Mittwoch, 29. Dezember 2010

The Kids Are All Right

Familienidyll? Samenspender Paul (Mark Ruffalo, rechts) zu Besuch bei der Familie, die es dank seiner Spende gibt: Eltern Nic (Annette Bening, links) und Jules (Julianne Moore, 2.v.l.) und Kinder Laser (Josh Hutcherson) und Joni (Mia Wasikowska).

4.5 Sterne

Wenn man versucht, Leuten die Frage zu beantworten, worum es in The Kids Are All Right geht, dann kommt man nicht darum herum, den Begriff "lesbisches Elternpaar" fallen zu lassen. Die Reaktion, die man aller Wahrscheinlichkeit nach erntet, ist: "Oh nein, schon wieder so ein Hollywood-Emanzipationsschinken!" Es stimmt, dass die Homosexualität in den letzten Jahren von der Filmindustrie quasi zu Tode thematisiert wurde. Natürlich ist es eine immens wichtige Angelegenheit, aber beim durchschnittlichen Kinogänger setzt irgendwann doch der Überdruss ein. Aus diesem Grund wohl wurde The Kids Are All Right hierzulande von nicht allzu vielen gesehen, was ein Jammer ist, da Lisa Cholodenkos Film Hollywoods Idee, man müsse der breiten Masse Homosexualität als etwas Positives "verkaufen", hinter sich lässt. Cholodenko zeigt keine prüden Nachbarn, die sich über das gleichgeschlechtliche Paar empören, und keine wegen ihrer Eltern sozial ausgegrenzten Kinder. Stattdessen beschäftigt sie sich mit gnadenlosem Realismus mit den Konflikten der scheinbar perfekten amerikanischen Vorstadtfamilie, die nicht auf sexueller Gesinnung gründen.

Was für eine Art Film ist The Kids Are All Right? Diese Frage stellt man sich, sobald man den Kinosaal verlässt. Einerseits ist es naürlich ein Familiendrama mit einer Geschichte, die man in ähnlicher Form schon ein paar Mal gesehen hat. Andererseits ist es auch eine doppelbödige Komödie, die stellenweise an Little Miss Sunshine oder Juno erinnert. Aber damit wird man dem Film nur halbwegs gerecht. Manchmal wähnt man sich in einer Satire, dann wieder in einem Coming-of-Age-Film, nur um anschliessend das Gefühl zu haben, man wohne einem Beziehungsmelodram bei. Diese Vielfältigkeit lässt sich zwar insofern durch das äusserst reale Drehbuch von Lisa Cholodenko und Stuart Blumberg erklären, als dass das Leben auch kein streng definiertes "Genre" hat, doch als Kinozuschauer wünscht man sich doch eine mehr oder minder klare Linie. Zugegeben, es fällt schwer, den Drehbuchautoren diese Sprunghaftigkeit, diese Unentschlossenheit, was ihr Film denn nun eigentlich sein soll, zum Vorwurf zu machen, da ihr Endprodukt dadurch noch realistischer wirkt. Dennoch wäre eine teilweise Vereinheitlichung des Tonfalls wohl keine schlechte Idee gewesen.

Aber es sollte festgehalten werden, dass es nicht einfach ist, The Kids Are All Right zu mögen, vermutlich deshalb, weil der Film sich keine Vereinfachung der Realität erlaubt. Die Grundgeschichte mag nicht sonderlich originell sein - die zwei Kinder lesbischer Eltern wollen ihren leiblichen Vater, den anonymen Samenspender, treffen und freunden sich mit ihm an, woraufhin er der Familie langsam näher kommt und damit für Spannungen sorgt -, doch die Dialoge und Konflikte sind mitten aus dem Leben gegriffen. Das erste Treffen von Laser und Joni mit ihrem biologischen Vater ist an Verlegenheit kaum zu überbieten und ist alles andere als einfach zu ertragen. Unangenehmes Lächeln, ausgedehnte Pausen, das verzweifelte Suchen nach Gespächsthemen - wer kennt das nicht? Cholodenko und Blumberg haben die Gefühlslage der Charaktere optimal eingefangen; wie unterhält man sich mit jemandem, der vor 19 Jahren Samen gespendet hat, aus dem man selber entstanden ist? Und auf der anderen Seite: Wie führt man ein Gespräch mit dem Resultat einer lange vergangenen finanziellen Notlage? Auch umgeht der Film mit dem Thema verbundene Klischees. Mit Schrecken erinnert man sich an Made in America, wo es darum ging, dass ein schwarzes Mädchen aus der Samenspende eines arroganten Weissen hervorging. Nein, Paul ist ein liebenswerter, wenn auch leicht selbstgefälliger Enddreissiger, dem ein kleines Bio-Restaurant gehört. Was lernen wir daraus? Charaktere müssen keine extremen Eigenschaften oder Fehler haben, um für interessante Konflikte zu sorgen. Doch es ist gerade diese Normalität, die es so schwer machen, The Kids Are All Right etwas abgewinnen zu können. Oftmals, auch in ansonsten relativ realistischen Streifen, sind Figuren und Situationen dermassen überzeichnet, dass der Bezug zur Realität trotz allem verloren geht. Cholodenkos Protagonisten sind jedoch dermassen "normal", im Rahmen der menschlichen Möglichkeit mindestens, dass wir uns problemlos in ihnen wiederfinden, was nicht immer eine angenehme Erfahrung ist.

