Samstag, 20. Februar 2010

Sherlock Holmes

Schlagkräftiges Duo: Sherlock Holmes (Robert Downey Jr., rechts) und sein Assistent Watson (Jude Law) sind einem düsteren Gentleman, der eigentlich tot sein sollte, dicht auf den Fersen.

4.5 Sterne

Neuinterpretationen von allseits beliebten Franchisen sind immer eine heikle Sache. Entsprechend wurde die Neuigkeit, dass Guy Ritchie - der Regisseur von postmodern-coolen Gangsterstreifen wie Snatch, Lock, Stock and Two Somking Barrels oder RocknRolla - ein neues Abenteuer von Arthur Conan Doyles weltberühmtem Detektiv Sherlock Holmes inszenieren soll, mit viel Skepsis aufgenommen. Nachdem der Film angelaufen ist, erhielt er nur wenig Lob und wurde von Holmes-Puritanern gar als Verunstaltung und Vergewaltigung der Buchreihe angesehen. Doyle habe keinen zynischen, nihilistischen, den Drogen zugeneigten Actionhelden, sondern einen britischen Gentleman, der mit seinem genialen Geist Fall um Fall löst, ersonnen. Die diesbezügliche Kritik zeugt von erschreckendem Unwissen, da die Romanfigur sich gerne dem Kokain und dem Morphium hingibt und sich auch gerne mit Bösewichten prügelt. So gesehen ist Guy Ritchies flotte Posse Sherlock Holmes eine durchaus würdige Wiedergabe des Charakters.

Es sei gleich vorweg gesagt: Sherlock Holmes hat Schwächen. Darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel. Der Film ist mitnichten so perfekt geschrieben wie Snatch oder so clever angelegt wie Revolver. Aber Guy Ritchies Inszenierung lässt den Zuschauer derartige Mängel vergessen. Die Geschichte, die von Lionel Wigram und Michael Robert Johnson erdacht wurde, enthält alles, was ein grotesker, dem Lächerlichen zugeneigte Verschwörungsplot braucht, während das Skript von Anthony Peckham, Simon Kinberg und Johnson selbst stellenweise etwas unbeholfene Dialoge und einen ausgefransten Handlungsstrang bietet. Dass der Film dennoch weder nervt noch peinlich wirkt, ist der Doyle'schen Art der Erzählweise zu verdanken. Sherlock Holmes bombardiert den Zuschauer nämlich abwechselnd mit grossartig choreografierten Actionsequenzen und einer Vielzahl von mehr oder minder unerwarteten Twists. Und gerade deshalb kommt Guy Ritchie dem Autor so nahe wie lange kein Regisseur mehr. Auch der reisserische Inhalt hält an den Grundsätzen von Doyles Erzählungen fest: Mystery, Spannung, britischer Humor, scheinbar weit hergeholte Schlussfolgerungen und eine logische, genial deduzierte Erklärung für alles dürfen keineswegs fehlen. Dass parallel zum Hauptplot in aller Stille das Sequel aufgebaut wird, verzeiht man Guy Ritchie sofort, denn nach dem letzten Satz des Films - "Case reopened!" - verlässt man den Kinosaal mit der Lust auf mehr.

Sherlock Holmes ist Popcornkino im klassischen Sinne. Man lässt sich erwartungslos in den Sessel fallen und wird in der Folge auf eine gut zweistündige Achterbahnfahrt mit coolen Sprüchen, einer haarsträubenden, aber spannenden Geschichte, Explosionen, Verfolgungsjagden und unglaublichen Deduktionen geschickt. In diesem Sinne ist es nicht verkehrt, wenn man Guy Ritchies Sherlock Holmes mit Indiana Jones vergleicht. Sherlock kann alles, darf alles und ist jedem Gegner einen Schritt voraus. Die Formel hat schon dutzende Male funktioniert - man denke nur an Ocean's Eleven, Terminator 2: Judgment Day oder Die Hard - und wird auch hier wieder auf äusserst elegante Weise umgesetzt.

Auch die Entscheidung, Robert Downey Jr. als Holmes zu casten, verdient Applaus. Er spielt ausgezeichnet - wie gewohnt - und macht als lakonischer Detektiv eine überaus gute Figur. Sein British English wirkt überraschend echt und man merkt ihm an, mit welchem Genuss er seine teils zynischen, teils augenzwinkernden Äusserungen von sich gibt. Es wundert einen überhaupt nicht, dass er eine gewichtige Filmrolle ausschlug - Cowboys and Aliens, Jon Favreaus neustes Projekt -, um im zweiten Teil von Sherlock Holmes mitspielen zu können. Holmes' Assistent Watson wiederum wird von einem ebenso gut aufegelegten Jude Law verkörpert. Law geht zwar neben Downey Jr. fast unter, überzeugt aber durch seine glaubwürdige - "glaubwürdig" ist in diesem Zusammenhang ein relativer Begriff - Darstellung der Gewissensbisse und der Unentschlossenheit seiner Figur. Die weiteren Charaktere fallen kaum ins Gewicht, wobei man Eddie Marsan, den man jüngst als cholerischen Fahrlehrer in Happy-Go-Lucky gesehen hat ("Enraha!"), als Inspector Lestrade, Mark Strong als stilvollen Bösewicht Lord Blackwood und den kanadischen Wrestler Robert Maillet, besser bekannt als "Kurgan", in der Rolle eines französischen Schlägers, der einen an André the Giant in The Princess Bride erinnert, lobend erwähnen sollte. Der einzige Fehlgriff im Cast, der vielleicht auch auf die Story zurückzuführen ist, ist Rachel McAdams, die den Film zwar um ein hübsches Gesicht erweitert, schauspielerisch aber wenig Eindruck macht.

Für jeden Ausstatter ist Sherlock Holmes ein Traum. Die Tatsache, dass der Film in der viktorianischen Ära - 1891, genau gesagt - spielt, und dass Guy Ritchie auf ein stattliches Budget zurückgreifen konnte, hat dazu geführt, dass die Ausstatter schon vor Bekanntgabe der Oscarnominationen als Favoriten feststanden. Es ist tatsächlich so, dass Sarah Greenwood und Katie Spencer, die beide schon zweimal für die Auszeichnung "Best Art Direction" nominiert waren (Atonement, Pride & Prejudice), die besten Chancen haben, Avatar Konkurrenz zu machen. Wie das Duo das London des späten 19. Jahrhunderts nachgestellt hat, ist schlichtweg fantastisch. Dem Publikum und den Academy-Juroren werden vor allem die halbfertige Tower Bridge und die wunderbar gestaltete Baker Street aufgefallen sein.

Apropos Oscar: Auch die zweite Nomination ("Best Original Score") hat durchaus ihre Berechtigung. Routinier Hans Zimmer liefert einen opulenten, knackigen und mitreissenden Score, der vor allem die Actionszenen jeweils perfekt untermalt. Das einzige Stück "moderne" Musik ist "The Rocky Road to Dublin", gespielt von The Dubliners. Während des Films wird es gespielt, als sich Sherlock Holmes im Boxring mit einem veritablen Hünen prügelt, aber seine wahre Wirkung erzielt das Lied erst im Abspann, da es dort in etwa den Gemütszustand des Zuschauers wiedergibt: helle Begeisterung über den rasanten Unterhaltungsfilm Sherlock Holmes.

Abgerundet werden die gelungenen technischen Aspekte von einer grossartigen Kameraführung durch Philippe Rousselot und den schnellen Schnitten von James Herbert. Der wahre Wert der Arbeit der beiden offenbart sich besonders in den actionlastigen Szenen, die sehr originell wirken und sich keinen alltäglichen Klischees unterordnen.

Kritiker mögen Sherlock Holmes vorhalten, er gehe "blasphemisch" mit dem Quellenmaterial um, Kinogänger mögen über den Aufbau des Sequels stänkern; andere wiederum mögen lamentieren, der Film sei bei weitem nicht so beeindruckend wie Avatar. Und trotzdem gefällt Guy Ritchies Streifen. Er verpasst der Marke Sherlock Holmes einen Neuanstrich, der das Prestige der originalen Geschichten aber keineswegs denunziert. Er ist spannend, witzig und hat - im Gegensatz zu Avatar - eine Story, die dem Publikum etwas Neues bietet. Ja, der Film ist nicht perfekt. Ja, Ritchie hat auch schon Besseres abgeliefert. Ja, Logiklöcher sind zuhauf vorhanden. Aber wie kann man ein derartiges Konstrukt, dessen Anspruch allein darin besteht, auf hohem Niveau zu unterhalten, nicht mögen?

Dienstag, 16. Februar 2010

10 Items or Less

Ungleiche Freundschaft: Der Schauspieler (Morgan Freeman) und die Supermarktkassiererin Scarlet (Paz Vega) reden über die kleinen Ärgernisse und die kleinen Freuden des Lebens.

5 Sterne

Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts wurde im US-Kino geprägt von starken Independent-Produktionen. Aber nicht immer wurden diese gleichermassen beachtet. Während Little Miss Sunshine und Juno mit Oscarnominationen und -gewinnen bedacht wurden, wurden Werke wie Ghost World, Art School Confidential oder eben 10 Items or Less vom breiten Publikum quasi ignoriert. Schade, denn so liessen sich viele Leute wahre Filmperlen entgehen. Dabei kann 10 Items or Less sogar einen Star in einer Hauptrolle (Morgan Freeman) und einen etablierten Mainstream-Regisseur (Brad Silberling, bekannt für Casper oder Lemony Snicket's A Series of Unfortunate Events) vorweisen.

