Schlagkräftiges Duo: Sherlock Holmes (Robert Downey Jr., rechts) und sein Assistent Watson (Jude Law) sind einem düsteren Gentleman, der eigentlich tot sein sollte, dicht auf den Fersen.
4.5 Sterne
Neuinterpretationen von allseits beliebten Franchisen sind immer eine heikle Sache. Entsprechend wurde die Neuigkeit, dass Guy Ritchie - der Regisseur von postmodern-coolen Gangsterstreifen wie Snatch, Lock, Stock and Two Somking Barrels oder RocknRolla - ein neues Abenteuer von Arthur Conan Doyles weltberühmtem Detektiv Sherlock Holmes inszenieren soll, mit viel Skepsis aufgenommen. Nachdem der Film angelaufen ist, erhielt er nur wenig Lob und wurde von Holmes-Puritanern gar als Verunstaltung und Vergewaltigung der Buchreihe angesehen. Doyle habe keinen zynischen, nihilistischen, den Drogen zugeneigten Actionhelden, sondern einen britischen Gentleman, der mit seinem genialen Geist Fall um Fall löst, ersonnen. Die diesbezügliche Kritik zeugt von erschreckendem Unwissen, da die Romanfigur sich gerne dem Kokain und dem Morphium hingibt und sich auch gerne mit Bösewichten prügelt. So gesehen ist Guy Ritchies flotte Posse Sherlock Holmes eine durchaus würdige Wiedergabe des Charakters.
Es sei gleich vorweg gesagt: Sherlock Holmes hat Schwächen. Darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel. Der Film ist mitnichten so perfekt geschrieben wie Snatch oder so clever angelegt wie Revolver. Aber Guy Ritchies Inszenierung lässt den Zuschauer derartige Mängel vergessen. Die Geschichte, die von Lionel Wigram und Michael Robert Johnson erdacht wurde, enthält alles, was ein grotesker, dem Lächerlichen zugeneigte Verschwörungsplot braucht, während das Skript von Anthony Peckham, Simon Kinberg und Johnson selbst stellenweise etwas unbeholfene Dialoge und einen ausgefransten Handlungsstrang bietet. Dass der Film dennoch weder nervt noch peinlich wirkt, ist der Doyle'schen Art der Erzählweise zu verdanken. Sherlock Holmes bombardiert den Zuschauer nämlich abwechselnd mit grossartig choreografierten Actionsequenzen und einer Vielzahl von mehr oder minder unerwarteten Twists. Und gerade deshalb kommt Guy Ritchie dem Autor so nahe wie lange kein Regisseur mehr. Auch der reisserische Inhalt hält an den Grundsätzen von Doyles Erzählungen fest: Mystery, Spannung, britischer Humor, scheinbar weit hergeholte Schlussfolgerungen und eine logische, genial deduzierte Erklärung für alles dürfen keineswegs fehlen. Dass parallel zum Hauptplot in aller Stille das Sequel aufgebaut wird, verzeiht man Guy Ritchie sofort, denn nach dem letzten Satz des Films - "Case reopened!" - verlässt man den Kinosaal mit der Lust auf mehr.
Sherlock Holmes ist Popcornkino im klassischen Sinne. Man lässt sich erwartungslos in den Sessel fallen und wird in der Folge auf eine gut zweistündige Achterbahnfahrt mit coolen Sprüchen, einer haarsträubenden, aber spannenden Geschichte, Explosionen, Verfolgungsjagden und unglaublichen Deduktionen geschickt. In diesem Sinne ist es nicht verkehrt, wenn man Guy Ritchies Sherlock Holmes mit Indiana Jones vergleicht. Sherlock kann alles, darf alles und ist jedem Gegner einen Schritt voraus. Die Formel hat schon dutzende Male funktioniert - man denke nur an Ocean's Eleven, Terminator 2: Judgment Day oder Die Hard - und wird auch hier wieder auf äusserst elegante Weise umgesetzt.