Doch dieser radikale Realismus hindert den Film nicht daran, eine durchaus spannende und sehr humorvolle Geschichte zu erzählen. Es ist faszinierend zu sehen, wie die Figuren miteinander in Verbindung stehen und interagieren. Und da zeigt sich wieder die bewundernswerte Nonchalance, mit der das Thema der homosexuellen Eltern behandelt wird: Joni und Laser haben nicht das Gefühl, dass ihnen ein männlicher Elternteil fehlt, sie sind bloss neugierig, wer ihr leiblicher Vater ist. Lediglich die Überfürsorglichkeit ihrer beiden Mütter geht ihnen auf die Nerven - ein Problem, welches auch Teenager mit "traditionellen" Eltern gut kennen. Entsprechend sehen beide in Paul eine Art Alternativ-Vorbild, da er eine ziemlich antiautoritäre Philosophie pflegt. Paul wiederum, konfrontiert mit der Tatsache, dass er, zumindest vom biologischen Standpunkt her, eine Familie hat, beginnt sein Junggesellenleben zu hinterfragen. Was daraus folgt, ist eine Affäre mit Jules, Jonis und Lasers Mutter, was das Eheleben Jules' und Nics, sowieso schon erschwert durch Nics Weinkonsum, vollends aus dem Tritt bringt. Wie diese generationsübergreifenden Probleme miteinander verkettet sind, ist schlicht beeindruckend. Dass es dem Film zusätzlich noch gelingt, das Ganze mit streckenweise sehr unterhaltsamen Dialogen auszustatten, verdient ebenfalls Anerkennung.

Was The Kids Are All Right aber am meisten auszeichnet, sind die Schauspieler. Der Cast ist klein, was jedem einzelnen Mitglied ermöglicht, seiner Figur besonders viel Tiefe zu verleihen. Josh Hutcherson glänzt in der Rolle des orientierungslosen Laser. Die Szene, in der er einen streunenden Hund davor bewahrt, von seinem "Freund" Clay gequält zu werden und Clay daraufhin die Freundschaft aufkündigt, zeigt Hutchersons breites schauspielerisches Spektrum. Ebenso Mia Wasikowska, bekannt als 19-jährige Alice in Tim Burtons Alice in Wonderland. Ihre Joni leidet darunter, dass sie das "perfekte Kind der lesbischen Eltern" sein muss. Aus diesem Grund leidet auch sie an der Orientierungslosigkeit ihres Bruders; sie weiss nicht, was für eine Beziehung sie zu ihrem platonischen (?) Freund unterhalten soll, sie kann sich nicht so recht entscheiden, ob sie ihre Freundin um deren sexuelle Offenheit beneidet, und sie sich vor allem nicht sicher, ob sie wirklich so erwachsen ist, wie sie es sich einredet. Fast jede Szene mit Joni, vor allem gegen Ende des Films, platzt fast vor emotionaler Spannung, und Wasikowska holt alles aus ihr heraus. überhaupt ist The Kids Are All Right voll mit Subtext. Kaum eine Bewegung ist keine verschwiegene Gefühlsregung. Um dies wirklich überzeugend zu spielen, braucht es hochkarätige Schauspieler und Cholodenkos Entscheidung, Annette Bening und Julianne Moore als Hauptdarstellerinnen zu casten, hätte nicht besser sein können. Bening (Nic) und Moore (Jules) geben jeden Aspekt einer gefährdeten Beziehung perfekt wieder. Der schauspielerische Höhepunkt des Films ist jedoch Mark Ruffalo. So gewinnend Paul auch ist, er ist letztendlich eine tragische Figur, da er die Freundschaft mit seinen biologischen Kindern nach seiner Affäre mit Jules aufgeben muss. Ruffalo vermag diese Tragik hervorragend zu vermitteln. Wer ihn bis jetzt als dramatischen Schauspieler nicht ernst genommen hat, wird hier eine Götterdämmerung erleben.

Lisa Cholodenko erzählt mit The Kids Are All Right keine sonderlich originelle Geschichte. Doch wie im echten Leben sind es die Protagonisten, die den Unterschied ausmachen. Der Film ist die Studie von Familiendynamiken während einer Zerreissprobe. Dass dabei die Familienoberhäupter zwei Frauen sind, ist ein zentrales Thema, aber nicht das Problem der Sache. Das Problem der Sache ist die Instabilität der Institution Familie. Jegliche Fremdkörper haben das Potential, den Verbund zu sprengen. So gesehen ist Cholodenkos Film ein wichtiger Beitrag zur Diskussion, ob sich die Idee der Familie überlebt hat. Der Realismus von The Kids Are All Right mag nicht massentauglich sein, aber wer wieder einmal eine gute Tragikomödie/Beziehungsdrama mit viel Subtext sehen will, der sollte ihn sich keinesfalls entgehen lassen.

Montag, 22. November 2010

Harry Potter and the Deathly Hallows: Part 1

Weitergabe des Auftrags: Noch-Zaubereiminister Rufus Scrimgeour (Bill Nighy, links) verliest das Testament von Albus Dumbledore, der Harry (Daniel Radcliffe, rechts), Ron (Rupert Grint) und Hermione (Emma Watson) einige Dinge hinterlassen hat.
 
5.5 Sterne

Als bekanntgegeben wurde, dass Harry Potter and the Deathly Hallows in zwei Teilen veröffentlicht würde, überschlugen sich die zynischen Kommentare unter Filmkennern und Buchfans: Warner Brothers wolle seine goldene Gans noch so lange wie möglich ausschlachten, das Ganze sei eine gigantische Geldmacherei und den treuen Harry-Potter-Freaks werde das Geld schamlos aus der Tasche gezogen - dies waren Äusserungen, die man allenthalben hören konnte. Dabei war die Zweiteilung der Geschichte vermutlich die beste Idee, welche die Produzenten für die Filmserie je hatten. Als Einzelfilm hätte die Verfilmung des letzten Teils von J.K. Rowlings Saga wohl alle enttäuscht; zu dicht ist die Handlung, zu viele Handlungsstränge und Charakterkonflikte werden zusammengeführt und aufgelöst. Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 1 dürfte die meisten Kritiker befriedigen. Und obwohl der Film nicht perfekt ist, so ist es doch irgendwie die Harry-Potter-Verfilmung, die wir uns alle ursprünglich erträumt haben.

Die Qualität der Tragödie erster Teil kann im Prinzip mit einem einzigen Satz beschrieben werden: Wo Harry Potter and the Half-Blood Prince schwächelte, triumphiert sein Nachfolger - und umgekehrt, mehr oder weniger. Drehbuchautor Steve Kloves brachte 2009 das Kunststück fertig, die heterogene Geschichte des sechsten Harry-Potter-Bandes, dem etwas der rote Faden fehlte, in einen verdichteten, stringenten Film zu verwandeln. Dafür musste man als Buchkenner allerdings den stellenweise etwas zu lockeren Umgang mit der ursprünglichen Story hinnehmen. Scheinbar sinnlose Dinge wurden dazugedichtet, essentielle Eckpunkte des Plots wurden übergangen oder radikal gekürzt. Das gibt es bei Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 1 nicht. Keiner der vergangenen sechs Filme - inklusive diejenigen unter der Regie von Chris Columbus - hält sich so genau an die literarische Vorlage wie David Yates' neuster Wurf. Kaum eine entscheidende Szene fehlt, keine Sequenz widerspricht der Aussage des Buches, kleine Details, welche auch in geschriebener Form den Plot nicht zwingend vorantreiben - beispielsweise die Staubfigur von Albus Dumbledore, die Eindringlinge aus Sirius Blacks altem Haus vertreiben soll -, werden gezeigt, "vergessene" Charaktere rücken endlich etwas mehr in den Vordergrund - allen voran Mundungus Fletcher -, und Dialoge werden Wort für Wort wiedergegeben - etwa der unübersetzbare und wunderbar lakonische "Hol(e)y"-Dialog der Weasley-Zwillinge Fred und George oder Hauself Dobbys fantastischer Einzeiler "Dobby never meant to kill; Dobby only meant to maim... or seriously injure!". Der Grund für diese plötzliche Detailverliebtheit, die wohl jeden eingefleischten Fan der Materie erfreuen wird, ist in der Geschichte selbst zu suchen: Harry Potter and the Deathly Hallows ist das einzige Buch der Serie, welchem nicht der Schullalltag in Hogwarts zugrunde liegt. So verliert die Handlung die Kapazität zu mäandern und grössere Umwege zu nehmen. Zwar enthält auch der siebte Teil so etwas wie Nebenplots, aber da sich diese ausschliesslich um die drei Hauptfiguren drehen und direkten Einfluss auf den Lauf der Geschichte nehmen, konnten es sich David Yates und Steve Kloves nicht leisten, sich gross an ihnen zu vergreifen. Doch was hat Harry Potter and the Half-Blood Prince nun seinem Nachfolger voraus? Die Stringenz. Diese fehlt dem neuen Film etwas. Dennoch kommt keinerlei Langeweile auf, da das Geschehen immer zu begeistern vermag.

Aber Kloves' Drehbuch beschränkt sich nicht nur auf das genaue Wiedergeben der Originalstory. Harry Potter and the Deathly Hallows ist ein Buch, welches sehr viel Wert darauf legt, was in den Köpfen der Charaktere vor sich geht. Kloves hat es gemeinsam mit Regisseur Yates und Kameramann Eduardo Serra, der in einigen Szenen so einfallsreich mit Licht und Schatten spielt, dass man das Gefühl hat, Bruno Delbonnel wäre immer noch am Werk, wunderbar verstanden, die emotionalen inneren Konflikte der Protagonisten fast wortlos wiederzugeben. Eine diesbezügliche Schlüsselszene ist die erste des Films: Hermione löscht die Erinnerungen ihrer Eltern an sie, Harry sieht mit unverkennbar melancholischer Miene zu, wie sich die von ihm eigentlich gehassten Dursleys in Sicherheit bringen, und Ron distanziert sich langsam von der Geborgenheit seiner Familie - alle drei schliessen auf ihre eigene Art mit ihrer Kindheit ab und stellen sich ihrem Schicksal.

Auch glänzt der Film durch Experimente, von denen man in der Serie bisher noch nicht allzu viele sehen durfte. Die von Hermione vorgelesene Fabel der drei Brüder - die Geschichte der Heiligtümer des Todes - wird dem Zuschauer zum Beispiel als animierte Sequenz mit schemenhaften Figuren präsentiert - ein Treffer ins Schwarze: Die Szene ist eine der besten der Serie. Diese Freiheiten, die sich die Filmemacher nahmen, zeigen sehr schön auf, warum die Entscheidung, Harry Potter and the Deathly Hallows in zwei Teile zu teilen, eine brillante Eingebung war: Einerseits fällt jeglicher Zeitdruck von der Geschichte ab, weshalb sie sich vollständig entfalten kann und einen eleganteren Erzählfluss und eine detailliertere Charakterstudie erlaubt; andererseits schliessen sich bei so viel zur Verfügung stehender Zeit filmische Eigenständigkeit und Werktreue nicht aus. Ausserdem kann der Film so eine sehr nuancierte Atmosphäre erzeugen; Action- und Gruselszenen werden langsam und sorgsam aufgebaut und wenn sie da sind, wird das Maximum aus ihnen herausgeholt. Ein weiteres Verdienst der Zweiteilung ist die Rückkehr der "kleinen" Szenen, die David Yates besonders gut beherrscht. Immer wieder nimmt sich der Film Zeit, persönliche Momente, die den Plot nur indirekt vorantreiben, zu unterstreichen; so etwa Rons Versuch, Hermione "Für Elise" auf dem Klavier nachzuspielen; der spontane Tanz von Harry und Hermione, der, obwohl stumm, unglaublich viel über das Innenleben der Figuren verrät; oder Hermione, die pötzlich den Gedanken äussert, einfach in einem ruhigen Waldstück, in dem sich nie etwas zu verändern scheint, zu bleiben und alt zu werden - alles Szenen, die, gemessen an ihrer poetischen Kraft, ihresgleichen in der Serie suchen.

Nicht nur die Charaktere haben sich seit Harry Potter and the Philosopher's Stone verändert; auch die Schauspieler selbst. Daniel Radcliffe, Rupert Grint und Emma Watson sind so Darsteller mit einem vor allem unter Jugendlichen enorm hohen Wiedererkennungswert geworden. Aber wie steht es um ihr schauspielerisches Talent? Nun, in diesem Bereich hat sich seit Harry Potter and the Half-Blood Prince kaum etwas verändert: Watson sticht als die begabteste Hauptdarstellerin hervor und erreicht überraschend viel mit einzelnen Gesichtsausdrücken. Doch auch Radcliffe und Grint zeigen, dass sie sich seit 2001 stetig verbessert haben.

Die Nebendarsteller haben wie immer nicht allzu viel Screentime, bemühen sich aber sichtlich, einen Eindruck zu hinterlassen. Am besten gelungen ist dies sicherlich Brendan Gleeson - dessen Sohn Domhnall übrigens Bill Weasley mimt -, der vor dem Tod seiner Figur noch einmal ihren ganzen Sarkasmus aufleben lässt. Aber auch Jason Isaacs nutzt seine kurzen Auftritte, um Lucius Malfoy so dreidimensional wirken zu lassen wie es Tom Felton in Harry Potter and the Half-Blood Prince mit Draco gemacht hat. Neben den üblichen Verdächtigen (David Thewlis als Lupin, Robbie Coltrane als Hagrid, Julie Walters und Mark Williams als Weasley-Eltern, James und Oliver Phelps als Weasley-Zwillinge, Evanna Lynch als Luna, Alan Rickman als Snape, Ralph Fiennes als Voldemort, Helena Bonham Carter als Bellatrix Lestrange, Timothy Spall als Wormtail) gesellten sich einerseits zwei Neuzugänge zum Cast dazu - Rhys Ifans als Xenophilius Lovegood und Bill Nighy als Zaubereiminister Rufus Scrimgeour - und andererseits kehrte ein prominenter Schauspieler in die Serie zurück - John Hurt als Zauberstabmacher Ollivander. Letzterer ist zwar kaum zu sehen, wird aber am Anfang von Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 2 seinen Auftritt haben. Nighy hingegen holt in zwei Szenen das Letzte aus seiner Figur heraus. Man hat Nighy zwar schon subtiler spielen gesehen, aber er macht dennoch eine gute Figur als pathetischer Politiker. Und Rhys Ifans findet genau die richtige Balance zwischen der tragischen und der lustigen Seite von Mr. Lovegood.

Schlussendlich soll auch die wunderschöne Ausstattung von Andrew Ackland-Snow und Stephanie McMillan Erwähnung finden. Nicht nur wirken die Sets und Requisiten echt und atmosphärisch, sie lassen einen auch immer wieder unterhaltsame Kleinigkeiten wie Pamphlete im Stile der amerikanischen Anti-Kommunismus-Ära oder Anspielungen an frühere Filme entdecken.

Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 1 ist genau das, was der Titel verspricht: Ein Teaser. Der Film endet mit Lord Voldemorts Ergreifung des mächtigsten Zauberstabs der Welt, also mit einem Cliffhanger sondergleichen. Dass dies gewisse Kinogänger frustriert, ist verständlich, aber es darf nicht zum Kritikpunkt erhoben werden. Das furiose Finale wird im zweiten Teil, der im Juli 2011 in den Kinos startet, sicherlich kommen, aber der Wert des ersten Teils darf auf keinen Fall ausser Acht gelassen werden. Obwohl primär die Voraussetzungen für einen krachenden letzten Akt geschaffen werden, ist es ein eigenständiger Film, der den Zuschauer noch einmal tief durchatmen lässt und die ruhigen und langsameren Momente, die während der Serie immer einen besonderen Reiz hatten, zelebriert. Es ist möglicherweise sogar der beste Film der Serie bis jetzt. Wenn der zweite Teil qualitativ am ersten Teil anknüpft, dann kann man sich auf einen gelungenen Serienabschluss freuen.

Montag, 11. Oktober 2010

The Social Network

Noch trifft man sich in der Realität: Mark Zuckerberg (Jesse Eisenberg, rechts) und sein Noch-Bester-Freund Eduardo Saverin (Andrew Garfield) planen ihren Internet-Coup schon auf dem Harvard-Campus.

