Ein bisschen Farbe im Leben: Max (Philip Seymour Hoffman) betrachtet den Kopfschmuck, den Mary (Bethany Whitmore/Toni Collette, kleines gezeichnetes Bild) ihm geschickt hat.
6 Sterne
Adam Elliot ist ein Name, den man sich merken sollte. Der Mann ist Australier, 37 Jahre alt und ein waschechter Auteur. 2004 gewann sein Plastilin-Kurzfilm Harvie Krumpet den Oscar für "Best Short Film, Animated". Er behandelte darin einen unter dem Tourette-Syndrom leidenden Polen, der im Zweiten Weltkrieg nach Australien emigriert und dort sein äusserst beschwerliches Leben lebt. Die Figuren sind quasi stumm, man hört einzig Geoffrey Rush als Erzähler. Elliot hat seine Technik seit Harvie Krumpet nochmals verfeinert und liefert mit Mary and Max Filmmagie erster Güte, die zugleich berührt, aufwühlt und tröstet.
Animationsfilme sind auch für Erwachsene da. Viele Leute neigen dazu, dies zu vergessen. Besonders Stop-Motion-Filmen mit Plastilinfiguren haftet noch das Vorurteil des Kindischen an, da man sich an Pingu oder die familienfreundlicheren Abenteuer von Wallace & Gromit erinnert fühlt. Es ist zu hoffen, dass Mary and Max diese Meinung ein für allemal aus der Welt schafft. Die darin behandelten Themen sind aktuell und klingen eher nach einem beklemmenden Drama als nach einem schwarzhumorigen Trickfilm. Die Figuren und damit auch die Zuschauer werden mit Themen wie Autismus, Mobbing, Fettsucht oder Alkoholismus konfrontiert. Dabei vermeidet es Adam Elliot aber, die aufgeworfenen Fragen zu banalisieren oder zu überanalysieren. Vielmehr lässt er in seinem vielschichtigen Drehbuch, das angeblich auf wahren Begebenheiten basiert, zwei soziale Aussenseiter sich nach und nach in Richtung Antworten und Lebensglück tasten. Mary, wunderbar vertont von Bethany Whitmore und später Toni Collette, ist eine acht Jahre alte Australierin und wünscht sich sehnlichst einen echten Freund, den sie immer um Rat fragen kann. Max, brillant gesprochen von Philip Seymour Hoffman, der auch hier wieder seine unglaubliche Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellt, ist ein 44-jähriger atheistischer Jude aus New York, der unter dem Asperger-Syndrom leidet und ausser Schokolade nichts zu essen scheint. Zwar sind diese beiden Charaktere durchaus interessant, doch genügt ein simpler Briefwechsel zwischen dem ungleichen Duo, um einen 90-minütigen Film zu füllen? Legt man die Aufgabe in Adam Elliots Hände, dann auf jeden Fall. Sein Skript strotzt geradezu vor Kreativität, schwarzem Humor, Alltagsphilosophie und todtraurigen Situationen. Max sinniert über seinen Stolz, ein "Aspie" - ein unter dem Asperger-Syndrom Leidender - zu sein; Mary wundert sich, weshalb ihre Mutter immer Sherry "kostet" und beide tragen sich ihre Sorgen, Nöte und Vorlieben vor. So sind Max' Lieblingswörter "ointment, bumblebee, Vladivostok, banana und testicle" und sein ehemaliger imaginärer Freund heisst Mr. Ravioli und sitzt nur noch lesend in einer Ecke, während Mary sich in ihren stotternden Nachbarn Damien, den Eric Bana auf äusserst witzige Weise synchronisiert, verliebt hat. Aus diesen scheinbar banalen Informationsfetzen wird im Laufe von Mary and Max ein Flickenteppich gemacht, der eine traditionell aufgezogene Story überflüssig macht. Man könnte noch mehr Worte über das fantastische Drehbuch verlieren, doch dies würde nicht über repetitive Lobhudeleien und das Zitieren der besten Stellen hinausgehen. Darum sei es jedem ans Herz gelegt, sich den Film selber anzusehen.
Einem Stop-Motion-Film kann man selten das Kompliment machen, er sei wunderschön gefilmt. Mary and Max stellt die berückende Ausnahme von der Regel dar. Der Film verdankt viel von seiner poetischen Kraft seinem Setting und seinen Bildern. Marys Welt ist in gedämpften Brauntönen gehalten, während Max' New York strikt schwarz-weiss ist und nur die Objekte, die ihm Mary schickt, diese Monotonie, meistens mit grellem Rot, brechen. Der Kameramann Gerald Thompson fing überdies auch das Leben der beiden Hauptfiguren höchst kunstvoll ein. Man könnte meinen, dass ein Film, der grundsätzlich aus Briefen besteht, langweilig anzusehen ist. Dass dies nicht der Fall ist, ist nicht zuletzt den aussergewöhnlichen Aufnahmen Thompsons zu verdanken. Er experimentiert mit einer Vielzahl von Kamerastilmitteln und trifft damit ausnahmslos ins Schwarze.
Mary and Max ist ein tiefsinniges Lehrstück über das Leben in all seinen Facetten. Am Beispiel zweier besonderer Menschen wird einem die ganze emotionale Bandbreite des Lebens vor Augen geführt. Und man merkt: Freud und Leid liegen oft nah beieinander. Zwischen erfüllender Liebe und Selbstmord, zwischen Karriere und zerbrochener Freundschaft liegt oft nicht mehr als ein Jota. Zugleich zelebriert Mary and Max aber auch die alte Weisheit, dass Gott niemals die Tür schliesst, ohne ein Fenster zu öffnen. Neue Anfänge und grosse Schritte sind ein Leitmotiv in Adam Elliots Werk und hier ganz besonders. Dass sich zu dieser philosophischen Haltung auch noch das menschliche Interesse dazugesellt, intensiviert das Erlebnis weiter. Auch abgebrühte Kinogänger werden in Mary and Max mit den Tränen zu kämpfen haben, etwa wenn Mary als Erwachsene mit der Schlinge um den Hals auf ihrem Küchenhocker steht und sich zu den Klängen von "Que Sera, Que Sera" auf den Sprung von demselben vorbereitet, oder als sich Marys agoraphober Nachbar endlich wieder aus dem Haus traut.
"God gave us relatives, thank God we can choose our friends." Mit diesem Zitat schliesst Adam Elliots Claymation-Meisterwerk. Mary and Max ist Filmpoesie auf höchstem Niveau. Der Zuschauer wird während 90 Minuten durch sämtliche dem Menschen bekannten Gemütszustände getragen und verlässt den Kinosaal in Gedanken versunken und mit einem melancholischen Lächeln auf den Lippen. Der Film mag nicht über die technische Raffinesse eines Up und den hochkarätigen Cast eines Fantastic Mr. Fox verfügen - wobei Toni Collette, Eric Bana und der geniale Philip Seymour Hoffman ja keineswegs zu verachten sind -, doch gemessen am Gefühl und der Aussagekraft muss er sich vor diesen Animationsfilmen keinesfalls verstecken. Eine Oscarnomination wird es wahrscheinlich - aus unerfindlichen Gründen - nicht geben, doch vielleicht lässt sich der Wert von Mary and Max auch gar nicht in Preisen aufwiegen. Hohe Kunst bleibt hohe Kunst, ob dekoriert oder nicht.
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