Montag, 17. September 2018

Jusqu'à la garde

Eines der berühmtesten Zitate der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood lautet, sinngemäss: "Männer haben Angst, dass Frauen sie auslachen. Frauen haben Angst, dass Männer sie umbringen." Jusqu'à la garde, das Langspielfilmdebüt des Franzosen Xavier Legrand, erzählt in erschreckender Intensität von diesem Missverhältnis.

Der Film, quasi ein Remake von Legrands oscarnominiertem Kurzfilm Avant que de tout perdre (2013), dreht sich um die zerbrochene Ehe von Miriam (Léa Drucker) und Antoine (Denis Ménochet), dem im Scheidungsprozess sowohl Miriam als auch die beiden gemeinsamen Kinder, die 18-jährige Joséphine (Mathilde Auneveux) und der elfjährige Julien (Thomas Gioria), häusliche Gewalt vorwarfen. Doch die Richterin (Saadia Bentaïeb) lässt sich davon nicht beeindrucken und ordnet an, dass Julien fortan jedes zweite Wochenende bei seinem Vater verbringen muss.

Lange hält sich Jusqu'à la garde darüber bedeckt, worauf sein feinfühliges, minimalistisches Porträt einer zerrütteten Familie hinausläuft. Es passiert nicht viel: Miriam und die Kinder besichtigen eine neue Wohnung. Julien sträubt sich gegen die Wochenendbesuche bei Antoine. Antoine streitet sich mit seinen Eltern (Jean-Marie Winling, Martine Vandeville) über seine prekäre Wohn- und Arbeitssituation. Joséphine verbringt trotz Miriams Misstrauen Zeit mit ihrem Freund (Mathieu Saikaly). (Letzteres ist zwar der schwächste Handlungsstrang des Films, enthält aber die vielleicht interessanteste Einstellung: ein Teenager-Drama im Kleinformat, eingefangen durch den unteren Spalt einer Toilettentür.)

Die Gewalt, über die zu Beginn vor Gericht gesprochen wird, ist spürbar, bleibt aber über weite Strecken unsichtbar. Antoine ist aufbrausend, mitunter aber auch umgänglich. Beinahe scheint Legrand sein Publikum dazu herausfordern zu wollen, Antoines Sicht der Dinge Glauben zu schenken und die Glaubwürdigkeit der scheinbar übervorsichtigen Miriam in Zweifel zu ziehen.

Julien (Thomas Gioria) muss gegen seinen Willen jedes zweite Wochenende bei seinem Vater (Denis Ménochet) verbringen.
© Filmcoopi
Das ist die Perfidie häuslicher Gewalt, insbesondere jener, die sich gegen Frauen richtet: Der Reflex der Gesellschaft ist das unentwegte Pochen auf immer noch mehr Belegen, selbst wenn einander untermauernde Aussagen wie jene von Miriam, Joséphine und Julien vorliegen. Bevorzugt werden sichtbare Spuren ehelicher Handgreiflichkeiten – wobei auch diese nicht vor dieser Kultur der bedingungslosen Skepsis gefeit sind.

Jusqu'à la garde erinnert nicht zuletzt daran, dass nicht alle Gewalt physischer Natur ist. So stellt Antoine seine Ex-Frau wiederholt als hysterische Paranoikerin dar – ein klassischer Fall von "Gaslighting" – und fährt als ungebetener Gast bei Joséphines Geburtstagsfest vor und löst so, in einer herausragend inszenierten, so gut wie wortlosen Szene, eine veritable Panik aus. Solche Akte der Einschüchterung und der emotionalen Erpressung lassen sich vor Gericht nur schwer nachweisen, sind aber sehr wohl Teil gewaltsamen Verhaltens.

Mit zunehmender Dauer zieht Legrand in der Manier eines Nuri Bilge Ceylan (Winter Sleep) die Schraube an und verdichtet alle diese Gedanken über brutale innerfamiliäre Konflikte zu einer zutiefst erschütternden, verstörend sachlich vorgetragenen Schlussviertelstunde. Hier wird die institutionelle Vorstellung des idealen Schlichtungsprozesses, mit dem der Film begann, komplett auf den Kopf gestellt: Auf die Mediation folgt die Eskalation – und mit ihr die Erkenntnis, dass beim Thema häuslicher Gewalt, gerade gegenüber Frauen, ein Umdenken stattfinden muss.

★★★★★

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