6 Sterne

Facebook ist sicherlich die bahnbrechendste Neuerung, die das Internet in den letzten zehn Jahren erfahren hat. Die Idee, per sozialem Netzwerk mit der ganzen Welt verbunden zu sein, ist einfach, aber genial, und hat die vom Harvard-Studenten Mark Zuckerberg ins Leben gerufene Website quasi zum "Internet im Internet" gemacht. In letzter Zeit erhielt der inzwischen 26-jährige Zuckerberg, seines Zeichens der jüngste Milliardär der Welt, weniger Aufmerksamkeit seiner Genialität wegen, sondern eher, weil er gleich an mehreren Fronten gegen Plagiatsklagen kämpfen musste. Entsprechend verlor er innert kürzester Zeit enorm an Ansehen und musste erleben, wie auf seiner eigenen Website Myriaden von Hassgruppen gegen ihn gegründet wurden. Erschwerend hinzu kamen auch die Vorwürfe, Facebook nähme es mit dem Datenschutz nicht so genau und so wurde aus dem Internet-Wunderkind Amerikas der Buhmann einer ganzen Generation von Internet-Usern, die sich auf einmal um ihre Privatsphäre sorgten. Dass dieser Reaktion eine gehörige Portion Heuchelei anhaftet, soll hier nicht genauer unter die Lupe genommen werden, denn hier geht es um den neusten Film von David Fincher (Fight Club, Se7en) - The Social Network, basierend auf dem Buch The Accidental Billionaires von Ben Mezrich -, der sich mit der Person Zuckerberg auseinandersetzt und essentielle Fragen nach Gier, Freundschaft, Berühmtheit und, nicht zuletzt, nach der Illusion des virtuellen Freundeskreises stellt. Grosses Kino.

Auf dem Papier sieht das von Fincher und Drehbuchautor Aaron Sorkin (Charlie Wilson's War, A Few Good Men) initiierte Unterfangen eigentlich unmöglich aus. Wie soll man die Geschichte einer Website, in der Programmieren, Codieren und fortgeschrittene Computersprache eine wichtige Rolle spielen, in eine mitreissende Story verwandeln? Ganz zu schweigen von den Rechtsstreitereien, welche die Rahmenhandlung von The Social Network bilden. Die Antwort erscheint plump: Man verleiht dem Film das höchstmögliche Tempo. Das verlangt zwar die geistige Mitarbeit des Zuschauers, doch wie man seit Inception weiss, ist das keineswegs als Vorwurf zu verstehen. Sorkins Drehbuch ist voll von rasanten Dialogen und blitzschnellen Wendungen, doch niemals kommt die sorgfältige Charakterentwicklung zu kurz, die auch zu den Gründen gehört, warum The Social Network ein dermassen grandioses Stück Film ist. Exemplarisch dafür steht die Anfangsszene, die das Zeug dazu hat, einen unvorbereiteten Kinogänger zu überrollen. Das Jahr ist 2003, der Ort eine Studentenbar, in der Mark Zuckerberg mit seiner Noch-Freundin über gefühlte zehn Themen gleichzeitig spricht und sie dabei weder ansieht, noch, so scheint es, richtig ernst nimmt. Es wird nur geredet, und das in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit; doch diese Szene, eine Zelebrierung von Sorkins Schreibtalent, reicht vollauf, um den Zuschauer ins filmische Geschehen hineinzuziehen. Man sei gewarnt: Nach dieser Eröffnung brummt einem der Kopf. Das Gespräch mündet darin, dass sich die Noch-Freundin, Erica, plötzlich in eine Ex-Freundin verwandelt und Mark frustriert und wütend zurücklässt. Und so beginnt die grösste Erfolgsgeschichte des 21. Jahrhundert. Sorkin und Fincher ergeben sich aber nie der Versuchung, aus der Entwicklungsgeschichte von Facebook eine globale Handlung zu spinnen. Der Film ist voll und ganz auf Mark Zuckerberg und sein Umfeld fokussiert. Und wie es sich für eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert, eigentlich gehört, hält sich The Social Network mit der Moralkeule zurück und lässt den Zuschauer entscheiden, wer Pro- und wer Antagonist ist. Niemals wird Mark Zuckerberg als reiner Bösewicht aufgebaut, so wie es seine Hassgruppen auf Facebook wohl gerne gesehen hätten. Aber natürlich wird er auch nicht als Held stilisiert, was noch absurder gewesen wäre. Nein, er wird als eine tragische Figur, der nach und nach alle sozialen Kontakte abhanden kommen, dargestellt, die man bemitleidet und mit der man sogar ein wenig sympathisiert. Aber der Film ist nicht nur ein bedeutungsschwangeres Drama. Besonders dank Marks sozialer Unbeholfenheit, der schieren Selbstverständlichkeit, mit der er schwierige Probleme löst und seinem schmerzhaft köstlichen Zynismus provoziert Sorkins Drehbuch mehrfach herzhafte Lacher, die sich aber als hinterhältig und doppelbödig herausstellen, da ihnen meistens das Erkennen der Bitterkeit der Situation auf dem Fuss folgt.

