Mit diesem Satz, gesprochen vom weissen Prediger Fred Smith (Sam Neill), endet Warwick Thorntons Sweet Country. Er fasst zusammen, was der bildstarke Outback-Western in den vorangegangenen zwei Stunden unter seiner Genre-Oberfläche verhandelt hat: die verheerenden Folgen von Kolonialismus und die kollektive Schuld am Fortbestehen seiner Mechanismen.
"What chance has this country got?" ist eine ernst gemeinte Frage und ein politisches Statement. Regisseur und Kameramann Warwick Thornton, international bekannt dank seines Spielfilmdebüts Samson and Delilah (2009), ist ein Vertreter der Aborigines, der indigenen Bevölkerung Australiens, deren Misshandlung durch die britische Kolonialmacht und später den australischen Staat in der Gesellschaft bis heute nicht adäquat aufgearbeitet wurde.
Die brutale Unterjochung und der kulturelle Genozid an einer ganzen Zivilisation – und die unzulängliche Auseinandersetzung damit – haben dazu geführt, dass Aborigines heute noch persönlichem und strukturellem Rassismus ausgesetzt sind: Zwischen ihnen und weissen Australiern klafft ein sozialer, ökonomischer und politischer Graben. Wie kann man unter diesen Umständen behaupten, das Projekt Australien sei geglückt – gerade auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise auf Nauru, wo die australische Regierung eine bestürzend ähnliche Politik an den Tag legt wie zu Zeiten der "gestohlenen Generationen"?
Sweet Country evoziert diese Assoziationen mit einer trügerisch simplen Geschichte – einer Art Umkehr von John Fords The Searchers (1956). Fred Smith, der eingangs erwähnte Prediger, lebt gemeinsam mit dem Aborigine Sam Kelly (grossartig: Hamilton Morris), dessen Ehefrau Lizzie (Natassia Gorey-Furber) und deren Nichte Lucy (Shanika Cole) im Outback des Northern Territory. Anders als die anderen weissen Bauern in der Umgebung sieht Fred Sam und Lizzie nicht als seinen Besitz an, sondern behandelt sie als Gleichwertige.
Nachdem der Aborigine Sam Kelly (Hamilton Morris) einen weissen Bauern in Notwehr erschiesst, flieht er mit seiner Ehefrau Lizzie (Natassia Gorey-Furber) ins Outback. © Praesens Film |
Die Thesen, die Thornton hier entwickeln will, beruhen auf einem wesentlich differenzierteren Verständnis von kolonialem Rassismus als jenem längst überholten Hollywood-Mythos, nach dem Rassismus einzig das Resultat persönlicher Vorurteile ist und somit nur von fehlgeleiteten Individuen begangen wird. Insofern erinnert sein Film ein wenig an James Grays postkolonialen Abenteuerfilm The Lost City of Z (2016), der den lobenswerten und überwiegend erfolgreichen Versuch unternahm, die wahnwitzige Naivität dieser Perspektive zu entlarven. Doch Thornton, wohl nicht zuletzt dank seiner intimen Nähe zum Thema, geht noch tiefer: Er setzt sich über theoretische Feststellungen hinweg und schafft es, nicht nur die gesellschaftlichen, sondern auch die emotionalen Konsequenzen dessen freizulegen, was den Aborigines angetan wurde.
Der Titel des Films ist in dieser Hinsicht programmatisch. "There's some sweet country out there", berichtet Sergeant Fletcher seiner Geliebten (Anni Finsterer). Ignoriert man den Kontext und die Stossrichtung dieser Äusserung, muss man ihm Recht geben: Selbst in den kargsten Flecken des Outbacks findet Thorntons Kamera atemberaubende Schönheit – von der Farbenpracht eines Wüstensonnenuntergangs bis hin zum blendenden Weiss einer Salztonebene.
Grund für die tödliche Auseinandersetzung zwischen Sam und dem Bauern war der junge Philomac (Tremayne und Trevon Doolan). © Praesens Film |
Sweet Country ist geprägt von der Mythologie der Aborigines, insbesondere dem global bekannten Konzept der Traumzeit – der Idee einer "raum- und zeitlosen Welt, aus der die reale Gegenwart in einem unablässigen Schöpfungsprozess hervorgeht", um die Wikipedia-Definition zu bemühen. Dies bezeugt schon Thorntons Inszenierung des Drehbuchs von Steven McGregor und David Tranter: Die an sich chronologische Handlung ist durchsetzt von abrupt eingefügten Szenenskizzen, die mal vor-, mal zurückblenden. Über dem Geschehen hängt eine bizarre Zeitlosigkeit – Wochen verstreichen, ohne dass das Publikum visuell darauf aufmerksam gemacht wird; einzelne Momente werden gedehnt; eine Uhr, die Philomac auf dem toten Harry March findet, ist ein ebenso prominentes wie nutzloses Artefakt.
Teil des Suchtrupps, der Jagd auf Sam und Lizzie macht, ist der gutherzige Prediger Fred Smith (Sam Neill), auf dessen Farm die beiden gelebt haben. © Praesens Film |
Die Kolonisierung Australiens und die darauf folgende, staatlich erzwungene Assimilierung der indigenen Bevölkerung zerstörte somit Kultur- und Stammeskontinuitäten, die über unzählige Generationen herangewachsen waren. In dieser gewaltsamen Entwurzelung einer ganzen Volksgruppe liegt die grundlegende Tragik von Sweet Country. Archie muss gestehen, dass er sich im Northern Territory nicht auskennt: Sein Stamm, aus dem er als Kind entführt wurde, lebt weit im Süden. Sein Bruder beklagt die Ausbreitung der Weissen, welche die Aborigines daran hindern, ihre Traumzeit-Rituale durchzuführen. Philomac ist hin- und hergerissen zwischen der Kultur seiner Vorfahren, die für ihn inzwischen wenig mehr als eine Legende ist, und dem Versprechen, ein halbwegs integriertes Mitglied der neuen australischen Gesellschaft zu sein.
Australien, quo vadis? © Praesens Film |
"What chance has this country got?" Sweet Country hält keine optimistischen Antworten auf diese Frage bereit. Thornton zeichnet das Bild eines Landes, das auf ermordeten Ureinwohnern, verschleppten Kindern und geraubtem Boden gebaut ist, und erzählt folgerichtig eine Geschichte, in der scheinbar jeder Akt der Nächstenliebe, jeder Funken Gerechtigkeit und Güte vom vergifteten Erbe des Kolonialismus zunichte gemacht werden kann. Das ist keine tröstliche Vision. Aber es ist die Wahrheit.
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