Unter der Federführung Hollywoods hat sich inzwischen der rasante, chaotische, in seinen pädagogischen Absichten plumpe Kinderfilm als Norm etabliert. Einen erfrischenden Gegenentwurf bietet nun die ebenso gehaltvolle wie subtile französisch-belgische Koproduktion Ernest et Célestine.
Zwischen 1981 und ihrem Tod im Jahr 2000 veröffentlichte die
Brüsseler Autorin und Illustratorin Monique Martin unter dem
Pseudonym Gabrielle Vincent 27 Bilderbuch-Erzählungen mit Ernest dem
Bären und Célestine der Maus als Hauptfiguren. Die beiden leben in
einer klar strukturierten Welt: Während an der Erdoberfläche Bären
aller Art ihren Geschäften nachgehen, verbringen die Mäuse ihr
Leben in der Kanalisation. Oben will man von den kleinen
Plagegeistern nichts wissen, während sich unten männiglich vor den
gefrässigen Bären fürchtet.
Einzig die jungen Zahnarzt-Praktikanten unter den Nagern begeben sich
regelmässig hinauf, um die ausgefallenen Milchzähne der Bärenkinder
einzusammeln (in Frankreich entspricht "la petite souris" unserer
Zahnfee), welche danach zu Ersatzzähnen verarbeitet werden. Unter
diesen Lehrlingen befindet sich auch die neugierige Célestine
(Originalstimme: Pauline Brunner – grossartig!). Als diese eines
Nachts auf den verarmten Bären Ernest (Lambert Wilson –
grossartig!) trifft, ergreift sie nicht die Flucht, sondern hilft ihm
dabei, seinen Hunger zu stillen. Bald schon werden die beiden zu
Freunden – sehr zum Missfallen ihrer jeweiligen Artgenossen.
Ernest
et Célestine ist, kurz gefasst, ein wunderbarer Film, ein
Meisterstück des echten und wahrhaftigen Kinderkinos. Mit
bewundernswerter Eleganz erzählen Stéphane Aubier, Vincent Patar
und Benjamin Renner eine berührende, oft auch humorvolle Geschichte,
welche ihrem jungen Publikum den gebührenden Respekt entgegenbringt.
Niemals fühlt sich der Film verpflichtet, dem Zuschauer etwas
vorzubuchstabieren; vielmehr wird ihm zugetraut, ohne helfenden
Erzähler die Mechanismen von Martins Welt zu durchschauen. Lacher
werden nicht mit banalen Mitteln erzeugt (wie aktuell in Despicable
Me 2), sondern ergeben sich organisch aus der Erzählung.
Ernest der Bär (Originalstimme: Lambert Wilson) und Célestine die
Maus (Pauline Brunner) leben abseits ihrer Artgenossen, die ihre
Freundschaft nicht akzeptieren.
© Ascot Elite
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Einen ähnlichen Grad an Sorgfalt lässt das Regie-Trio auf der
pädagogischen Ebene walten. Die wertvolle Moral von Ernest et
Célestine wird nicht, wie man es aus Streifen wie The Lorax oder Planes kennt, mittels einer leidenschaftlichen Rede im
letzten Akt vermittelt, sondern entspringt direkt aus der Erzählung.
An Toleranz und Verständnis wird hier appelliert, an das Ideal,
Unterschiede zu feiern statt sich vor ihnen zu fürchten. Aubier,
Patar und Renner beleuchten selbst komplexere Sachverhalte wie die
Segregations-Mentalität von Bären und Mäusen: Blindes
Traditionsbewusstsein ("So war es schon immer") wird als Wurzel
der Engstirnigkeit ausgemacht, unter der Ernest und Célestine
einzeln wie auch gemeinsam leiden. Als Gegenmassnahme propagiert wird
kritisches, unabhängiges Denken.
Doch ganz im Sinne seines reduzierten Zeichenstils – welcher, je
nach Stimmung, an Mike van Audenhoves Zürich by Mike-Cartoons
respektive Art Spiegelmans Graphic Novel Maus erinnert – und
seiner simplen Dramaturgie schiesst der Film diesbezüglich nie über
das Ziel hinaus. Der Subtext ist erkennbar, aber vage genug, um
universell zu wirken und gleichzeitig die Figurenzeichnung nicht zu
überstrahlen. Denn die Seele von Ernest et Célestine ist
seine zentrale Freundschaft, vorgetragen mit dem Mut zu Stille und
Emotionalität.
★★★★★
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