Nicht das wahre Leben: Coraline (Stimme von Dakota Fanning, Mitte) fühlt sich von ihren Eltern (Stimmen von John Hodgman und Teri Hatcher) vernachlässigt. Doch ob die Gegenwelt hinter der Tür in der Wand wirklich so viel besser ist?
5 Sterne
Henry Selick ist so etwas wie ein Magier. Seine Filme entführen einen in wundersame Welten, denen es an fantasievollen Designs und verqueren Charakteren nicht mangelt. Selicks Mitarbeit verleiht jedem Film ein gewisses Etwas - selbst wenn er, wie in The Life Aquatic with Steve Zissou, nur für die Unterwasserspezialeffekte zuständig ist. Als Regisseur hat er bisher vor allem mit den Stop-Motion-Abenteuern The Nightmare Before Christmas und dem etwas kindlichen, aber nichtsdestoweniger unterhaltenden James and the Giant Peach auf sich aufmerksam gemacht. Auch das neuste Werk des Meisters wurde mit der mühseligen Stop-Motion-Technik gefilmt. Der Stoff: Coraline, eine Fantasy/Horror-Novelle des Kultautoren Neil Gaiman - wie gemacht für Henry Selick! Und wie war das mit den fantasievollen Designs und verqueren Charakteren? Hier schöpft Selick aus dem Vollen!
Coraline ist der erste Langspielfilm des Studios Laika. Knapp 120 Millionen US-Dollar hat der kleine Film bereits eingenommen, was den doppelten Produktionskosten entspricht. Und man darf neidlos zugeben: Jeder Cent ist verdient. Wo soll man mit dem Loben anfangen? Die Story an sich ist im Prinzip schon meisterhaft. Doch was Henry Selick daraus gemacht hat, verdient höchste Anerkennung. Wie Neil Gaimans Vorlage strotzt auch der Film vor Fantasie, schrägen Figuren und einer Geschichte, die den schmalen Grat zwischen kindlicher Neugierde und dem Grauen vor dem Neuen mit souveräner Balance beschreitet. Obwohl diese Balance besonders am Ende des Films etwas aus den Fugen gerät. Dort kommt man sich als Zuschauer nämlich etwas gehetzt vor und es hat alles etwas den Anschein, als ob die Macher von Coraline den Streifen unbedingt unter 100 Minuten halten wollten. Zugegeben, meistens ist ein solches Bestreben sehr löblich, doch bei einem Feuerwerk der Fantasie wie Henry Selicks Adaption eines Neil-Gaiman-Buches - allein schon diese Prämisse verspricht einen guten Film - hätte man gut und gerne auch noch ein paar Minuten mehr ausgehalten. Dieses Schlingern auf der Zielgeraden ist aber auch so ziemlich das einzige, was sich Coraline an Kritik gefallen lassen muss. Ansonsten: Chapeau! Selick wusste anscheinend ganz genau, wie er zwischen dem eigentlichen Plot und den kleineren Charakterstudien der Nebenfiguren hin und her pendeln muss, um keine Inkohärenz aufkommen zu lassen. Entsprechend erfreut der Film nicht nur Anhänger des Erzählkinos, sondern mit einem Flair für abstruse und ausgefallene Details. Letztere wurden demnach von einigen amerikanischen Zeitgenossen als zu kinderunfreundlich kritisiert; sie mögen nicht ganz Unrecht haben, doch genau diese sind es, die Coraline von gängigen Animationsfilmen abheben. Der verrückte Mr. Bobinsky, die verblühenden Miss Forcible und Miss Spink oder der liebenswürdige Möchtegern-Draufgänger Wybie, sie alle sind Charaktere, die man gleich bei ihrem ersten Auftritt ins Herz schliesst. Dass dies nicht zuletzt an den Stimmgebern liegen dürfte, ist schwerlich zu widerlegen. Ian McShane, der Bösewicht mit der passenden Stimme aus Kung Fu Panda, Jennifer Saunders und Dawn French hauchen den Figuren mit ihren jeweiligen Leistungen soviel Leben ein, dass die Tatsache, dass es sich um Puppen handelt, bald vergessen ist. Doch auch die Hauptfiguren sind optimal besetzt. Dakota Fanning zeigt in der Titelrolle viel Talent für das Synchronsprechen, mehr als fürs Schauspielern, wie dem Rezensenten scheint. Egal ob ihr Tonfall ängstlich oder sarkastisch ist, Fanning trifft immer ins Schwarze und hilft mit, Coralines vielschichtige Persönlichkeit auf die Leinwand zu bringen. An ihrer Seite glänzen Robert Bailey Jr. als Wybie, Keith David als Kater mit einer herrlich sonoren Stimme, John Hodgman als Coralines Vater und Teri Hatcher als Mutter. Besonders Teri Hatcher macht einen eindringlichen Eindruck auf das Publikum. Ihr Wechseln zwischen guter anderer Mutter und böser Hexe ist hervorragend gelungen.
