Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.
Anfängerfehler lassen sich die Österreicher Veronika Franz – langjährige Drehbuch-Partnerin von Ulrich Seidl, der hier mitproduzierte – und Severin Fiala in ihrem Langspielfilmdebüt nicht zu Schulden kommen. Ich seh ich seh ist ein gekonnt inszenierter psychologischer Auteur-Horrorfilm.
Michael Haneke, gemeinsam mit Seidl (Hundstage, Import/Export, Paradies-Trilogie) wohl der wichtigste österreichische Regisseur der Gegenwart, sagte einmal über seine intensiven, nicht selten schonungslos drastischen Filme, dass sie sich bewusst gegen die Tabus des Mainstream-Kinos auflehnten. Kinder, alte Leute und Tiere seien, so Haneke, im gängigen Filmschaffen unantastbar; ihnen etwas zustossen zu lassen oder sie in die Rolle des moralisch korrumpierten Antagonisten zu versetzen, käme einem Sakrileg gleich. Veranschaulicht hat er diese Philosophie, dieses kalkulierte Brechen mit den ungeschriebenen Regeln des mehrheitsfähigen Erzählkinos, während seiner Karriere mit schöner Regelmässigkeit: in Benny's Video (1992), in Funny Games (1997 und 2007), in Das weisse Band (2009), ja sogar in seinem "zärtlichsten" Film, dem oscarprämierten Amour (2012).
Dass sich auch Franz und Fiala in dieser Tradition des Tabubruchs und der Subversion bürgerlicher Werte – ein Thema, welches sowohl Haneke als auch Seidl immer wieder beschäftigt – bewegen, lässt sich schon zu Beginn ihres kunstfertigen Horrordramas erahnen. Eingeleitet wird die Geschichte der Zwillinge Elias (Elias Schwarz) und Lukas (Lukas Schwarz) und ihrer allein erziehenden, ihnen nach einer plastischen Operation fremd gewordenen Mutter (Susanne Wuest) nämlich durch einen Griff in die deutschsprachige Filmgeschichte: Es singt die Trapp-Familie aus Wolfgang Liebeneiners gleichnamigem Heimatfilm-Klassiker von 1956 das Wiegenlied "Guten Abend, gut' Nacht". Mit ausdruckslosen Engelsgesichtern intonieren die Kinder den zweideutigen Text ("Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt") mit soldatischem Gehorsam; seinem originalen Kontext entrissen, wirkt das Idyll trügerisch, der familiäre Chorkreis nachgerade unheimlich.
Was diesen herausragend fotografierten und ausgezeichnet vertonten Film letzten Endes vom Vorwurf der ambitionierten Stilübung befreit, sind seine enorme Suggestivkraft sowie sein Mut, gewisse Fragen offen, gewisse Einstellungen unkommentiert zu lassen. Gerade die Entdeckungen, welche Lukas und Elias im österreichisch-tschechischen Grenzland machen, deuten auf unzählige düstere Geschichten hin, welche über den filmischen Rahmen hinausgehen. Das nahe gelegene Dorf ist eine veritable Geisterstadt; die scheinbare geistige Behinderung des Sigrists der Ortskirche lässt an die verbreiteten Inzest-Gerüchte über ländliche Gebiete denken. Im Wald wiederum, an den die abgeschiedene Villa ihrer Mutter angrenzt, erforschen die Zwillinge einen alten Tunnel, womöglich einen Weltkriegsbunker, ohne dass die Kamera ihnen ins pechschwarze – psychologisch höchst bedeutsame – Dunkel folgt; derweil sie anderswo auf eine nicht als Beinhaus erkennbare Grube voller Schädel und Knochen stossen. Die Spuren der Bestie Mensch sind überall.
★★★★★
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