Gemeinsam gegen die LAPD: Pfarrer Gustav Briegleb (John Malkovich) berät Christine Collins (Angelina Jolie), wie sie der Polizei klarmachen kann, dass ihr Sohn immer noch verschwunden ist.
5.5 Sterne
Wenn man in der amerikanischen Filmbranche einen Regisseur sucht, der mit begrenzten Mitteln grosse Filme macht, dann stösst man ziemlich sicher auf Clint Eastwood. Enttäuscht hat der Altstar schon lange nicht mehr. Sei es als Regisseur von Kriegsfilmen - Flags of Our Fathers, Letters from Iwo Jima - Thrillern - Mystic River - oder "simplen" Dramen - Million Dollar Baby, Gran Torino. Sein zweitneuestes Werk, der vielgescholtene Changeling, fügt sich problemlos in diese Reihe ein. Eastwood beweist einmal mehr viel Einfühlungsvermögen und ein gutes Gespür für effizientes Filmemachen.
Changeling wird gerne vorgeworfen, er sei langweilig, überzeichnet oder einfach zu gewöhnlich, Adjektive also, die man in der Regel nicht im gleichen Atemzug wie Clint Eastwood nennen kann. Schaut man sich den Film an, sieht man beim besten Willen keinen Grund für die oben genannten Vorwürfe. Es sei denn, "gewohnt meisterhaft" wird zur Kritik des Gewöhnlichen dazugezählt. Denn Changeling ist ein Eastwood-Meisterwerk erster Güte. Obwohl der Mann sich thematisch in anderen Breitengraden als sein Vorbild Don Siegel bewegt, hat er vom grossen Action-Regisseur der 1970er Jahre viel gelernt, unter anderem die Kunst der Effizienz und des Understatements. Die überzeugende Ausstattung von Patrick M. Sullivan Jr., dem ein Oscar zu gönnen wäre, wird dem Zuschauer nicht aufs Auge gedrückt. Niemals kommt es einem so vor, als hätte Eastwood es nötig, mit den Kulissen zu protzen. Dabei wirken sie dermassen echt und detailreich, als ob der Film tatsächlich am Originalschauplatz gedreht worden wäre. Die Versetzung in vergangene Zeiten - in die 1920er Jahre - beschränkt sich aber nicht auf das Szenebild. Am Anfang des Films bekommt man nicht das moderne Logo von den Universal Studios vorgesetzt, sondern dasjenige, welches die Filme der 20er und 30er Jahre schmückte.
Dass es bei Clint Eastwood sehr stark von den Schauspielern abhängt, ob ein Film gelingt oder nicht, ist bekannt. Wen die Wahl von Angelina Jolie überraschte oder gar verärgerte, der erlebt in Changeling eine angenehme Überraschung. Brad Pitts Ehefrau zeigt eindrücklich ihr schauspielerisches Talent. Ihre Oscarnomination beruht wahrlich nicht nur auf ihrem wohltätigen Lebensstil. Sie verkörpert Christine Collins mit einer unglaublichen Intensität und einer Leinwandpräsenz, die man ihr wohl nie zugetraut hätte. An ihrer Seite brilliert John Malkovich mit Schnurrbart und Toupet als Reverend Briegleb, der nie um eine böse Bemerkung gegen die LAPD verlegen ist. In einer kleineren Rolle ist überdies Amy Ryan zu sehen, die sich zu einer Art Freundin von Christine entwickelt. Ein grosses Verdienst von Eastwood ist auch, dass die Polizei in Changeling nicht als gesichtslose Masse dargestellt wird. Jeffrey Donovan und Michael Kelly spielen beide ihre Parts sehr überzeugend. Besondes Donovan schlüpft so glaubwürdig in seine Rolle, dass man ihn wirklich abgrundtief hasst. Einigen Leuten könnte zwar auch das als Negativpunkt erscheinen. Zugegeben, ein Stück von Schwarzweissmalerei steckt in dieser Charakterzeichnung, doch auf der anderen Seite ist dies auch ein Beweis für Eastwoods Gefühl für die persönliche Ebene einer Geschichte. Denn Changeling erzählt eigentlich von der Polizeikorruption in L.A. in den 1920er Jahren. Die Filmskriptüre Sight & Sound ging sogar soweit und sagte, dass Changeling der beste Film über Behördenkorruption seit dem legendären Chinatown sei. Verkehrt ist diese Ansicht sicher nicht. Der grosse Zusammenhang wird elegant auf ein Einzelschicksal, welches sinnbildlich für so viele andere steht, projiziert. Eastwood genügen einige wenige Bilder, um einem jeweils die Situation klarzumachen. Ein Beispiel: Christine wird zu Unrecht in die Irrenanstalt eingewiesen, woraufhin der Zuschauer die Desinfektionsdusche, einige vergitterte Türen und Fenster und eine Patientin zu sehen bekommt. Und damit wäre man wieder zurück bei der Effizienz.
Clint Eastwood hat ein grosses Talent, gute Drehbücher zu erkennen. Bei Gran Torino nahm er sich beispielsweise zweier relativ unbekannter Autoren an; bei Changeling übernahm er das Skript von J. Michael Straczynski, dessen Arbeit sich fast ausschliesslich auf die Science-Fiction-Reihe Babylon 5 beschränkt. Sein Drehbuch macht aber nicht den Anschein, als wäre er zu mittelmässigen Streifen wie Babylon 5 fähig. Der Film ist spannend, dicht und intensiv und behandelt soziale Probleme mit viel Gefühl. Gegen Ende jedoch ist man kurzzeitig ein wenig ratlos, in welche Richtung der Film jetzt will, doch diese Unsicherheit ist schnell überwunden. Auch die 140 Minuten Laufzeit wirken niemals zu lang. Jede einzelne Szene hat ihre Berechtigung und keine Stelle wirkt zu langatmig. Überhaupt wurde die ganze Atmosphäre hervorragend geschrieben und schlussendlich auch umgesetzt. Christine Collins' scheinbar aussichtsloser Kampf um Anerkennung hat hie und da sogar kafkaeske Züge. Und wie bei Kafka wirkt die Bedrohung der korrupten Polizei sehr real.
Clint Eastwoods Regiearbeit und Straczynskis Drehbuch ergeben gemeinsam ein meisterliches Drama, das in allen Belangen überzeugt. Auch Tom Sterns Kameraarbeit verdient eine Erwähnung. Wie in Gran Torino bestechen die Bilder nicht durch Opulenz, sondern durch fast schon spartanische Einfachheit. Zeitkolorit wie Angestellte auf Rollschuhen wird nicht speziell hervorgehoben, sondern als gegeben hingenommen. Die Bescheidenheit, die für Eastwood so typisch ist und in Changeling wieder bis zur Perfektion praktiziert wird, ist ein weiterer Mehrwert des Films.
Was einige Zeitgenossen für ein Problem mit Changeling haben, ist unverständlich. Clint Eastwood sorgt mit diesem Film wieder für ein menschliches Meisterwerk erster Güte. Changeling hat durchaus das Zeug zum Klassiker, denn selten wurden Machtmissbrauch, menschliche Werte und sinnlose Gewalt eindrücklicher und magistraler dargestellt als hier. Wer Zeuge wahren Schauspielkinos auf höchstem Niveau werden will, darf auf diesen Film auf keinen Fall verzichten.
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