Die Kritiker, die 10 Items or Less tatsächlich gesehen haben, warfen dem Film gerne vor, er sei zu kurz und erzähle keine Geschichte, sondern vertraue einfach auf die Ausstrahlung seiner beiden Hauptdarsteller. Der Vorwurf der Länge mag vom objektiven Standpunkt aus seine Berechtigung haben - 75 Minuten sind wirklich relativ kurz. Aber kann man einen Film wirklich dafür tadeln, dass er kurz ist? Wenn der Autor nicht mehr zu sagen hat, sollte man das Produkt nicht künstlich in die Länge ziehen. Zudem muss man bei der von Brad Silberling erdachten Story um jede Minute froh sein. Zugegeben, er muss wohl selber gemerkt haben, dass aus seiner Idee kein Film in üblicher Länge resultieren würde, weshalb er einige Szenen eine Spur zu stark dehnt. Aber insgesamt hat Silberling ein sehr gutes Drehbuch geschrieben, vor allem gemessen an der Tatsache, dass dies erst sein zweites - nach Moonlight Mile (2002) - war. Und abgesehen von der etwas unkonventionellen Ausgangssituation - der grosse Schauspieler, der sich aufgrund einer Verkettung unglückglicher Zufälle von einer Supermarktangestellten nach Hause chauffieren lassen muss - ist das Ganze ziemlich realistisch gehalten. Silberling verzichtet auf eingehende Charakterstudie. Er wirft den Zuschauer einfach ins Geschehen, lässt ihn den Tag der beiden Hauptfiguren miterleben und verabschiedet sich am Ende des Tages wieder. Dazwischen laufen einige höchst interessante und unterhaltsame Dialoge ab, die keine philosophischen Erkenntnisse liefern, sondern die Charaktere als einfache und echte Menschen darstellen. Der Schauspieler und die Kassiererin unterhalten sich über kleine persönliche Probleme, vergleichen ihre Lebensstile und arbeiten auf ein gemeinsames Ziel - das Vorstellungsgespräch der jungen Frau bei einer Baufirma - hin. Komik entsteht durch die Unterschiede zwischen den beiden und den Lehren, die sie sich gegenseitig erteilen. So ist der Filmstar ein offenherziger, warmer Mensch, der den menschlichen Kontakt überhaupt nicht scheut, während sie eine mit ihrem Leben unzufriedene, von sich selbst nicht überzeugte 25-Jährige ist. Er erzählt ihr, dass der Grund für die konstante Fröhlichkeit des Dalai Lamas sein ständiger Proteinkonsum ist, während sie ihm ein spanisches Liedchen beibringt, was wir in jedem einzelnen Detail in einer einzigen Einstellung zu sehen bekommen. Ein aufregender Inhalt sieht anders aus - es fehlt auch an echten Konflikten -, aber dennoch kann man sich problemlos in das illustre Duo hineinversetzen und sich vom Film treiben lassen. Als dann nach knapp 75 Minuten der (schrullige) Abspann läuft, ist man etwas traurig darüber - wohl nicht zuletzt wegen des bittersüssen Endes -, dass das Ganze schon vorbei ist. Es gibt nur wenige Filme, die dieses Gefühl wecken; 10 Items or Less gehört zweifelsohne in diese exklusive Kategorie.

Brad Silberling hatte Glück, auf zwei grossartig aufgelegte Schauspieler wie Morgan Freeman und Paz Vega zurückgreifen zu können. Freeman steht die Freude, bei so einem Projekt mitspielen zu dürfen, ins Gesicht geschrieben. Und natürlich ist sein Schauspiel professionell wie eh und je. Man nimmt ihm seine Offenheit und seine Lebensfreude ab, ohne dass man von seiner Art genervt wird, was in den Händen eines anderen Darstellers durchaus hätte passieren können. Ausserdem spielt er vermutlich auch ein Stück weit sich selber, der es sich überlegen muss, ob er bei 10 Items or Less mitspielen soll. Zumindest wird man dieses Gefühl nicht los, wenn man ihm in der Anfangsszene genau zuhört. Es ist erstaunlich, dass neben diesem grossartigen Mimen die wenig bekannte Paz Vega nicht untergeht. Doch sie schafft es tatsächlich, eine Art Gegenpol zum vor Enthusiasmus strotzenden Morgan Freeman zu bilden. Ihre Interpretation der an der Leine gehaltenen Powerfrau vermag problemlos zu überzeugen.

Besonderes Augenmerk ist überdies auf die Nebenfiguren von 10 Items or Less zu richten. Dies fängt bei der stummen Rolle von Kumar Pallana, den man als resoluten Raumpfleger in The Terminal gesehen hat, an. Obwohl sein Auftritt sich auf langsame, tattrige Bewegungen beschränkt, macht er eine Sequenz von hohem komödiantischen Wert daraus. Jonah Hill verkörpert einen geschwätzigen Chauffeur, der während der Exposition die Hauptfigur dazu bringen will, zu seinem Ruhm zu stehen, während Jim Parsons, bekannt für seine Hauptrolle in der Serie The Big Bang Theory, für die er 2009 für einen Emmy nominiert war, einen Bürohengst spielt, der mit herrlich kindlicher Begeisterung auf ein Kompliment von Morgan Freeman reagiert. Und schliesslich haben auch noch Danny DeVito und seine Frau Rhea Perlman einen Gastauftritt, der, wie der Rest des Films, zwar nicht spektakulär, aber trotzdem äusserst lustig ist.

Auch optisch ist 10 Items or Less ein Bijou. Mit poetischen Einstellungen wusste Phedon Papamichael die Dialoge und die Montagen zu bebildern. Und obwohl sich die Geschichte grösstenteils in der Umgebung von Los Angeles, wo es nicht viel an imposanter Natur zu finden gibt, abspielt, hat es Papamichael geschafft, urbanen Strukturen wie Autobahnen und Lagerplätzen mit Containern eine seltsame Schönheit zu entlocken. Untermalt werden diese Bilder von einem mannigfaltigen Soundtrack mit Musik von hispanischem Rap bis zu Paul Simon. Stellenweise mag die Wirkung des Hip Hop vielleicht etwas ausgereizt worden sein, aber alles in allem passt die Musik hervorragend zum Film.

Liefert Brad Silberling auch so etwas wie eine Moral? Die Tagline "You Are Who You Meet", deren Übersetzung auch gleich den deutschen Titel stellte, mag nett klingen, fasst den Film aber nur bedingt angemessen zusammen. Vielmehr zeigt 10 Items or Less, dass auch zwei grundverschiedene Menschen einander etwas zu sagen haben und dass auch Schauspieler nur Menschen sind. Menschen, die mit der Realität vielleicht sogar ein bisschen mehr zu kämpfen haben als Otto Normalverbraucher.

10 Items or Less wird neben den "grösseren" Indie-Filmen leider immer wieder übersehen. Dabei ist Brad Silberlings kleines Auteur-Projekt ein herzerwärmendes urbanes Roadmovie mit exzellenten Darstellern ohne viel Schnickschnack. Die Story ist glaubwürdig und verzichtet auf dramaturgische Extravaganzen und konzentriert sich völlig auf seine beiden ungleichen, auf ihre Weise sympathischen Hauptfiguren. Der cineastische Minimalismus mag auf die Spitze getrieben sein, doch 10 Items or Less hält an genug filmischen Grundpfeilern fest, um kein mühsamer Kunstfilm, sondern ein wunderbar unkonventionelles und bescheidenes Kinoerlebnis zu sein.

Montag, 15. Februar 2010

North by Northwest

Auf der Flucht: Roger Thornhill (Cary Grant) wird für einen gewissen George Kaplan gehalten, der nirgendwo zu finden ist. Infolgedessen wird er von Kriminellen und der Polizei gleichermassen gesucht.

5 Sterne

Alfred Hitchcock ist eine Ikone der Filmwelt und gehört zweifellos zu den besten Regisseuren aller Zeiten. Seine Filme geniessen Kultstatus, sie wurden unzählige Male zitiert und sein Œuvre kann einige Szenen vorweisen, die sich zu Musterbeispielen für meisterhaftes Filmemachen gemausert haben. Doch welches seiner vielen Werke das beste ist, darüber ist sich niemand so richtig einig. Die einen optieren für Rear Window, der unterschwellig den Voyeurismus thematisierte, andere sehen im vertrackten Vertigo Hitchcocks Meisterstück, wieder andere bevorzugen Psycho, der mit einer schönen Menge von Filmkonventionen brach und damit die Massen schockierte. Aber auch North by Northwest taucht immer wieder in dieser Diskussion auf. Es handelt sich dabei um einen ironischen Agentenfilm mit einmaligen Bildern, legendären Schauplätzen und einer spannenden Geschichte.

Es gibt Filmszenen, die im Laufe der Zeit zu Legenden avancieren: der Schluss von Casablanca zum Beispiel, der Kletterakt auf das Empire State Building im originalen King Kong, der Mord in der Dusche in Psycho oder der Angriff des Flugzeugs in North by Northwest. In dieser Szene ist erkennbar, welch ein genialer visueller Cineast Alfred Hitchcock wirklich war. Er lässt seine Hauptfigur Roger Thornhill fast acht Minuten im Niemandsland herumstehen und warten, bevor sich ein Agrarflugzeug in der Ferne in seine Richtung zu bewegen und ihn anzugreifen beginnt. Die wilde Hatz endet abrupt, als der Flieger mit einem Tanklaster kollidiert und in Flammen aufgeht - ein Effekt, den man so in einem Film von 1959 nicht unbedingt erwarten würde. Die Art, in der diese zehn Minuten komponiert sind - der Verzicht auf jegliche Musikuntermalung, das Spielen mit der Erwartung des Zuschauers und die finale Explosion resultieren in eine der wirkungsvollsten Szenen der Filmgeschichte. Allein diese eine Sequenz ist die Visionierung von North by Northwest wert. Doch wer Hitchcock kennt, weiss, dass seine Filme weitaus mehr hergeben als bloss die Szenen, für die sie berühmt sind. So ist North by Northwest ein Film, der das bewährte Muster von The Wrong Man aufgreift und damit spannende und kurzweilige Unterhaltung bietet.

Für das Drehbuch war hier Ernest Lehman verantwortlich, natürlich unter dem wachsamen Auge von Meister "Hitch". Würde dieser Film heute gedreht, würde alle Welt über den Plot lachen. Denn dank einer Reihe von James-Bond-Filmen sind für uns Agentenfilme mit klassischen Bösewichten, Verwechslungen, Landesverrat und brisanten Mikrofilmen nichts Neues mehr. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - funktioniert Lehmans Story, die Klischees grösstenteils zu umgehen weiss. Selbst die dazugedichtete Liebesgeschichte des Helden mit einer von Hitchcocks berühmten Blondinen wirkt nicht gezwungen und tut der Handlung sogar gut. Selbstverständlich ist das Ganze durch und durch künstlich. Nur ein Narr würde in North by Northwest - oder überhaupt in einem Film Hitchcocks - nach Realismus suchen. Denn auch hier ist die Geschichte bloss das Mittel zum Zweck. Die Story liefert lediglich den Stoff, den der Regisseur brauchte, um seine ureigene Vision von filmischer Eleganz umsetzen zu können. Nichtsdestoweniger ist Ernest Lehman ein stringentes und überaus ansprechendes Skript mit guten Dialogen, wunderbar herbeigeführten Situationen - etwa diejenige, in welcher Thornhill zum gejagten Mörder wird -, gut nachvollziehbaren Wendungen und viel Humor gelungen. Hie und da werden einzelne Szenen etwas zu stark gestreckt und gegen Ende verliert der Film etwas an Elan, doch dies ist vergeben und vergessen, wenn sich die Protagonisten einen halsbrecherischen Kampf ums Überleben auf dem Gipfel und den Präsidentenköpfen des Mount Rushmore liefern.