Die farbigen Tableaux, die Henry Selicks Filme auszeichnen, sind auch in Coraline in grosser Zahl vorhanden. Vor allem die Gegenwelt, in die Coraline stolpert, ist voll von liebevoll gestalteten Details und betörenden Designs. Wie diese Umgebung sich aber zusehends in ein erdrückendes Gefängnis verwandelt, ist ebenso meisterhaft eingefangen, auch ein Verdienst des Kameramannes Pete Kozachik. Ihm und dem vorzüglich ausgearbeiteten Setdesign ist es zu verdanken, dass Coraline auf der visuellen Ebene beeindruckt. Das Ganze kann man sich zwar auch in 3D anschauen, doch dies kommt dem Film, wie man hört, nicht unbedingt zugute. Da hält man sich lieber an die herkömmliche Version.
Es kann darüber diskutiert werden, ob Coraline tatsächlich kinderunfreundlich ist. Sicher enthält der Spass einige Szenen, mit denen die Kleinsten nicht umzugehen vermögen. Und auch die letzten 20 Minuten könnten das eine oder andere Kind das Fürchten lehren. Doch für abgehärtete junge Kinogänger sowie das erwachsene Publikum steckt der Film voller Überraschungen und Denkanstösse. Das Interpretieren von Kinderfilmen macht ja immer besonders Spass, weshalb diesem Sport auch hier gefrönt werden sollte. Wer The Door in the Floor gesehen hat, wird sich unweigerlich daran erinnert fühlen, wenn Coraline das erste Mal die Tür zur fantastischen Parallelwelt öffnet. Der Gang ins Ungewisse, der Ausbruch aus der vertrauten Umgebung - ein Gedanke, den viele Kinder hegen. Doch kaum hat sich das Mädchen an diese vielfältige und ungleich buntere Welt gewöhnt, kommen Zweifel in ihr auf. Zweifel, die durch das Bestreben ihrer anderen Mutter, ihr Knöpfe auf die Augen zu nähen, nur noch bestärkt werden. Sieht man einmal vom märchenhaften Teil ab, erkennt man, dass in diesem Konzept viel Wahrheit steckt. Das Alltägliche lockt einen doch über kurz oder lang wieder zurück, denn auch das Neue und Unbekannte ist nicht perfekt. Eine wichtige Lektion, die jedes Kind einmal lernen muss. So gesehen ist Henry Selicks Film nicht nur ein Animationsabenteuer der besonderen und verspielten Art, sondern auch ein Versuch, Kinder auf einer persönlichen Ebene anzusprechen. Und alles ohne dick aufgetragene Moralreden oder zähe Monologe. Das ist ein wahrer Kinderfilm.
Henry Selicks Coraline ist von der ersten, an Corpse Bride und The Nightmare Before Christmas erinnernden, Szene bis zum Insiderwitz am Ende des Abspanns ("For those in the know: Jerk Wad") ein gelungener Film. Zwar nicht ganz perfekt, da das Ende zu abrupt da und zu schnell wieder vorbei ist, aber rundum unterhaltsam und verträumt. Das Laika-Studio hat beim ersten Versuch einen Volltreffer gelandet und weist FOX und dessen Ice Age in seine Schranken. Pixars Up wird bei den Oscars im März wohl Gesellschaft von Independent-Produktionen wie Coraline, Fantastic Mr. Fox oder Mary and Max bekommen. Sieht die Zukunft des erfolgreichen Animationsfilms so aus? Hoffentlich.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen