Donnerstag, 1. Oktober 2015

El botón de nácar

In seinem neuesten Projekt schliesst der chilenische Dokumentarist Patricio Guzmán nahtlos an seine zahlreichen Filme an, die er über sein Land und dessen Vergangenheit unter Diktator Augusto Pinochet gemacht hat (La batalla de Chile, Le cas Pinochet, Salvador Allende, Nostalgia de la luz). Auch El botón de nácar – übersetzt "Perlmutterknopf" – ist ein assoziatives Filmessay, in dem Guzmán in der Rolle des Erzählers gedankliche Brücken zwischen den Elementen, Südamerikas präkonquistadorischer Geschichte, der unvorstellbaren Weite des Universums und Pinochets Schreckensherrschaft schlägt.

Als Aussgangspunkt dient ihm dazu ein 3000 Jahre alter Quarzblock, der in der lebensfeindlichen Atacama-Einöde in Nordchile gefunden wurde. Darin gefangen ist ein einzelner Wassertropfen, der stellvertretend steht für die Grundlage fast allen Lebens auf der Erde – wie auch für den Pazifik, die längste Grenze Chiles, zu dem das Land über die Jahrzehnte nur bedingt einen emotionalen, identitätsbildenden Bezug aufgebaut hat.

Anders die Ureinwohner Feuerlands: Jahrhundertelang lebten sie als Wassernomaden im eisigen Archipel im Süden Patagoniens; ihr Lebensinhalt waren ihre Kanus und die Feuer, welche in ihnen brannten und welche dem "Tierra del Fuego" seinen Namen gaben. Doch 1830 tauschte der humanistisch gesinnte Captain FitzRoy der britischen HMS Beagle – das Schiff, welches wenige Jahre später Charles Darwin zu den Galápagosinseln bringen sollte – einen Perlmutterknopf gegen einen indigenen Jungen und brachte ihn nach England, wo der "wilde Gentleman" unter dem Namen Jemmy Button Berühmtheit erlangte. Damit begann, so Guzmán, die gezielte Ausrottung und gesellschaftliche Marginalisierung der patagonischen Ureinwohner, deren Anzahl seit der Ankunft europäischer Glücksritter im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf heute nur noch einige Dutzend geschrumpft ist.

In seinem neuen Film thematisiert Patricio Guzmán unter anderem das tragische Schicksal der Ureinwohner Südpatagoniens.
© Atacama Productions
Die Auseinandersetzung mit dieser "unsichtbaren" Bevölkerung Chiles führt Guzmán wiederum zum Pinochet-Regime, dessen Schergen politische Gefangene in dieselben feuerländischen Konzentrationslager verfrachtete, in denen knapp 100 Jahre zuvor die indigene Kultur systematisch ausgemerzt worden war. Auch hier spielt das Wasser eine Rolle: Exekutierte Staatsfeinde wurden aus Hubschraubern in den Pazifik geworfen; von ihrer Existenz zeugen inzwischen nur noch die Gleisträger, mit denen die Leichen beschwert wurden und an denen bisweilen noch kleine Überbleibsel der buchstäblichen "Verschwundenen" zu finden sind – wie in einem Fall etwa ein Perlmutterknopf.

Macht sich El botón de nácar auch der Romantisierung und der impliziten Projizierung der eigenen Probleme auf äussere Faktoren schuldig – die Indigenen werden vorbehaltlos als gut und edel dargestellt, derweil eine der ersten Tatsachen, die man über Pinochets Putsch erfährt, ist, dass er von den USA finanziert wurde –, so ist er dennoch ein faszinierender Gedankenstreifzug und ein zutiefst persönliches Porträt eines vielschichtigen Landes. Guzmán sucht nicht nach geschichtswissenschaftlichen, sondern der – frei nach Werner Herzog – "ekstatischen" Wahrheit, einer poetischen Annäherung an seine Heimat, ihre sozialen Gräben und ihre historischen Problematiken. So überrascht es auch nicht, dass hier mindestens ebenso viele Künstler und Schriftsteller wie Professoren und Offizielle zu Wort kommen.

El botón de nácar handelt vom Kleinsten und vom Grössten – so auch vom Wasserdampf, das in einem gigantischen Quasar in den endlosen Weiten des Weltraums zu finden ist.
© Atacama Productions
Diese poetische Freiheit erlaubt es Guzmán, ausserhalb der Grenzen strikt journalistischer Dokumentationen zu operieren. Wie Herzog in Cave of Forgotten Dreams wagt Guzmán hypothetische Szenarien, spontane Sprünge und subjektive Assoziationen – begleitet von berückenden, oft computergenerierten Bildern, welche diese Fantasien zu Bildern werden lassen. Was wäre, fragt er sich, wenn die verfolgten Ureinwoher auf einem der wasserbedeckten Gliese-Exoplaneten, die – mit Hilfe von rieisgen Teleskopen in der Atacama-Wüste – entdeckt wurden, einen Zufluchtsort gefunden hätten. Was, wenn sie, frei von allen zeitlichen, räumlichen und physischen Einschränkungen, in zwölf Milliarden Lichtjahren Entfernung ein neues Leben beginnen könnten, in jenem kürzlich entdeckten Quasar, in dem riesige Mengen an Wasserdampf – das 140-billionenfache allen Meerwassers der Erde – ein schwarzes Loch umkreist.

Man kann Guzmán der Überspitzung, Verkürzung und Ausblendung bezichtigen; doch zu sehen, mit welcher Grazie und Poesie er sich vom mikroskopisch Winzigen ins astronomisch Allumfassende bewegt, ist ein nicht selten eindrückliches Erlebnis. El botón de nácar begibt sich auf die Suche nach der ekstatischen Wahrheit und findet sie – im Perlmutterknopf in den Tiefen des Meeres und der Geschichte, im einsamen Wasserteilchen im Universum, im Kosmos im Wassertropfen.

★★★★

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