Trautes Familienidyll: Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) kümmert sich um ihren Sohn SJ (Jae Head, links) und den adoptierten Familienzuwachs Michael Oher (Aaron Quintin).
2 Sterne
Amerikaner mögen Sportfilme. Besonders wenn das Ganze auf wahren Begebenheiten beruht, kennt ihre Gier nach Aufsteigergeschichten keine Grenzen. John Lee Hancock hat mit der Buchverfilmung The Blind Side, welche den Beginn der Karriere des Footballstars Michael Oher beleuchtet, genau diese Sparte des Kinopublikums angesprochen - der finanzielle Erfolg liess entsprechend nicht lange auf sich warten. Sogar die Academy erbarmte sich seiner und nominierte den Streifen für "Best Picture", während die Hauptdarstellerin Sandra Bullock sogar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Dies sind wohl die einzigen Gründe, weshalb man sich als Cinephiler The Blind Side ansehen wollen könnte. Hat man ihn gesehen, kann man das Buch, in welchem die Fehler der Academy aufgelistet sind, um ein grosses Kapitel erweitern. Hancocks Film ist nichts anderes als ein schlechter Sportfilm - so einfach ist das.
Zugegeben, Sportfilme zu drehen ist nicht einfach. Kaum ein anderes Genre driftet so leicht in kitschiges Pathos ab. Lustigerweise ist dies aber nicht das Hauptproblem von The Blind Side. Im Gegenteil, die Footballszenen sind überraschend unspektakulär geraten, was dem Streifen gut zu Gesicht steht. Nein, das wahre Problem ist das Drehbuch von John Lee Hancock selbst. Dabei hat der Mann schon bewiesen, dass er schreiben kann. Aus seiner Feder stammt beispielsweise das Drehbuch zu Clint Eastwoods unterschätztem A Perfect World. Überhaupt könnte man denken, dass ein ehemaliger Mitarbeiter Eastwoods in der Lage wäre, einen ansprechenden Film zu drehen. Aber nein, es ist ihm nicht gelungen. Es mutet wie Ironie des Schicksals - oder besser Ironie der Academy - an, dass für Hancocks Schmonzette Eastwoods routinierter Sportfilm Invictus aus der Liste der Nominierten für "Best Picture" weichen musste.
Woran krankt das Skript von The Blind Side? Das gravierendste Problem sind wohl die Figuren. Denn der Film ist - oder sollte es zumindest sein - ein Stück weit eine Charakterstudie, die das Zusammenprallen zweier Gesellschaftsklassen unter die Lupe nimmt. Der arme Junge aus dem Ghetto wird von der moderat republikanischen Familie der gehobenen Mittelklasse aufgenommen. Anstatt sich sklavisch von Michael Lewis' Buch zu leiten, hätte The Blind Side einen anderen Weg gehen können und zu einem ernstzunehmenden Gesellschaftsdrama werden können. Aber das Infragestellen der sozialen Struktur in den USA verkauft keine Tickets. Stattdessen übergeht Hancock jegliche Charakterzeichnung und verlässt sich auf die üblichen Konventionen des Genres. Entsprechend ist dem Zuschauer das Schicksal der Protagonisten relativ egal. Auch werden viele Figuren ziemlich unmotiviert verheizt, ohne dass man auch nur ihre Namen erfährt. Zudem kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass in The Blind Side ein Hauch von Rassismus mitschwingt. Die Stereotypen der Gesellschaft spotten jeder Beschreibung. Der einzige rechtschaffene Schwarze ist Michael Oher, während alle anderen im Ghetto von Memphis sexistische Machos sind. Auch bei der weissen Bevölkerung findet keinerlei Nuancierung statt. Die Oberklasse-Republikanerinnen sind gackernde Hühner, die aussehen, als kämen sie vom Dreh der Senioren-Fassung von Sex and the City. Doch das ist bei weitem nicht der einzige Makel von Hancocks Drehbuch. The Blind Side fehlt es an Spannung und an Stringenz. Viele Szenen wirken dazugepappt und sinnlos. Interesse an der Storyentwicklung kommt nie auf. Und zu "guter" Letzt scheint sich der Streifen auch nicht entscheiden zu können, was er eigentlich sein will. Für ein Drama gibt es zu viele meist unlustige One-Liner und unangebrachte Slapstick-Einlagen, für eine Komödie wird die Fassade der Gesellschaftskritik zu vehement aufrechterhalten. Unausgegorenheit, dein Name ist The Blind Side.
Hält wenigstens Sandra Bullock, was ihr Oscar verspricht? Sie ist blond, sie hat ihren Südstaatendialekt schön brav gelernt und sie spricht in abgehackten Sätzen wie Rorschach in Watchmen. Es ist erstaunlich, was heute nicht alles einen Academy Award bekommt. Hinter der Auszeichnung stand wohl einfach die Idee, man sollte Bullock endlich auszeichnen, bevor sie nur noch in Rom-Coms wie The Proposal oder All About Steve mitwirkt. Sie ist keineswegs schlecht, aber sie hat doch arg mit der Farblosigkeit ihres Charakters zu kämpfen. Quinton Aaron macht sich ganz gut in der Rolle des Michael Oher und zieht schnell wenigstens ein bisschen Sympathie auf sich. Jae Head hingegen, der den Sohn von Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) mimt, geht einem von Anfang bis Ende auf die Nerven. Dies geht sogar so weit, dass man sich wünscht, dass er während des Autounfalls in der Mitte des Films mindestens die Sprachgabe verliert, sodass man sich seine altklugen Bemerkungen und seine an eine Kreissäge erinnernde Stimme nicht mehr anhören muss. Man muss sich schon fragen, was ein Film falsch macht, wenn er einen zu derartigen Gedanken verleitet. Immerhin kommt während des dritten Akts noch Kathy Bates hinzu, die dem Film mit ihrer kecken Art etwas echte schauspielerische Klasse verleiht. Alle anderen Darsteller sind nichts anderes als Staffage und hinterlassen auch keinerlei Eindruck, weshalb auf sie auch nicht speziell eingegangen werden soll.
Die Klischees machen auch vor den technischen Aspekten nicht Halt. Der Mainstream-Kameramann Alar Kivilo (Year One, The Lake House) bietet zwar solide Arbeit, überzeugt aber nicht mit sonderlich innovativen oder kreativen Ideen. Auch der Cutter Mark Livolsi reisst einen nicht unbedingt vom Hocker. Diese Eintönigkeit im technischen Sektor geht sogar so weit, dass der renommierte Komponist Carter Burwell, Haus-Komponist für Joel und Ethan Coen, mit einem langweiligen Score vom Fliessband enttäuscht. Alle diese Punkte laufen letzten Endes auf ein Fazit hinaus: The Blind Side ist einfach ein uninspirierter Film, der zwar eigentlich Gutes will, dies aber überhaupt nicht schafft. Und so muss man sich wieder einmal die unangenehme Frage stellen: Darf man einen Film, dessen Anliegen prinzipiell gut ist, schlecht finden? Ja, denn es ist nicht nur der Wille, der zählt. So bewegt sich John Lee Hancocks Kitsch-Vehikel auf einer ähnlichen Schiene wie John Q oder Pay It Forward.
Ist The Blind Side ein typischer Gutmenschenfilm, der zwar filmisch enttäuscht, das Herz aber am rechten Fleck hat? Nicht wirklich, da der Streifen auch vor rassistischen Untertönen nicht zurückschreckt. Zudem versetzen einen gewisse Humorversuche in Rage und die gefühlvollen Momente wirken aufgesetzt und lächerlich. Grosses Kino, ja selbst grosses Sportkino, sieht anders aus. Fans des Genres und von Sandra Bullock werden wahrscheinlich ihre Freude daran haben, der Rest des Publikums wird sich wohl fragen, was der Film soll. Der Geschichte wird The Blind Side vor allem als weiteres Zeugnis für die Unergründlichkeit der Wege der Academy in Erinnerung bleiben. Etwas anderes hat John Lee Hancock nicht verdient.