The Social Network steckt voller tiefer Charaktere, deren Verkörperung äusserst anspruchsvoll ist. Umso mehr überrascht es, dass sich David Fincher für Jesse Eisenberg als Hauptdarsteller entschied. Eisenberg, ein typisches "Milchgesicht" à la Michael Cera, verdiente sich sein Geld zuvor in Independentfilmen (The Squid and the Whale, Adventureland) und Komödien (Zombieland). Doch wie der unverständlicherweise verhasste Cera scheint auch Eisenberg echte dramatische Fähigkeiten zu haben. Sein Mark Zuckerberg ist ein berechnendes, schweigsames Genie, das in den entscheidenden Momenten aber dennoch kein Blatt vor den Mund nimmt. Doch gleichzeitig ist er auch ein getriebener Mensch, der sich scheinbar nicht an soziale Kontakte binden kann, sondern sich in seinen eigenen Ideen ertränkt und seine Programmierfähigkeiten als einziges kreatives Ventil wahrnimmt. Dank Eisenbergs eindringlichem Schauspiel (Stichwort: "Do I have your full attention?") ist Mark ein dreidimensionales menschliches Wesen, dessen Entwicklung man mit Spannung verfolgt. So stimmt man am Anfang des Films Erica, intensiv gespielt von der beeindruckenden Rooney Mara, zu, wenn sie sagt "You're going to go through life thinking that girls don't like you because you're a geek. And I want you to know, from the bottom of my heart, that that won't be true. It'll be because you're an asshole.". Doch schlussendlich ist man doch eher geneigt, der Anwältin zuzustimmen, die Mark wissen lässt, dass er eigentlich gar kein so unausstehlicher Mensch ist, sondern dass er sich einfach so viel Mühe gibt, einer zu sein. Kein Wunder, dass es da für seine Freunde, wenn man sie denn so nennen will, nicht einfach ist, sich mit ihm zu arrangieren, allen voran für Eduardo Saverin, gespielt von Andrew Garfield (Lions for Lambs, The Imaginarium of Doctor Parnassus), einem Co-Gründer von Facebook und (ehemaligem) Freund von Mark. Dank seiner Hilfe konnte der ursprüngliche Prototyp der Seite, Facemash.com, richtig programmiert werden und mit seinem Geld finanzierte Zuckerberg seine frühen Facebook-Versuche. Doch das half Saverin letztendlich nichts, denn sein Markenanteil von 30% wurde nach dem Einsteigen von neuen Investoren auf 0,03% gesenkt, während der Anteil der anderen Gründer unverändert blieb, was für ihn de facto die Kündigung bedeutete. Garfield spielt Eduardo mit einer brillanten Authentizität. Er lässt das Publikum ohne grossen Aufwand merken, dass es ihm im tiefsten Inneren weh tut, seinen ehemals besten Freund auf 600 Millionen Dollar zu verklagen, doch gleichzeitig spürt man, dass Mark Zuckerberg ihn in seiner Ehre verletzt hat und dass er ihn dafür bezahlen lassen muss. Und obwohl man in den letzten Jahren in dieser Beziehung viele Enttäuschungen erlebt hat, muss man auch heuer wieder rufen "Sperr die Augen auf, Academy!", denn Eisenberg und Garfield hätten sich beide eine Oscarnomination mehr als nur verdient.

Doch die Schauspiel-Lorbeeren sind nicht nur für die beiden Hauptakteure reserviert. Auch Justin Timberlake zeigt als Sean Parker, Gründer zweier gescheiterter Websites, dass sich sein Talent nicht nur aufs Singen beschränkt. Er ist mit Abstand die unsympathischste Figur des Films - manipulativ, arrogant, gierig und paranoid - und Timberlake geniesst deren Darstellung ganz offensichtlich. Er interpretiert Parker als einen Neo-Yuppie, den illegale Aktionen nicht abschrecken, sondern herausfordern. Wie bei Jesse Eisenberg zeigt sich auch hier das Regietalent David Finchers, der selbst einem nicht unbedingt begnadeten Darsteller wie Justin Timberlake eine beeindruckende Performance entlocken kann. Ausserdem erwähnenswert ist das Trio Cameron Winklevoss/Tyler Winklevoss/Divya Narendra (zweimal Armie Hammer - die "Winklevi", wie Mark sie nennt, sind Zwillinge - und Max Minghella), das Zuckerberg wegen angeblichen Ideenraubs verklagt. Armie Hammer spielt zwei künftige Ruder-Olympioniken, die eine universitätsinterne Dating-Website entwickeln wollen und sich dafür Mark als Programmierer angeln. Das Besondere an Hammers Leistung ist, dass er einen das Jock-Klischee der amerikanischen Schulen völlig vergessen lässt. Denn die Winklevi sind alles andere als dumm und rücksichtslos. Und auch Max Minghella spielt seine kleine Rolle tadellos und überzeugt als Freund und Geschäftspartner der Winklevi.

All diese Aspekte ergäben für sich allein schon einen sehr guten Film. Doch The Social Network hat ein gewisses Etwas, das ihn zum Fast-Meisterwerk erhebt. Am spürbarsten kommt dieses Etwas wohl in der sagenhaften Schlussszene zur Geltung: Mark sitzt im leeren Verhandlungszimmer an seinem Laptop und bekommt mitgeteilt, dass sich seine Gegner wohl mit einer Abfindung zufrieden geben werden. Er nimmt dies ohne grosse Gefühlsregung zur Kenntnis, fragt die Anwältin, die ihm die Nachricht überbringt, ob sie mit ihm etwas essen gehen will, sie entschuldigt sich, lehnt ab und geht. Er starrt auf seinen Laptop, auf dem das Facebook-Profil von Erica, der Frau, mit der alles angefangen hat, zu sehen ist. Er klickt auf "Add as a friend" und bestätigt die Anfrage nach einigem Zögern. Er verharrt auf ihrem Profil und klickt auf "Refresh page". Und wieder, und wieder, und wieder. Und die Freundschaftsanfrage steht immer noch aus. Wie David Fincher soviel Tragik in diese Klicks hineinlegt, ist schlicht und ergreifend meisterhaft. Peter Travers hat es richtig gesagt: "The final image of solitary Mark at his computer has to resonate for a generation of users [...] sitting in front of a glowing screen pretending not to be alone." Fincher und Sorkin haben in einem einzigen Bild das grundlegende Problem der Generation Facebook festgehalten. Für einmal ist das Wort "genial" das passende.

