielung an ihre Grenzen. Es fällt schwer, ihr Glauben zu schenken, wenn sie nicht in einem zumindest grob definierten Kulturkreis angesiedelt ist.

Dennoch ist Nguyen mit seinem erst dritten Langspielfilm ein bemerkenswertes Werk voller spannender Implikationen gelungen, deren stimmiges oder – wenn man ein derartiges Projekt in den Händen eines Vietnam-Kanadiers so zu deuten beliebt – herablassendes Fazit eine Version des afrikanischen Sprichworts ist, dass eine Reise in der Gruppe am weitesten führt. Frieden herrscht in Rebelle, von der Albino-Parallelgesellschaft bis zu in Armut vereinten Anhaltern, nur in der Gemeinschaft.

★★★★

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