Sonntag, 31. Januar 2016

Anomalisa

Das ohnehin schon exzentrische Universum des Autors Charlie Kaufman wird um eine Kuriosität erweitert: Auf beklemmende Halbetagen und eine Reise ins Bewusstsein eines realen Hollywood-Schauspielers (Being John Malkovich), einen Bruderzwist zwischen Kaufman und seinem fiktiven Zwilling Donald (Adaptation), eine Romanze über das Vergessen (Eternal Sunshine of the Spotless Mind) und ein allzu lebensechtes Theaterprojekt (Synecdoche, New York) folgt das animierte Drama Anomalisa.

Auf den ersten Blick wirkt Kaufmans zweite Regiearbeit (nach Synecdoche) – sein erstes Experiment mit Animation – im Vergleich zu seinen anderen Filmen geradezu überschaubar. Ja, die grau-braun dominierte Farbpalette hat etwas Bedrückendes an sich, und an die an Crashtest-Puppen erinnernden Stop-Motion-Figuren mit den Furchen neben den Augen muss man sich erst gewöhnen. Doch im Grunde wird hier eine relativ alltägliche Geschichte erzählt: Der Kundendienst-Experte Michael (hervorragend gesprochen von David Thewlis) soll auf einer Konferenz in Cincinnati eine Rede halten. Am Abend zuvor trifft er in seinem Hotel die schüchterne Lisa (ebenfalls grossartig: Jennifer Jason Leigh), von der er zutiefst fasziniert ist.

Dass in dieser Welt aber etwas nicht stimmt, wird nicht erst dann klar, als Kaufman und Co-Regisseur Duke Johnson ihre Hauptfigur sich mit ihrer eigenen Materialität – dem entnehmbaren unteren Teil des Puppen-Gesichts – auseinandersetzen lassen. Schon nach Michaels ersten paar Gesprächen mit anderen Leuten wird klar: Anomalisa hat nur drei Sprecher – Thewlis, Leigh und Tom Noonan, dessen Rollenbeschrieb ("Everyone else") treffender nicht sein könnte. Ausser Michael und Lisa haben nicht nur alle Charaktere das gleiche austauschbare Gesicht: Taxifahrer, Rezeptionisten, Pagen, Kellnerinnen, sogar Michaels Ehefrau und Sohn sprechen in derselben monotonen Männerstimme.

Ein paar Kritiker werfen dem Film vor, er stelle dadurch eine elitär-abgehobene Abschätzung der Probleme des "gemeinen Volkes" dar, sozusagen ein gönnerhaftes Bemitleiden von oben herab. Während man Kaufmans Perspektive zwar durchaus als privilegiert lesen kann – seine Skripte drehen sich fast ausschliesslich um gebildete, finanziell gut situierte Vertreter der weissen amerikanischen Mittelklasse –, greift dieses negative Urteil dennoch viel zu kurz.

Der gelangweilte Michael (Stimme: David Thewlis) lernt in einem Hotel in Cincinnati die einzigartige Lisa (Jennifer Jason Leigh) kennen.
© Universal Pictures International Switzerland
Michael, für den das Leben zu einer frustrierenden Abfolge des ewig Gleichen geworden ist, wirkt weniger wie ein Jedermann, der stellvertretend für bourgeoisen Ennui stehen soll, sondern mehr wie jemand, der an Depressionen leidet. Seine Mitmenschen sind ihm fremd geworden, sein Leben eine graue Routine; jeder Funke von Abwechslung – Lisa, die "Anomalie" – nimmt die Gestalt einer grossen Hoffnung an, nur um wenig später wieder von der Tristesse des Alltags eingeholt zu werden.

Kaufman und Johnson tragen die Entwicklung dieser ebenso simplen wie tief traurigen Erkenntnis mit einer überaus gelungenen Mischung aus trockener Lakonie und emotional ehrlicher Menschlichkeit vor. In knappen 80 Minuten, die sicherstellen, dass der Film auf seiner Botschaft nicht unnötig herumreitet, wird eine aussergewöhnliche Miniatur entworfen, die, ausgestattet mit Kaufmans schlichtweg brillanten Dialogen, zu gleichen Teilen amüsiert, fasziniert und erschüttert.

★★★★

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