Traumspione: Dom Cobb (Leonardo DiCaprio, rechts) und Arthur (Joseph Gordon-Levitt) müssen sich mit ihrem Team durch den eingepflanzten Traum ihres Opfers navigieren.
5.5 Sterne
Film ist ein wunderbares Medium, dem aber leider die kreativen Köpfe ausgehen. Selten bekommt man im Kino wirklich neue Dinge zu sehen, stattdessen muss man sich mit mal guten, mal schlechten Derivaten von bereits Gesehenem begnügen. Sieht man aber einen Film wie Inception, das neuste Werk des Regisseurs der Stunde, Christopher Nolan, dann erinnert man sich daran, dass noch nicht alle Hoffnung verloren ist, zumindest im Thriller- und Science-Fiction-Genre, in welchem der Brite primär tätig ist. Nach dem Hit The Dark Knight fragten sich viele, ob sich Nolan wirklich noch verbessern kann. Inception beantwortet diese Frage auf eine beeindruckende Weise mit Ja und stillt gleichzeitig jene leisen Zweifel an der Qualität des Films, die sich nach dem gigantischen Hype im Vorfeld doch eingestellt haben. Nolan hat es sehr gut verstanden, die positiven Aspekte aus seinen vorherigen Filmen, vor allem aus seinen beiden Batman-Adaptionen, zu extrahieren und sie nun in eine eigene Vision zu integrieren. Was dabei herauskommt, ist ein enorm fantasievolles Fest für die Augen und das Gehirn.
Das Beste an Inception ist etwas, was viele Actionfilme heute vermissen lassen: Stringenz. Leute, die bei diesem Film zu spät kommen, sind nur zu bemitleiden, denn wenn man hier einen Moment verpasst, dann ist man nicht mehr fähig, das Ganze in all seiner Komplexität zu erfassen und zu geniessen. Inception ist einer dieser Filme, der keine Unaufmerksamkeit verzeiht und davon ausgeht, dass das Publikum bereit ist, sich zweienhalb Stunden zu konzentrieren. Ein Albtraum für die Popcorn-Industrie? Wohl kaum, da das Internet schon voll ist mit Berichten von Kinogängern, die sich beklagen, der Streifen sei zu kompliziert und verschachtelt. Stellen wir etwas klar: Das stimmt nicht! Wer dem Plot nicht folgen konnte, hat schlicht und ergreifend nicht aufgepasst. Diese Stringenz zeigt, dass Christopher Nolan bessere Geschichten entwerfen kann, wenn er sich auf kein Quellenmaterial verlassen muss und sich frei ausbreiten kann. Vor allem The Dark Knight hatte mit einer etwas allzu losen Story zu kämpfen. Nicht so Inception. Die Geschichte kommt sehr solide daher, überzeugt mit einem faszinierenden Thema und bietet eine vielschichtige Erzählweise.
In einem Film auf Träume einzugehen, ist keineswegs neu. Wir alle kennen Michel Gondrys poppigen Eternal Sunshine of the Spotless Mind oder Terry Gilliams dystopischen Brazil, doch Inception geht die Sache etwas anders an: Der Film setzt voraus, dass es möglich ist, Träume zu teilen, sodass man gemeinsam in den Traum einer Person eindringen kann. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, dem Unterbewusstsein Geheimnisse zu entreissen. Was nach Mystery und Psychologie klingt, hat in Christopher Nolans Film allerdings eine ganz banale und wahrscheinlich deshalb einigermassen plausible Anwendung: Werksspionage. Firmen lassen ihre Konkurrenten durch professionelle "Extraktoren" ausspionieren, sodass sie an ihre Geheimnisse kommen. Worum es im Film aber tatsächlich geht, ist "Inception", ein experimentelles Verfahren, mit dem einer Person eine Idee eingepflanzt werden kann. Daraus folgen natürlich erzählerische Kniffe, die man beinahe schon erwartet - die Kulmination davon ist ein Traum in einem Traum in einem Traum in einem Traum -, aber ebenso viele Dinge, die einen positiv überraschen. Da helfen selbstredend auch die fantastischen Spezialeffekte, die, egal ob einfache Explosionen, "gewöhnliches CGI" - ein sich zusammenfaltendes Paris - oder atemberaubende Actionsequenzen in einem Hotelflur mit sich stetig verändernder bis nicht mehr vorhandener Schwerkraft - mit Anspielungen auf The Matrix und Mission Impossible -, ihren Zweck niemals verfehlen. Mitverantwortlich dafür ist sicher auch Nolans Haus-Kameramann Wally Pfister, der inzwischen weiss, wie man einen Actionfilm wirkungs- und stimmungsvoll bebildert. Der Film verkommt zum Glück niemals zur reinen Materialschlacht. Die Effekte und die Action ordnen sich der Story unter, wie es sich gehört. Auch der persönliche Konflikt von Dom Cobb, der Hauptfigur, sehr gut gespielt von Leonardo DiCaprio, wirkt nicht aufgesetzt, sondern verleiht Inception einen glaubwürdigen dramatischen Touch, der einen besonders am Ende mitreisst. Was man Nolans Drehbuch eventuell ankreiden könnte, sind ein paar wenige, leicht gestellt wirkende Dialoge, die man aber mühelos erträgt. Das Ende hingegen ist eine Sache für sich. Es wurde bereits viel darüber geschrieben und diskutiert. Es lässt sich sagen, ohne den Film für jemanden, der ihn noch nicht gesehen hat, zu ruinieren, dass die Hauptfigur immer mehr Gefahr läuft, Realität und Traum nicht mehr auseinanderhalten zu können. So gesehen war es eine gute Entscheidung, den Film offen enden zu lassen. So kann jeder die Frage für sich selbst beantworten. Andernfalls wäre die Hälfte des Publikums enttäuscht und würde lamentieren, es habe ihnen schon gefallen, nur das Ende sei nicht gut.
Einer der Gründe, weshalb Inception dermassen sehnlich erwartet wurde, war der hochkarätige Cast. Leonardo DiCaprio, dessen Figur stark an seine Rolle in Martin Scorseses Shutter Island erinnert, wurde bereits erwähnt, aber er ist mit seiner guten Leistung nicht allein. Die Schauspieler sind ein Musterbeispiel für einen hervorragenden Ensemble-Cast. Joseph Gordon-Levitt zeigt nach (500) Days of Summer, dass er auch in einem Thriller glänzen kann - mit schelmischer Coolness -, Ellen Page spielt einmal mehr ihre Stärke in dramatischen Rollen aus, während Cillian Murphy der möglicherweise etwas künstlichen Figur des Robert Fischer - der vom Vater verschmähte Snob - einen angenehmen Tiefgang verleiht. Die beste Schauspielleistung des Films kommt allerdings von Ken Watanabe. Seine Performance ist kraftvoll und beeindruckt insbesondere in den Szenen, in denen er in Cobbs Seele zu blicken scheint. In weiteren Rollen sind eine wunderbar teuflische Marion Cotillard als Hauptantagonistin - Cobbs Projektion seiner toten Frau -, ein verschmitzt-sarkastischer Tom Hardy, der ein paar herrlich trockene Sprüchen zum Besten gibt, und Tom Berenger, der zum ersten Mal seit Training Day (2001) wieder bei einer Grossproduktion dabei ist, zu sehen. Auch erwähnenswert sind die Gastauftritte von Michael Caine, der sich in Nolans Filmen sehr wohl zu fühlen scheint, als Doms Schwiegervater, Lukas Haas als ursprünglicher Traumarchitekt des Teams DiCaprio/Gordon-Levitt und Pete Postlethwaite, der nicht viel mehr zu tun hat, als sterbend auf einem Bett zu liegen. Doch wir kennen ihn gut genug, um zu wissen, dass er auch in so einer Rolle die personifizierte Würde ist.
Neben Wally Pfister und einem grossen Teil des Casts von Batman Begins findet sich in der Crew von Inception noch eine weitere Person, für die das Arbeiten mit Christopher Nolan nichts Neues ist: Hans Zimmer. Der bereits legendäre Filmkomponist hat sich wieder einmal um den Score gekümmert. Seine Musik rundet den ohnehin schon düsteren Ton des Films hervorragend ab.
Ist es nicht schön, wenn ein Film zurecht gehypt wird? Wenn man mit hohen Erwartungen ins Kino geht und der Film diese sogar noch übertrifft? Das ist Inception. Sieht man ihn sich an, bekommt man Unterhaltung auf höchstem Niveau zu sehen. Verfolgungsjagden, Action und Effekte sind zwar da, aber sie ersetzen weder die Substanz noch die Geschichte. Wenn Christopher Nolan auf diesem Weg bleibt und es ihm weiterhin gelingt, die Balance zwischen Augenschmaus und filmischer Gehirnnahrung zu halten, dann hat er noch viel vor. Und das klassische Erzählkino wird noch lange nicht sterben. Im Gegenteil: Dank Nolans geschickten Modernisierungen könnte es ein regelrechtes Comeback feiern. Hoffen wir, dass das kein Traum ist.