Auf Tuchfühlung: Nelson Mandela (Morgan Freeman) begrüsst zum ersten Mal die Spieler der südafrikanischen Rugbymannschaft. Captain François Pienaar (Matt Damon, Mitte) ist dem neuen Präsidenten gegenüber noch skeptisch.
4.5 Sterne
Will ein Sportfilm ein breites Publikum erreichen, muss er "menscheln". Mit anderern Worten, es müssen Kitsch, Pathos und viele, viele Emotionen darin vorkommen. In den Händen eines mittelmässigen Regisseurs - sagen wir: John Lee Hancock - würde dies zu einer klischeehaften Hollywood-Posse verkommen. Betraut man aber Clint Eastwood, den "besten lebenden Filmemacher" (Zitat aus Sight & Sound), damit, dann erlebt man eine Neudefinition des Begriffs. Bei ihm bedeutet menscheln nämlich nichts anderes als die Vermenschlichung eines Giganten der Historie - Nelson Mandela - trotz der stellenweise insinuierten Heiligkeit des südafrikanischen Aktivisten und Politikers. Der Film basiert auf dem Buch Playing the Enemy: Nelson Mandela and the Game That Changed a Nation von John Carlin und ist sicherlich kein Sportfilm aus dem Bilderbuch wie The Blind Side oder Oliver Stones Football-Drama Any Given Sunday. Abgesehen von ein paar wenigen Schlenkern in die Gefilde der Genre-Klischees ist es Eastwood mit Invictus hervorragend gelungen, ein Sportereignis in einen grösseren geschichtlichen Kontext einzuordnen.
Wie kommt Clint Eastwood dazu, sich filmischer Konvention zu ergeben? Zugegeben, gewisse Kritiker haben ihm das schon bei Changeling vorgeworfen (weshalb, sei dahingestellt). Aber im Vergleich zu gewissen Szenen in Invictus erscheint Changeling schon fast wie filmisches Neuland. Dem aufmerksamen Kinogänger wird aber nicht entgangen sein, dass Eastwood seine Filme nie selber schreibt. Das heisst, dass er jeweils seinen Drehbuchautoren ausgesetzt ist und diese einen schönen Teil des Tons seiner Filme bestimmen. Natürlich hat der alte Regie-Hase das Talent, jeden Stoff in seiner Handschrift umzusetzen. So auch Invictus.
Besonders die Actionsequenzen gegen Ende, von denen ein Grossteil in Zeitlupe gedreht wurde, sind alles andere als neu. Aber genau da macht sich das besondere Talent von Eastwood bemerkbar: Die Rugby-Spieler im Film sind echte Rugby-Spieler. Mit brillanten Aufnahmen von Spielzügen und Tacklings, unterstützt natürlich von seinem Hauskameramann Tom Stern, zieht Eastwood einen ins Geschehen auf der Leinwand und lässt einen vergessen, dass man derartige Sequenzen schon zigmal gesehen hat. Auch die Entscheidung, einen relativ kitschigen Song spielen zu lassen, während Mandela das südafrikanische Rugbyteam besucht, sorgt für Stirnrunzeln, da damit der Szene leider enorm viel Kraft geraubt wird.
Aber wie bei jedem Film, bei dem Sport eines der Hauptthemen ist, steht auch in Invictus das Menscheln im Mittelpunkt. Morgan Freeman ist elektrisierend als Nelson Mandela. Seine liebenswürdige und manchmal etwas naive Natur ist ebenso spürbar wie seine abgeklärte, berechnende und durchaus auch linkische Seite. Und wie wir es uns von Freeman inzwischen gewohnt sind, kommt auch der Humor der Figur nicht zu kurz. Vielfach lässt er mit seiner allseits beliebten Art einen Spruch fallen, über den man herzhaft lachen kann - etwa wenn er dem neuseeländischen Starspieler Jonah Lomu entgegentritt und lachend "Oh my, you frighten me!" sagt. Gleichzeitig beweist Freeman aber, dass er auch den anderen Typen Grossvater spielen kann. Seine Unterredung mit dem Captain der Rugbymannschaft, François Pienaar, sehr gut gespielt von Matt Damon, der hier einmal über seine schauspielerische Blässe hinauswächst, ist höchst eindringlich und hat tatsächlich echten Inspirationscharakter. Auch das Gedicht von William Ernest Henley, dem der Film seinen Titel zu verdanken hat, hat diese Wirkung, besonders wenn es von Morgan Freeman gelesen wird. Die Chance ist gross, dass es einem am Ende von Invictus kalt den Rück herunterläuft, wenn man ihn noch einmal "I am the master of my fate: I am the captain of my soul" zitieren hört.
Aber wo kommt denn da das Menscheln ins Spiel? Nun, etwa wenn Mandela in seinem Büro einen Spielplan der Rugby-WM aufgestellt hat und die Teams in der K.O.-Runde von Hand einträgt. Oder wenn er vor dem Finale mit dem neuseeländischen Präsidenten eine Wette abschliesst ("How about a little bet?" - "Okay, how about all your country's diamonds against all my country's sheep?" - "Heh, heh, I was thinking more along the lines of a crate of wine.").
Ein Problem des Drehbuchs von Anthony Peckham, bekannt als Co-Autor von Guy Ritchies Adaption von Sherlock Holmes, ist, dass es eine gewisse Ambiguität aufweist - Mandela betont stets, dass er nur ein einzelner Mann ist, doch im Verlauf des Films wird jeweils auf das Gegenteil angespielt. Man könnte dies allerdings auch als leichte Ironie interpretieren, wenn man bedenkt, dass der grosse Nelson Mandela vergeblich gegen seine Heiligsprechung ankämpft. Und es ist wohl nicht zu vermeiden, dass ein Film, der sich um "Madiba" dreht, aufzeigt, was dieser Mann in seinem Leben alles ertragen musste. Zudem kann man dem Umstand, dass Mandela den Leuten, die ihn ins Gefängnis steckten, fast bedingungslos vergab, einen faszinierenden Aspekt nicht absprechen.
Peckham verdient sich aber auch viel Lob. Der bis zu diesem Punkt angeführte Tadel fällt beim letztendlichen Filmgenuss kaum ins Gewicht. Mit diesen kleineren Mängeln lässt sich leben, vor allem wenn der Storyaufbau dermassen gut gelungen ist wie hier. Tatsächlich vermag Invictus durch seine Geschichte, deren Wendungen eigentlich alle schon kennen, zu glänzen. Der Film ist überaus spannend erzählt und besticht durch eine schöne Ausgewogenheit zwischen Charakterstudie Mandelas und Pienaars, actionreichen Sportszenen, hochinteressanten Subplots - hier sticht sicherlich die Mikrokosmos-Abhandlung des Post-Apartheid-Südafrikas hervor, in welcher schwarze Sicherheitskräfte auf afrikaanische treffen -, sowie historischen Fakten. Zwar wurde beispielsweise an der Episode des über das Ellis-Park-Stadion fliegenden Flugzeugs etwas herumgebastelt - die Leibwächter Mandelas waren über die Aktion informiert -, aber wenn daraus eine Szene gemacht wird, die auf wunderschöne Art und Weise den neugewonnenen Zusammenhalt des südafrikanischen Volkes illustriert, dann hat der Zuschauer eigentlich nicht das Recht, sich darüber zu enervieren. Auch die Dialoge, in denen über Südafrikas Scheideweg philosophiert wird, sind sehr interessant und geben einem eine Ahnung davon, vor was für einer riesigen Herausforderung Mandela nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 stand und wie bravourös er sie letztendlich gemeistert hat.
Die letzte Frage, die sich stellt, ist die nach der Integrität Clint Eastwoods. Nach seinen eher düster angehauchten Dramen des letzten Jahrzehnts (Mystic River, Million Dollar Baby, Changeling, Gran Torino) kam mit Invictus nun ein merklich leichterer Stoff in die Kinos. Man könnte sogar soweit gehen und sagen, dass es sich um einen Feelgood-Streifen handelt, vergleichbar mit Looking for Eric, zum Beispiel. Verwerflich ist dies keineswegs. Eastwood bleibt sich selber treu: Er nimmt sich der Stoffe an, die ihm als geeignet erscheinen. Und genau deswegen hat ihn wohl das Sight & Sound als "besten lebenden Regisseur" gefeiert.
Er mag den direkten Vergleich mit Gran Torino verlieren, aber dennoch ist Invictus ein höchst unterhaltsamer und bekömmlicher Film, den man sich nicht entgehen lassen sollte. Für Sportfans hält er packende Rugby-Szenen bereit, für Historiker sind sicherlich die Exkurse in die politische Lage in Südafrika in der Zeit nach der Apartheid von Interesse. Trotzdem verliert Clint Eastwoods neustes Werk dadurch überhaupt nicht an Stringenz, vielmehr verwandelt es sich dadurch in ein äusserst vielschichtiges Erlebnis. Da freut man sich doch gleich auf das nächste Projekt des Regisseurs: Hereafter, ein übernatürlicher Thriller nach einem Drehbuch von Peter Morgan (The Queen, Frost/Nixon, The Damned United).