Sommerliebe: Michael (David Kross) und Hanna (Kate Winslet) verbringen einen wunderschönen, gemeinsamen Sommer miteinander. Noch ahnt Michael nichts von ihrer SS-Vergangenheit.
4 Sterne
Eigentlich bringt The Reader sämtliche Voraussetzungen mit, die bei einem Oscar-Abräumer dazugehören: Der Film dreht sich indirekt um den Zweiten Weltkrieg, im Mittelpunkt steht eine unmögliche Liebesgeschichte, es ist eine Romanadaption und die Hauptdarstellerin war schon einige Male für einen Oscar nominiert, musste sich aber immer geschlagen geben. Dennoch setzte es für Stephen Daldrys Verfilmung von Bernhard Schlinks Kultbuch Der Vorleser "nur" fünf Nominationen und bloss einen Gewinn ab. Entweder hat die Academy sich partout geweigert, sich The Reader anzusehen oder sie haben endlich begriffen, dass viele Nominationen den sehr guten Filmen vorbehalten sein sollten.
Wer sich bei Revolutionary Road schon dachte, dass sich dieser in bereits zigmal gesehenen Konventionen suhlt - auf eine höchst stimmige Weise aber, nebenbei bemerkt -, der wird bei The Reader ein ähnliches Gefühl haben. Stephen Daldry, der mit seiner Nomination für den Regieoscar einen Rekord aufgestellt hat - dreimal Regisseur, drei Nominationen (Billy Elliot, The Hours) - inszenierte mit The Reader ein Drama, welches mit nicht mit einer einzigen Wendung überrascht und nicht einmal wirklich packt. Aber trotzdem weiss der Film in gewisser Weise zu gefallen und lässt mehrmals sogar so etwas wie Spannung aufkommen. Leider krankt die Inszenierung daran, dass der Regisseur und der Drehbuchautor offensichtlich davor zurückschreckten, etwas näher auf die beiden Hauptfiguren einzugehen. Entsprechend erkennt der Zuschauer zwar die Leidenschaft der Beziehung von Michael und Hanna, kann sich aber nicht darauf einlassen, da der Film lediglich an der Oberfläche kratzt. Die Atmosphäre von The Reader ist stark unterkühlt und distanziert gehalten. Eine gewisse Scheu, einer Nationalsozialistin allzu viele positive Charakterzüge abzugewinnen, ist merklich vorhanden. Emotionale Distanziertheit und erzählerische Nüchternheit sind demnach Programm. Auch das Drehbuch von David Hare hat einige Löcher und offenbart gewisse Schwächen im Umgang mit einer geradlinigen Geschichte. Der Film hüpft je länger je mehr zwischen zwei Zeitebenen hin und her, ohne jedoch speziell zu packen oder auf ein grosses Finale hinzudeuten. Und auch wenn die Geschichte ausnahmsweise etwas längere Zeit im gleichen Zeitabschnitt verweilt, ist David Hares Skript doch eine gewisse Planlosigkeit anzumerken. Diese erreicht im Prozess gegen Hanna ihren Höhepunkt. Dass diese Szenen aber gleichzeitig zu den interessantesten des Films gehören, hebt das Drehbuch über den Durchschnitt. Echtes menschliches Interesse ist jedoch Fehlanzeige. Nur kurz vor dem Ende kann The Reader dem Kinogänger eine Gefühlsregung abgewinnen, doch kurz darauf befindet man sich wieder, was die Gefühle angeht, auf verlorenem Posten.