In North by Northwest arbeiteten Alfred Hitchcock und Cary Grant bereits zum vierten und gleichzeitig letzten Mal zusammen. Und Grant beendet hier diese Zusammenarbeit mit einer wahrlich hervorragenden Leistung. Grants trockene Sprüche, seine Glanzideen und seine etwas unwürdigen Aktionen - man denke nur an seinen Aufenthalt im geschlossenen Klappbett - machen aus Roger Thornhill eine Figur, der man bald von ganzem Herzen wünscht, sie möge unversehrt aus der Sache herauskommen. Es mag keine Performance sein, die einem Schauspieler einen Oscar einbringt - entsprechend war Cary Grant auch nicht nominiert -, aber es ist eine, die den Zuschauer nicht lange nach einer Identifikationsfigur suchen lässt. So gesehen ist es sicher nicht verkehrt, George Clooney als den wahren Erben Grants zu bezeichnen. Aber auch die weibliche Hauptfigur weiss zu überzeugen. Eva Marie Saint, die man heutzutage meistens als die Mutter einer Hauptfigur zu Gesicht bekommt - Superman Returns, Don't Come Knocking -, übernimmt hier die Rolle der Hitchcock-Blondine. Saint überzeugt als Eve Kendall und überrascht anfangs als eigenständige und starke Frau - ein Bild, das man im Kino der 1950er Jahre nicht oft zu Gesicht bekam. Leider verfällt sie am Ende aber dennoch etwas in alte Muster. Schauspielerisch gibt es daran aber nichts auszusetzen. Im Gegenteil, sie verleiht ihrer Figur sehr viel Tiefe. Den Part des Bösewichts übernahm der Brite James Mason, der mit Vandamm einen kalkulierenden und ausgekochten Kriminellen spielt, den Goldfinger bewundert hätte. Seine rechte Hand wird übrigens von Martin Landau verkörpert, der knapp 30 Jahre später den Oscar für seine Verkörperung von Bela Lugosi in Ed Wood erhielt. Und man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass er in jungen Jahren tatsächlich grosse Ähnlichkeit mit dem etwas verrückten Vampirfürsten hatte.

North by Northwest ist berühmt für seine legendären Einstellungen und seine Bildkompositionen. Robert Burks, der für die Kamera zuständig war, hat tatsächlich erstklassige Arbeit geleistet. Besonders die oben erwähnte Flugzeugszene zeugt von einem hervorragenden Auge. Das Spiel mit Nahaufnahmen, die auch in einen Western von Sergio Leone passen würden, und den Totalen, welche die Einsamkeit der Hauptfigut unterstreichen, erzielt einen unglaublichen Effekt.

North by Northwest ist ein unbestrittener Klassiker der Filmgeschichte und des "Hitch"-Kanons. Die Story um eine fatale Verwechslung, die in eine wilde Verfolgung durch den Norden der USA mündet, ist zeitlos und blieb vom Zahn der Zeit quasi unbehelligt. Alfred Hitchcock hat hier alle seine Stärken ausgespielt und konnte auf einen gut aufgelegten Cast zurückgreifen. North by Northwest ist ein grossartiges Kinostück, welches jeder Cinephile gesehen haben muss. Es ist eine meisterhaft inszenierte Stilübung, die auf höchst erfolgreiche Weise mit dem Filmkunstvokabular spielt.

Dienstag, 9. Februar 2010

Avatar

Ein Mond voller Überraschungen: Jake Sully (Sam Worthington) ist anfangs noch unvorsichtig, da er sich noch nicht an seinen Avatar, der ihm das Laufen ermöglicht, gewöhnt hat.

3 Sterne

Auch das Kino wird vom digitalen Zeitalter nicht verschont. Avatar, James Camerons neustes Werk, soll, das hat der Regisseur selber verlautbaren lassen, die Filmwelt verändern und den Menschen als technische Revolution in Erinnerung bleiben. Dazu hat sich der auf bombastische Inszenierungen spezialisierte Filmemacher - Alien, The Terminator, Titanic - auf die neue Technik des 3D-Films verlassen und ein Projekt realisiert, das zwar optisch zu überzeugen vermag, den an Story und echten Gefühlen interessierten Kinogänger aber mit den Schultern zucken lässt. Doch offenbar hat diese Strategie funktioniert, denn Avatar avancierte unlängst zum finanziell erfolgreichsten Film aller Zeiten. Unmengen an respektablen Kritikern, unter anderem Roger Ebert und Peter Travers, der aber immerhin einräumt, dass Camerons Blockbuster alles andere als ein Klassiker ist, haben sich von den schönen Bildern blenden lassen und den Streifen als Meisterwerk hochgejubelt. Nimmt man ihn allerdings etwas genauer unter die Lupe, bleibt vom ganzen Ruhm wenig übrig.

15 Jahre. So lange hat James Cameron angeblich gebraucht, um seine "visionäre" Idee von blauen Aliens auf einem erdähnlichen Mond weit draussen im All vollständig reifen zu lassen. Doch man muss sich schon die Frage stellen, ob er diese 15 Jahre nicht einfach damit verbracht hat, sich andere Filme anzusehen, um sich bei deren Storys zu bedienen. Denn wenn Avatar etwas nicht ist, dann ist es originell. Wer gerne Knobeleien hat, sollte einen Notizblock ins Kino mitnehmen und sich alle Filme notieren, bei denen hier abgekupfert wurde. Die Story ist eine platte Kopie von FernGully: The Last Rainforest, sie enthält sämtliche Elemente von Dances with Wolves, der vorgestellte Konflikt der Ideologien wurde in Mononoke-hime (Princess Mononoke) weitaus besser dargestellt, die Hauptfigur wurde direkt aus The Last Samurai importiert und jeder neuere Disney-Film - allen voran Pocahontas und Atlantis: The Lost Empire - verläuft nach dem gleichen Muster. Wer jetzt James Cameron verteidigen will und sagt, er habe diese Ideen trotzdem vor allen anderen gehabt, dann muss sich derjenige eben damit abfinden, dass andere beim Umsetzen ihrer Visionen schneller waren. "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.", sagte Michail Gorbachev.