Auch die Entscheidung, Robert Downey Jr. als Holmes zu casten, verdient Applaus. Er spielt ausgezeichnet - wie gewohnt - und macht als lakonischer Detektiv eine überaus gute Figur. Sein British English wirkt überraschend echt und man merkt ihm an, mit welchem Genuss er seine teils zynischen, teils augenzwinkernden Äusserungen von sich gibt. Es wundert einen überhaupt nicht, dass er eine gewichtige Filmrolle ausschlug - Cowboys and Aliens, Jon Favreaus neustes Projekt -, um im zweiten Teil von Sherlock Holmes mitspielen zu können. Holmes' Assistent Watson wiederum wird von einem ebenso gut aufegelegten Jude Law verkörpert. Law geht zwar neben Downey Jr. fast unter, überzeugt aber durch seine glaubwürdige - "glaubwürdig" ist in diesem Zusammenhang ein relativer Begriff - Darstellung der Gewissensbisse und der Unentschlossenheit seiner Figur. Die weiteren Charaktere fallen kaum ins Gewicht, wobei man Eddie Marsan, den man jüngst als cholerischen Fahrlehrer in Happy-Go-Lucky gesehen hat ("Enraha!"), als Inspector Lestrade, Mark Strong als stilvollen Bösewicht Lord Blackwood und den kanadischen Wrestler Robert Maillet, besser bekannt als "Kurgan", in der Rolle eines französischen Schlägers, der einen an André the Giant in The Princess Bride erinnert, lobend erwähnen sollte. Der einzige Fehlgriff im Cast, der vielleicht auch auf die Story zurückzuführen ist, ist Rachel McAdams, die den Film zwar um ein hübsches Gesicht erweitert, schauspielerisch aber wenig Eindruck macht.
Für jeden Ausstatter ist Sherlock Holmes ein Traum. Die Tatsache, dass der Film in der viktorianischen Ära - 1891, genau gesagt - spielt, und dass Guy Ritchie auf ein stattliches Budget zurückgreifen konnte, hat dazu geführt, dass die Ausstatter schon vor Bekanntgabe der Oscarnominationen als Favoriten feststanden. Es ist tatsächlich so, dass Sarah Greenwood und Katie Spencer, die beide schon zweimal für die Auszeichnung "Best Art Direction" nominiert waren (Atonement, Pride & Prejudice), die besten Chancen haben, Avatar Konkurrenz zu machen. Wie das Duo das London des späten 19. Jahrhunderts nachgestellt hat, ist schlichtweg fantastisch. Dem Publikum und den Academy-Juroren werden vor allem die halbfertige Tower Bridge und die wunderbar gestaltete Baker Street aufgefallen sein.
Apropos Oscar: Auch die zweite Nomination ("Best Original Score") hat durchaus ihre Berechtigung. Routinier Hans Zimmer liefert einen opulenten, knackigen und mitreissenden Score, der vor allem die Actionszenen jeweils perfekt untermalt. Das einzige Stück "moderne" Musik ist "The Rocky Road to Dublin", gespielt von The Dubliners. Während des Films wird es gespielt, als sich Sherlock Holmes im Boxring mit einem veritablen Hünen prügelt, aber seine wahre Wirkung erzielt das Lied erst im Abspann, da es dort in etwa den Gemütszustand des Zuschauers wiedergibt: helle Begeisterung über den rasanten Unterhaltungsfilm Sherlock Holmes.
Abgerundet werden die gelungenen technischen Aspekte von einer grossartigen Kameraführung durch Philippe Rousselot und den schnellen Schnitten von James Herbert. Der wahre Wert der Arbeit der beiden offenbart sich besonders in den actionlastigen Szenen, die sehr originell wirken und sich keinen alltäglichen Klischees unterordnen.
Kritiker mögen Sherlock Holmes vorhalten, er gehe "blasphemisch" mit dem Quellenmaterial um, Kinogänger mögen über den Aufbau des Sequels stänkern; andere wiederum mögen lamentieren, der Film sei bei weitem nicht so beeindruckend wie Avatar. Und trotzdem gefällt Guy Ritchies Streifen. Er verpasst der Marke Sherlock Holmes einen Neuanstrich, der das Prestige der originalen Geschichten aber keineswegs denunziert. Er ist spannend, witzig und hat - im Gegensatz zu Avatar - eine Story, die dem Publikum etwas Neues bietet. Ja, der Film ist nicht perfekt. Ja, Ritchie hat auch schon Besseres abgeliefert. Ja, Logiklöcher sind zuhauf vorhanden. Aber wie kann man ein derartiges Konstrukt, dessen Anspruch allein darin besteht, auf hohem Niveau zu unterhalten, nicht mögen?
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