Was aber ist positiv an The Reader? Man könnte sich vorstellen, dass diese Frage einfach zu beantworten ist, doch sie ist es leider keineswegs. Man kann die verschiedenen Elemente des Films einzeln aufrollen. Die Schauspieler sind allesamt solide, verblassen aber zweifellos neben einer Kate Winslet, die mit Hanna Schmitz hoffentlich die definierende Rolle ihres Lebens gefunden hat und so Rose Bukater (Titanic) hinter sich lassen kann. Zwar scheint ihre Rolle nur eine Nebenrolle zu sein, doch dass sie für "Beste Hauptdarstellerin" den Oscar erhalten hat, rechtfertigt sich damit, dass sie die einzige Darstellerin ist, die ihre Figur während des ganzen Films spielt. David Kross hingegen ist nur in zwei Zeitabschnitten zu sehen. Seine Performance steht sicherlich im Schatten von Kate Winslet, doch der junge Deutsche beweist einen Funken Talent, zumindest was die Dialoge angeht. Wenn es an die Mimik geht, hat er noch einigen Nachholbedarf. Sein mimisches Spektrum umfasst, ungefähr fünf Gesichtsausdrücke, die er offensichtlich beliebig oft wiederholen durfte. Dass er und Ralph Fiennes keinerlei Ähnlichkeit miteinander haben, fügt sich hervorragend in den Vorwurf der Distanziertheit ein. Fiennes' Leistung ist dennoch zwar nicht schlecht - er spielt sehr gewissenhaft -, obwohl er leider hie und da etwas gelangweilt wirkt, was seiner Figur nicht unbedingt entspricht. Dass im Cast auch Namen wie Hannah Herzsprung, die in Vier Minuten gemeinsam mit Monika Bleibtreu eine brillante Performance ablieferte, und Bruno Ganz auftauchen, ist nicht mehr als blosse Namensnennung. Beide Schauspieler agieren gut, haben aber keinen besonderen Einfluss auf die Geschichte. Doch Stephen Daldry weiss natürlich, dass Bruno Ganz, egal was er macht, sofort die Sympathien im Publikum auf seiner Seite hat. Kurz gesagt: The Reader hat gute bis hervorragende Schauspielleistungen zu bieten, hätte aber gut daran getan, die Figuren etwas sorgfältiger auszugestalten und David Kross und Ralph Fiennes sich einander mehr ähneln zu lassen.
Womöglich kann man bereits herauslesen, was das grundlegende "Problem" von The Reader ist. Bei Sam Mendes' Revolutionary Road gehen die Kritikpunkte in eine ähnliche Richtung wie hier. Alles ist gut, doch Begeisterung kommt keine auf. So verhält es sich auch mit Stephen Daldrys Film. Er ist stimmig, aber zu akademisch ausgefallen. Alle Schauspieler sind gut, aber nur Kate Winslet ist begeisternd. Auch die Kameraführung unterstreicht diese Tendenz. Chris Menges und Roger Deakins wurden mit einer Oscarnomination für die Arbeit an The Reader geehrt - eine Frechheit, wenn man an Revolutionary Road denkt, wo die Bilder das Salz in der Suppe waren. Der Film wurde im typischen Hollywood-Stil gedreht, der zwar nicht neu ist, sich aber schon immer bewährt hat. Schöne Aufnahmen, die aber letztlich zur distanzierten Erzählweise des Films passen. An der Kameraarbeit gibt es aber grundsätzlich nichts auszusetzen.
Wer sich das Buch Der Vorleser zu Gemüte geführt hat, wird natürlich gespannt sein, ob Schlinks Werk adäquat auf die Leinwand übertragen wurde. Jeder muss dies für sich selbst entscheiden. Man merkt, dass der Film nicht an die Vorlage gekettet ist und Daldry durchaus auch seine eigenen Ideen verwirklichen konnte.
Möglicherweise klingt diese Rezension übertrieben negativ. The Reader macht viele Dinge, die man von einem akzeptablen Film erwarten darf, richtig, begeht aber dennoch gewisse Fehler. Die konventionelle Inszenierung und der offensichtliche Wunsch, bei den Oscars möglichst gut dazustehen, gehören zu diesen Schnitzern. Trotzdem wirft der Film - insbesondere die Schlussszene - interessante moralische Fragen auf, die einem noch etwas Gedankenfutter mitgeben können. Insgesamt gibt auf dieser Ebene der zweite Teil mehr her als der erste, der seinerseits auf die komplizierte Beziehung zwischen Hanna und Michael fokussiert. Keinesfalls ein Meisterwerk, aber trotzdem ein sehenswertes Leinwanddrama.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen