Donnerstag, 26. September 2013

Ernest et Célestine

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Unter der Federführung Hollywoods hat sich inzwischen der rasante, chaotische, in seinen pädagogischen Absichten plumpe Kinderfilm als Norm etabliert. Einen erfrischenden Gegenentwurf bietet nun die ebenso gehaltvolle wie subtile französisch-belgische Koproduktion Ernest et Célestine.

Zwischen 1981 und ihrem Tod im Jahr 2000 veröffentlichte die Brüsseler Autorin und Illustratorin Monique Martin unter dem Pseudonym Gabrielle Vincent 27 Bilderbuch-Erzählungen mit Ernest dem Bären und Célestine der Maus als Hauptfiguren. Die beiden leben in einer klar strukturierten Welt: Während an der Erdoberfläche Bären aller Art ihren Geschäften nachgehen, verbringen die Mäuse ihr Leben in der Kanalisation. Oben will man von den kleinen Plagegeistern nichts wissen, während sich unten männiglich vor den gefrässigen Bären fürchtet.

Einzig die jungen Zahnarzt-Praktikanten unter den Nagern begeben sich regelmässig hinauf, um die ausgefallenen Milchzähne der Bärenkinder einzusammeln (in Frankreich entspricht "la petite souris" unserer Zahnfee), welche danach zu Ersatzzähnen verarbeitet werden. Unter diesen Lehrlingen befindet sich auch die neugierige Célestine (Originalstimme: Pauline Brunner – grossartig!). Als diese eines Nachts auf den verarmten Bären Ernest (Lambert Wilson – grossartig!) trifft, ergreift sie nicht die Flucht, sondern hilft ihm dabei, seinen Hunger zu stillen. Bald schon werden die beiden zu Freunden – sehr zum Missfallen ihrer jeweiligen Artgenossen.

Ernest et Célestine ist, kurz gefasst, ein wunderbarer Film, ein Meisterstück des echten und wahrhaftigen Kinderkinos. Mit bewundernswerter Eleganz erzählen Stéphane Aubier, Vincent Patar und Benjamin Renner eine berührende, oft auch humorvolle Geschichte, welche ihrem jungen Publikum den gebührenden Respekt entgegenbringt. Niemals fühlt sich der Film verpflichtet, dem Zuschauer etwas vorzubuchstabieren; vielmehr wird ihm zugetraut, ohne helfenden Erzähler die Mechanismen von Martins Welt zu durchschauen. Lacher werden nicht mit banalen Mitteln erzeugt (wie aktuell in Despicable Me 2), sondern ergeben sich organisch aus der Erzählung.

Ernest der Bär (Originalstimme: Lambert Wilson) und Célestine die Maus (Pauline Brunner) leben abseits ihrer Artgenossen, die ihre Freundschaft nicht akzeptieren.
© Ascot Elite
Einen ähnlichen Grad an Sorgfalt lässt das Regie-Trio auf der pädagogischen Ebene walten. Die wertvolle Moral von Ernest et Célestine wird nicht, wie man es aus Streifen wie The Lorax oder Planes kennt, mittels einer leidenschaftlichen Rede im letzten Akt vermittelt, sondern entspringt direkt aus der Erzählung. An Toleranz und Verständnis wird hier appelliert, an das Ideal, Unterschiede zu feiern statt sich vor ihnen zu fürchten. Aubier, Patar und Renner beleuchten selbst komplexere Sachverhalte wie die Segregations-Mentalität von Bären und Mäusen: Blindes Traditionsbewusstsein ("So war es schon immer") wird als Wurzel der Engstirnigkeit ausgemacht, unter der Ernest und Célestine einzeln wie auch gemeinsam leiden. Als Gegenmassnahme propagiert wird kritisches, unabhängiges Denken.

Doch ganz im Sinne seines reduzierten Zeichenstils – welcher, je nach Stimmung, an Mike van Audenhoves Zürich by Mike-Cartoons respektive Art Spiegelmans Graphic Novel Maus erinnert – und seiner simplen Dramaturgie schiesst der Film diesbezüglich nie über das Ziel hinaus. Der Subtext ist erkennbar, aber vage genug, um universell zu wirken und gleichzeitig die Figurenzeichnung nicht zu überstrahlen. Denn die Seele von Ernest et Célestine ist seine zentrale Freundschaft, vorgetragen mit dem Mut zu Stille und Emotionalität.

★★★★★

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