Aber auch anderweitig gibt James Camerons Drehbuch nicht allzu viel her. Die zusammengebastelte Geschichte kommt nicht über plumpe Klischees und primitive Schwarz-Weiss-Malerei hinaus, die Figuren sind völlig eindimensional, ihre Handlungsweise widerspricht jeglicher Logik und die Plotlöcher sind einfach gigantisch. Man ahnte ja schon bei Titanic, dass Cameron keine glaubwürdige Geschichte erzählen kann, doch was er in Avatar abliefert, spottet jeglicher Beschreibung. Sein Versuch, den Irakkrieg satirisch aufs Korn zu nehmen, misslingt und resultiert in einen moralisierenden Öko-Kitsch, den man weder ernstnehmen noch billigen kann, da er quasi die Einstellung "Alles Menschliche ist böse" predigt. Wer will von einem Stück Unterhaltungskino, welches selber fast 250 Millionen Dollar gekostet hat, getadelt werden?! Immerhin ist die Story so angelegt, dass man ihr mit mildem Interesse folgt und in den ersten beiden Akten des Films einigermassen aufmerksam das Geschehen auf der Leinwand mitverfolgt. Der finale Kampf, der zum obligaten Happy End führt, ist imposant inszeniert, strotzt aber - wie der Rest von Avatar - vor Fehlern und vorhersehbaren Wendungen.

Die Schauspieler, die grösstenteils sowieso computergeneriert sind, sind kaum der Rede wert. Sam Worthington, der erst vor kurzem mit Terminator: Salvation, seinen Durchbruch geschafft hat, ist hölzern und verschafft seiner schlecht konzipierten Figur keinerlei Tiefe, wird aber vom grandiosen CGI vor der Lächerlichkeit gerettet. Zoe Saldanas Leistung is sicherlich nicht schlecht - sie verbringt den ganzen Film im Alien-Körper -, doch auch sie schafft es nicht, die Sympathie des Zuschauers auf ihre Seite zu bringen. Die einzige wirklich tragbare Darstellerin ist Sigourney Weaver, die hier ihre Erfahrung optimal einsetzt und aus dem beschränkt interessanten Charakter, den sie spielt, eine sympathische Nebenfigur macht. Den mit Abstand grössten schauspielerischen Unterhaltungswert haben Giovanni Ribisi - als Vertreter der fiesen, geldorientierten Firma - und Stephen Lang, der den ultramaskulinen Militär mimt. Ribisis Figur ist dermassen übertrieben ignorant, dass man nur über sie lachen kann, und auch der von Lang gespielte Colonel Miles Quaritch wirkt einfach nur lächerlich. Dass der Mann kein Testosteron schwitzt, grenzt an ein Wunder. Nehmen wir zu James Camerons Gunsten einmal an, dass er diesen Charakter absichtlich so stark überzeichnet hat, denn sonst müsste man sich doch fragen, wer diesen Bösewicht wirklich ernst nehmen könnte.

Avatar wurde ja von allen Seiten nicht nur wegen seiner Spezialeffekte, sondern auch wegen seiner fantasievollen und fotorealistischen Welt gelobt. Geht man mit diesen Lobeshymnen im Hinterkopf ins Kino, wird man herbe enttäuscht. Nicht nur ist die ganze Ökologie des Mondes Pandora ein Witz - man denke allein schon an die USB-Sticks, die die Ureinwohner in ihren Haaren haben -, auch die Artenvielfalt scheint eher kümmerlich ausgefallen zu sein. Wer mitgezählt hat, weiss, dass es auf Pandora gerade mal sieben - und erst noch evolutiv sehr fragwürdige - Lebensformen gibt. Überdies enthält diese Welt viel zu viele Dinge, die es, selbst im Realitätsrahmen des Films, dort nicht geben dürfte, die einem jedoch ohne jede Erklärung präsentiert werden. Zur Verteidigung des Films kann man immerhin sagen, dass die ganze Szenerie, so fehlerhaft und anorganisch sie auch sein mag, wirklich schön gestaltet ist. Es sind vor allem die unaufdringlichen Einstellungen des Kameramannes Mauro Fiore, der wahrscheinlich für seine Leistung einen Oscar gewinnen wird - dies verstehe, wer will -, die einem in ruhigen Momenten die Schönheit von Pandora näherbringen. Bei den Schlachtszenen liefert aber auch er nichts Neues.

Was Avatar halbwegs rettet, sind seine Spezialeffekte. So schlecht das Drehbuch auch ist, so fade die Figuren auch sind, die visuelle Arbeit ist wahrlich beeindruckend, dies kann man neidlos zugeben. Die Bilder sind hochauflösend, das CGI ist beinahe makellos und die am Computer entstandenen Aliens sehen verblüffend echt aus. Dass sie wie blaue Katzen aussehen, ist eine andere Geschichte. Aber genügt dies wirklich, um die Massen zufriedenzustellen? Offenbar. Es kommt anscheinend nicht mehr auf eine gute Story oder dreidimensionale Charaktere, mit denen man mitfühlen kann, an. Nein, es reichen schöne Bilder und der Rest kann einem egal sein. Es stimmt nachdenklich, dass ein derart seelenloses Konstrukt wie Avatar als erfolgreichster Film aller Zeiten in die Geschichte eingehen wird. Welchen Weg wird das Kino gehen, wenn das Credo "Form vor Inhalt" weiter triumphiert?

