Montag, 31. August 2015

Anime nere

Begibt man sich in Francesco Munzis mehrfach preisgekröntes Drama Anime nere im Wissen, dass es von der süditalienischen Mafia handelt, dann bleiben inhaltliche Überraschungen grösstenteils aus. Der Film bietet exakt das, was man von dieser Affiche – dank eines reichen Kanons thematisch ähnlicher Produktionen aus Cinecittà und Hollywood – inzwischen erwartet: von der Kriminalität zerrüttete Familien, Generationenkonflikte, Verhandlungen in abgedunkelten Hinterzimmern, emotional aufgeladene Szenen bei Tisch, katholische Symbole, fatales Aufblitzen von Gewalt.

Kombiniert mit den nebulösen Verhältnissen, die in Anime nere zwischen rivalisierenden Armen des kalabrischen 'Ndrangheta-Syndikats herrschen, bedeutet dies, dass Munzis Film trotz seiner strukturellen und erzählerischen Anleihen bei der griechischen Tragödie keine so tiefen Spuren hinterlässt, wie er es angesichts seiner stilsicheren Inszenierung und seiner offenbar faktenbasierten Handlung vielleicht verdient hätte.

Das Ganze kreist um ein ungleiches Brüderpaar aus Kalabrien. Während Luigi (ein charismatischer Marco Leonardi) und Rocco (Peppino Mazzotta) in den Metropolen Europas am Drogenhandel beteiligt sind und Schwarzarbeiter finanzieren, lebt Luciano (Fabrizio Ferracane), der älteste, in seinem Heimatdorf ein zurückgezogenes Leben als Ziegenhirte. (Während einer etwas gesuchten Gegenüberstellung schlachtet Luigi zunächst eine Ziege, bevor Luciano sich um eines seiner kranken Tiere kümmert.) Mit diesem Lebensstil, motiviert durch die Ermordung von Luigis, Roccos und Lucianos Vater durch einen feindlichen Clan, kann sich Lucianos Sohn Leo (Giuseppe Fumo) jedoch nicht anfreunden. Zu fasziniert ist er von seinen mafiösen Onkeln, denen er um jeden Preis nachzueifern versucht – was allerdings zu einem Problem führt, als Leo die Scheibe eines Wirtes einschlägt, der unter dem Schutz eines lokalen Mafia-Sippenführers steht.

Obwohl der Film durch seine zahlreichen – oft abrupt und kontextfrei eingeführten – Figuren zumindest eine Art Überraschungselement erhält, ist es nicht primär die wohlbekannte Geschichte, die Anime nere zu einem letztlich lohnenswerten Erlebnis machen. Vielmehr zeichnet sich Munzis Drama durch seine atmosphärische Dichte, seine ästhetische Vision und seine unterschwellige Interpretation der Mafia als ungewolltes, aber unbestreitbares kulturelles und soziales Erbe Italiens aus.

Luciano (Fabrizio Ferracane, rechts) ist die Faszination seines Sohnes Leo (Giuseppe Fumo, links) mit dem organisierten Verbrechen ein Dorn im Auge.
© Xenix Filmdistribution
Munzi evoziert hier mit Hilfe von Komponist Giuliano Taviani und Kameramann Vladan Radovic eine düstere Stimmung, in der sämtliche Schauplätze von bedrückenden Grautönen beherrscht werden, wo der Himmel selbst an der Mittelmeerküste wolkenverhangen ist und die Protagonisten ihre Geschäfte in gefütterten Windjacken und wallenden Mänteln abwickeln. Es scheint ein permanenter Schatten über Anime nere zu liegen, der Schatten von Kriminalität und traditioneller Hierarchie. Der gläubige Katholik Luciano ist kein freier Mensch, weil er sich aus den Angelegenheiten seiner Brüder herauszuhalten versucht; wie alle anderen Dorfbewohner, einschliesslich der ansässigen Geistlichkeit, steht auch er unter dem Patronat der 'Ndrangheta; tanzen er oder Leo aus der Reihe, dient ihm auch seine Unparteilichkeit nicht mehr zum Schutz.

So erinnern nicht nur die Landschaft, das kalabrische Brauchtum und – nicht zuletzt – die allgegenwärtigen Ziegen an Michelangelo Frammartinos cineastische Seelenwanderung Le quattro volte. Auch Anime nere ist auf seine eigene, direktere, realitätsverbundenere Weise eine Meditation über die Natur des Lebens. Die Macht der Mafia ist nicht ein bösartiger Auswuchs am Körper des italienischen Staates; sie ist ein integraler Teil davon - oder ist über die Jahrzehnte zumindest zu einem geworden. Während in Lucianos Heimat ganze Bergdörfer verfallen und dem Ruin überlassen werden, ölen Luigi und Rocco in Mailand das Baugewerbe. Die beeindruckenden Wolkenkratzer der lombardischen Grossstadt, die Wahrzeichen der angestrebten wirtschaftlichen Renaissance Italiens, welche im ersten Akt immer wieder im Hintergrund zu sehen sind, würden, so jedenfalls die Implikation, nicht ohne mafiöses Plazet stehen. Eine gewalttätige Herausforderung des Status quo, wie sie am Ende des Films stattfindet, ändert den Lauf der Dinge, wenn überhaupt, nur geringfügig.

Mit Hilfe seines Onkels Luigi (Marco Leonardi, vorne) erhält Leo Einblick in die Welt der Mafia.
© Xenix Filmdistribution
Insofern lässt sich eine feine Ähnlichkeit zwischen dem fünffachen David-di-Donatello-Gewinner Anime nere und dem zehnfachen Goya-Gewinner La isla mínima, in dem Regisseur Alberto Rodríguez das franquistisch durchsetzte Fundament des modernen Spanien thematisiert, feststellen: Beide orten ohne demonstrative Wertung unbequeme soziopolitische Phänomene als staatstragende Akteure. Munzis Film verfügt zwar nicht über den Unterhaltungsmehrwert von Rodríguez' Thriller, doch es ist lobenswert, was er in einem vergleichsweise bescheidenen erzählerischen Rahmen unter der Oberfläche herauszuarbeiten vermag.

★★★★

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