Es gäbe noch viele Dinge, die man ansprechen könnte. Die hervorragende Musik von Trent Reznor und Atticus Ross etwa, der schnelle, aber dennoch sanfte Schnitt von Kirk Baxter und Angus Wall, die Tatsache, dass The Social Network erstaunlich kurzweilig ist und keinerlei Längen aufweist. Aber das würde die Kritik nur in die Länge ziehen. Darum soll hier ein Schlussstrich gezogen werden und nur noch einmal darauf verwiesen werden, dass David Finchers neustes Werk dank einer exzellenten Regiearbeit, einem spannenden Drehbuch und hochkonzentrierten Schauspielern eines der bisherigen Highlights des Kinojahres 2010 darstellt. The Social Network ist ein echtes Kinoerlebnis und einer der Filme, der einen wieder daran erinnert, wieso man diese Art Unterhaltung so sehr liebt. Oder um es mit Facebook sagen: "Gefällt mir"

Donnerstag, 5. August 2010

Inception

Traumspione: Dom Cobb (Leonardo DiCaprio, rechts) und Arthur (Joseph Gordon-Levitt) müssen sich mit ihrem Team durch den eingepflanzten Traum ihres Opfers navigieren.

5.5 Sterne

Film ist ein wunderbares Medium, dem aber leider die kreativen Köpfe ausgehen. Selten bekommt man im Kino wirklich neue Dinge zu sehen, stattdessen muss man sich mit mal guten, mal schlechten Derivaten von bereits Gesehenem begnügen. Sieht man aber einen Film wie Inception, das neuste Werk des Regisseurs der Stunde, Christopher Nolan, dann erinnert man sich daran, dass noch nicht alle Hoffnung verloren ist, zumindest im Thriller- und Science-Fiction-Genre, in welchem der Brite primär tätig ist. Nach dem Hit The Dark Knight fragten sich viele, ob sich Nolan wirklich noch verbessern kann. Inception beantwortet diese Frage auf eine beeindruckende Weise mit Ja und stillt gleichzeitig jene leisen Zweifel an der Qualität des Films, die sich nach dem gigantischen Hype im Vorfeld doch eingestellt haben. Nolan hat es sehr gut verstanden, die positiven Aspekte aus seinen vorherigen Filmen, vor allem aus seinen beiden Batman-Adaptionen, zu extrahieren und sie nun in eine eigene Vision zu integrieren. Was dabei herauskommt, ist ein enorm fantasievolles Fest für die Augen und das Gehirn.

Das Beste an Inception ist etwas, was viele Actionfilme heute vermissen lassen: Stringenz. Leute, die bei diesem Film zu spät kommen, sind nur zu bemitleiden, denn wenn man hier einen Moment verpasst, dann ist man nicht mehr fähig, das Ganze in all seiner Komplexität zu erfassen und zu geniessen. Inception ist einer dieser Filme, der keine Unaufmerksamkeit verzeiht und davon ausgeht, dass das Publikum bereit ist, sich zweienhalb Stunden zu konzentrieren. Ein Albtraum für die Popcorn-Industrie? Wohl kaum, da das Internet schon voll ist mit Berichten von Kinogängern, die sich beklagen, der Streifen sei zu kompliziert und verschachtelt. Stellen wir etwas klar: Das stimmt nicht! Wer dem Plot nicht folgen konnte, hat schlicht und ergreifend nicht aufgepasst. Diese Stringenz zeigt, dass Christopher Nolan bessere Geschichten entwerfen kann, wenn er sich auf kein Quellenmaterial verlassen muss und sich frei ausbreiten kann. Vor allem The Dark Knight hatte mit einer etwas allzu losen Story zu kämpfen. Nicht so Inception. Die Geschichte kommt sehr solide daher, überzeugt mit einem faszinierenden Thema und bietet eine vielschichtige Erzählweise.