Ist Avatar die angekündigte Revolution? Jein. Visuell ist der Film eine Perle, inhaltlich bekommt man nichts Neues serviert. Muss man James Cameron Glauben schenken und annehmen, dass das Kino nie mehr dasselbe sein wird wie zuvor? Ja, aber das liegt nicht am Film an sich, sondern am Hype, der darum entstand. Geht man das Ganze sachlich an, muss man feststellen, dass Avatar nichts anderes als eine weitere mittelmässige Science-Fiction-Posse ist, die es jedes Jahr im Kino zu bestaunen gibt. Es ist natürlich jedem Filmfan unbenommen, daran Gefallen zu finden. Es ist aber zu hoffen, dass es beim kommerziellen Erfolg bleibt und Avatar nicht auch noch mit dem zu befürchtenden Oscarreigen "veredelt" wird.

Montag, 1. Februar 2010

A Serious Man

Eine Umarmung kann Wunder wirken: Larry Gopnik (Michael Stuhlbarg, links) wird von Sy Ableman (Fred Melamed), dem Liebhaber seiner Frau, getröstet. Dass dies keinen Effekt hat, interessiert ausser Larry niemanden.

6 Sterne

Das bekannteste Brüderpaar im Filmbusiness, Joel und Ethan Coen, ist so fleissig wie kaum je zuvor. Sie schreiben und inszenieren wieder einen Film nach dem anderen und seit dem vierfachen Oscargewinn ihrer ersten Literaturverfilmung, No Country for Old Men, wissen sie auch wieder die Kritiker hinter sich. Ihr neustes Werk führt sie in die unmittelbare Umgebung ihrer Kindheit: Ins Minnesota der 1960er Jahre. Behandelt wird die typische amerikanische Mittelklasse der 1950er Jahre, die langsam dahinsiecht. Von Revolution ist wenig zu spüren, die gesellschaftliche Hierarchie scheint stabil zu sein, doch für die Hauptfigur, den Durchschnittsjuden Larry Gopnik, gerät alles aus den Fugen. Die Coens liefern fantastischen Humor, jüdische Stereotypen, biblische Anspielungen en masse und gewähren viel Raum für Interpretationen. Dies alles summiert sich zu A Serious Man, den bisher wohl schwärzesten Film von Joel und Ethan Coen.

Wer sich im Vorfeld mit der Synopsis des Films auseinandergesetzt hat, wird sich zu Beginn von A Serious Man wahrscheinlich fragen, ob er im falschen Film sitzt. Denn nach dem Eingangszitat "Receive with simplicity everything that happens to you." von Rashi, einem jüdischen Gelehrten aus dem 11. Jahrhundert, befinden wir uns nicht etwa im amerikanischen Suburbia des 20. Jahrhunderts, sondern in einem polnischen Schtetl der vorletzten Jahrhundertwende. Ein Mann erzählt seiner Frau in originalem Jiddisch, dass er im wüsten Schneetreiben in tiefer Nacht auf einen Bekannten gestossen sei, der ihm bei einem Radbruch geholfen hat. Seine Gattin erzählt ihm daraufhin, dass der fragliche Mann vor drei Jahren das Zeitliche gesegnet hat und dass es sich nur um einen Dybbuk handeln kann. Aus ihren Erklärungen lässt sich in etwa ableiten, dass ein Dybbuk, ein Wiedergänger, dann entsteht, wenn die Shiva, die traditionelle Totenwache der Juden, unterbrochen wird und das Böse im toten Körper entfliehen kann. Die vermeintliche Heimsuchung, ein wunderbarer Gastauftritt der jüdischen Schauspielerlegende Fyvush Finkel, betritt das Haus, wird von der Hausherrin erstochen und verabschiedet sich wieder. Wer die Coens kennt, weiss, dass kryptische oder eigenwillige Anfänge ein wiederkehrendes Element in ihren Filmen sind, siehe Sam Elliotts Monolog in The Big Lebowski oder die singende Chain Gang in O Brother, Where Art Thou?. Anschliessend findet sich der Zuschauer im Jahre 1967 wieder, wie immer bei den Gebrüdern Coen gespickt mit Anachronismen, wo sich alles um Larry, das Oberhaupt der scheinbaren Vorzeigefamilie Gopnik, dreht. Michael Stuhlbarg verkörpert Larry hervorragend. Die Figur macht während A Serious Man eine an eine Achterbahn erinnernde Entwicklung durch, welche von Stuhlbarg absolut glaubwürdig wiedergegeben wird. Das Mitleid des Zuschauers ist ihm spätestens nach dem ersten ihm widerfahrenden Unheil sicher (und wenn nicht, dann sicherlich nach dem letzten). Der Charakter, der Stuhlbargs in Sachen Tiefe am nächsten kommt, Larrys Bruder Arthur, wird von Richard Kind ergreifend dargestellt. Auch ihn schliesst man, trotz eines etwas widerlichen Körpermerkmals, bald ins Herz. Doch auch der restliche, grösstenteils unbekannte Cast trägt seinen Teil zum Gelingen des Films bei. Sari Lennick ist die ideale Besetzung für Larrys wankelmütige und opportunistische Frau Judith, Aaron Wolff brilliert als Sohnemann Danny, der als 13-Jähriger kurz vor der Bar Mitzvah steht und sich bereits Joint um Joint reinzieht, während Fred Melamed in Form von Judiths Liebhaber Sy Ableman das komödiantische Highlight des Films darstellt. Er sorgt mit seiner sonoren Stimme und seiner schleimigen Eloquenz für einige Lacher. Fans von Chuck Lorres TV-Serien dürfen sich überdies über einen kurzen Auftritt von Simon Helberg freuen, den man als Howard Wolowitz aus der Serie The Big Bang Theory kennt, und der als Rabbi Scott Larry einen herrlichen Nonsens-Rat gibt ("Just look at the parking lot!").

Das Drehbuch der Coens ist einmal mehr ein Geniestreich. Einerseits ist es ihnen gelungen, eine breite Palette von Figuren zu konstruieren, die zwar vollkommen überzeichnet sind, insbesondere die religiösen Würdenträger, aber dennoch nicht unrealistisch wirken. Die jüdischen Stereotypen sind einem vielleicht nicht allzu geläufig, doch das Skript sorgt dafür, dass man eine vage Idee von ihnen bekommt. Wie Joel und Ethan Coen, Sprösslinge jüdischer Intellektueller, die Menschen aus ihrer Kindheit karikiert haben, ist schlichtweg genial. Diese Charaktere lassen sie in einer Geschichte agieren, die lose auf der biblischen Erzählung von Hiob basiert. Larry, der mässig gläubige Jude, der an der Physik-Fakultät der Universität von Minneapolis kurz vor dem Aufstieg auf der Karriereleiter steht, wird vom Leben aufs Äusserste geprüft und sucht Trost und Rat in der Religion; er besucht diverse Rabbis, die ihm jedoch auch nicht weiterhelfen können. Es ist die einzigartige Coen-Brillanz, die dafür sorgt, dass diese Geschichte dermassen satirisch, zynisch und böse, trotzdem lustig und absolut dicht ist. A Serious Man ist Charakterstudie, ironische Abhandlung der lebendigen jüdischen Tradition, Psychodrama und Tragikomödie in einem. Man kann dem Drehbuch vielleicht den Vorwurf machen, dass es möglicherweise etwas zuviel Grundwissen über die doch recht komplexe Materie verlangt, aber vielleicht ist es gerade das, was den Film so persönlich und reif macht. Denn A Serious Man ist nicht nur der schwärzeste Film der Coens, vor allem bezogen auf das unglaubliche Ende, sondern seltsamerweise auch der reifste.

Einmal mehr haben Joel und Ethan Coen beschlossen, ihren Film in einer historisch signifikanten Zeit spielen zu lassen. Und wieder einmal umgehen sie so ziemlich alles, was diese Zeit so besonders macht. Der einzige Aspekt, der das Klischee des Umbruchs in den 1960er Jahren andeutet, ist Danny Gopniks Musikgeschmack: Er interessiert sich für Bands wie Santana, Creedence Clearwater Revival - Hallo, Anspielung auf The Big Lebowski! - oder Jefferson Airplane, deren "Somebody to Love" gemeinsam mit Sidor Belarskys "Dem Milners Trern" quasi das Titellied von A Serious Man ist. Der Krieg in Vietnam oder die Jugendbewegungen werden nicht einmal erwähnt. Bebildert wurde die fassadenhafte Vorstadtidylle von Roger Deakins, der wieder die hervorragende Arbeit leistet, die man sich von ihm gewohnt ist. Sein Spiel mit Licht und Schatten und Handlungsrahmen zeugt von souveräner Professionalität und künstlerischer Weltklasse.

"Der Weg ist das Ziel.", sagt man. Unzählige Male wurde diese Floskel schon bemüht, doch in A Serious Man trifft sie auch tatsächlich zu. Larry, den viele Schreibgenossen als die Verkörperung des utopischen "common man" aus Barton Fink erkannten, muss auf seiner Gedankenreise feststellen, dass auch die Religion, wenn man so will, nicht mehr das ist, was sie einmal wahr. Selbst Rabbi Marshak, der Weiseste unter den Weisen, wurde von der Moderne korrumpiert. Wie sich das zuträgt, soll hier nicht verraten werden. Die Coen-Brüder lassen Larry feststellen, dass die Antworten nicht in der Thora, geschweige denn in den Köpfen von religiösen Instanzen zu finden ist, sondern dass jeder selbst für sein Schicksal verantwortlich ist. Aber auch wenn man dies erkannt hat, ist man vor dem Leben nicht sicher, wie uns A Serious Man eindrücklich zeigt.

Joel und Ethan Coen begeistern zum dritten Mal in Folge mit einem hervorragend geschriebenen, brillant inszenierten und rundum gelungenen Film. No Country for Old Men war enorm spannend, Burn After Reading war wahnsinnig lustig, A Serious Man ist ein bisschen beides. Es gibt die typischen absurden Coen-Dialoge, die meistens im Nirgendwo enden, doch es steckt wirklich etwas hinter der erzählten Geschichte, die beim richtigen Publikum sicherlich gut ankommt. Wer sich entschliesst, den Film zu sehen, muss bereit sein mitzudenken. Tut er dies, wird er im Gegenzug mit einem formidablen Filmerlebnis belohnt, welches noch lange für Gedankenarbeit und Gesprächsstoff besorgt sein wird.