In einem Film auf Träume einzugehen, ist keineswegs neu. Wir alle kennen Michel Gondrys poppigen Eternal Sunshine of the Spotless Mind oder Terry Gilliams dystopischen Brazil, doch Inception geht die Sache etwas anders an: Der Film setzt voraus, dass es möglich ist, Träume zu teilen, sodass man gemeinsam in den Traum einer Person eindringen kann. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, dem Unterbewusstsein Geheimnisse zu entreissen. Was nach Mystery und Psychologie klingt, hat in Christopher Nolans Film allerdings eine ganz banale und wahrscheinlich deshalb einigermassen plausible Anwendung: Werksspionage. Firmen lassen ihre Konkurrenten durch professionelle "Extraktoren" ausspionieren, sodass sie an ihre Geheimnisse kommen. Worum es im Film aber tatsächlich geht, ist "Inception", ein experimentelles Verfahren, mit dem einer Person eine Idee eingepflanzt werden kann. Daraus folgen natürlich erzählerische Kniffe, die man beinahe schon erwartet - die Kulmination davon ist ein Traum in einem Traum in einem Traum in einem Traum -, aber ebenso viele Dinge, die einen positiv überraschen. Da helfen selbstredend auch die fantastischen Spezialeffekte, die, egal ob einfache Explosionen, "gewöhnliches CGI" - ein sich zusammenfaltendes Paris - oder atemberaubende Actionsequenzen in einem Hotelflur mit sich stetig verändernder bis nicht mehr vorhandener Schwerkraft - mit Anspielungen auf The Matrix und Mission Impossible -, ihren Zweck niemals verfehlen. Mitverantwortlich dafür ist sicher auch Nolans Haus-Kameramann Wally Pfister, der inzwischen weiss, wie man einen Actionfilm wirkungs- und stimmungsvoll bebildert. Der Film verkommt zum Glück niemals zur reinen Materialschlacht. Die Effekte und die Action ordnen sich der Story unter, wie es sich gehört. Auch der persönliche Konflikt von Dom Cobb, der Hauptfigur, sehr gut gespielt von Leonardo DiCaprio, wirkt nicht aufgesetzt, sondern verleiht Inception einen glaubwürdigen dramatischen Touch, der einen besonders am Ende mitreisst. Was man Nolans Drehbuch eventuell ankreiden könnte, sind ein paar wenige, leicht gestellt wirkende Dialoge, die man aber mühelos erträgt. Das Ende hingegen ist eine Sache für sich. Es wurde bereits viel darüber geschrieben und diskutiert. Es lässt sich sagen, ohne den Film für jemanden, der ihn noch nicht gesehen hat, zu ruinieren, dass die Hauptfigur immer mehr Gefahr läuft, Realität und Traum nicht mehr auseinanderhalten zu können. So gesehen war es eine gute Entscheidung, den Film offen enden zu lassen. So kann jeder die Frage für sich selbst beantworten. Andernfalls wäre die Hälfte des Publikums enttäuscht und würde lamentieren, es habe ihnen schon gefallen, nur das Ende sei nicht gut.

Einer der Gründe, weshalb Inception dermassen sehnlich erwartet wurde, war der hochkarätige Cast. Leonardo DiCaprio, dessen Figur stark an seine Rolle in Martin Scorseses Shutter Island erinnert, wurde bereits erwähnt, aber er ist mit seiner guten Leistung nicht allein. Die Schauspieler sind ein Musterbeispiel für einen hervorragenden Ensemble-Cast. Joseph Gordon-Levitt zeigt nach (500) Days of Summer, dass er auch in einem Thriller glänzen kann - mit schelmischer Coolness -, Ellen Page spielt einmal mehr ihre Stärke in dramatischen Rollen aus, während Cillian Murphy der möglicherweise etwas künstlichen Figur des Robert Fischer - der vom Vater verschmähte Snob - einen angenehmen Tiefgang verleiht. Die beste Schauspielleistung des Films kommt allerdings von Ken Watanabe. Seine Performance ist kraftvoll und beeindruckt insbesondere in den Szenen, in denen er in Cobbs Seele zu blicken scheint. In weiteren Rollen sind eine wunderbar teuflische Marion Cotillard als Hauptantagonistin - Cobbs Projektion seiner toten Frau -, ein verschmitzt-sarkastischer Tom Hardy, der ein paar herrlich trockene Sprüchen zum Besten gibt, und Tom Berenger, der zum ersten Mal seit Training Day (2001) wieder bei einer Grossproduktion dabei ist, zu sehen. Auch erwähnenswert sind die Gastauftritte von Michael Caine, der sich in Nolans Filmen sehr wohl zu fühlen scheint, als Doms Schwiegervater, Lukas Haas als ursprünglicher Traumarchitekt des Teams DiCaprio/Gordon-Levitt und Pete Postlethwaite, der nicht viel mehr zu tun hat, als sterbend auf einem Bett zu liegen. Doch wir kennen ihn gut genug, um zu wissen, dass er auch in so einer Rolle die personifizierte Würde ist.

Neben Wally Pfister und einem grossen Teil des Casts von Batman Begins findet sich in der Crew von Inception noch eine weitere Person, für die das Arbeiten mit Christopher Nolan nichts Neues ist: Hans Zimmer. Der bereits legendäre Filmkomponist hat sich wieder einmal um den Score gekümmert. Seine Musik rundet den ohnehin schon düsteren Ton des Films hervorragend ab.

Ist es nicht schön, wenn ein Film zurecht gehypt wird? Wenn man mit hohen Erwartungen ins Kino geht und der Film diese sogar noch übertrifft? Das ist Inception. Sieht man ihn sich an, bekommt man Unterhaltung auf höchstem Niveau zu sehen. Verfolgungsjagden, Action und Effekte sind zwar da, aber sie ersetzen weder die Substanz noch die Geschichte. Wenn Christopher Nolan auf diesem Weg bleibt und es ihm weiterhin gelingt, die Balance zwischen Augenschmaus und filmischer Gehirnnahrung zu halten, dann hat er noch viel vor. Und das klassische Erzählkino wird noch lange nicht sterben. Im Gegenteil: Dank Nolans geschickten Modernisierungen könnte es ein regelrechtes Comeback feiern. Hoffen wir, dass das kein Traum ist.

Mittwoch, 4. August 2010

Toy Story 3

Es wird schon seit Jahren gemunkelt, Pixar sei einer der rechtmässigen Erben von den Grossmeistern des Kinos. Wir waren uns wohl alle bewusst, dass diese Meinung nicht verkehrt sein kann, angesichts der schieren Menge cineastischer Meisterwerke, die das Studio scheinbar mühelos aus dem Ärmel schüttelt (Toy Story, Monsters, Inc., Ratatouille, WALL-E, Up), aber die Hemmung, das Studio ins Pantheon der Filmemacher zu erheben, war unverkennbar, vermutlich vor allem aufgrund zweier Tatsachen: Erstens handelt es sich dabei nicht um eine Einzelperson, sondern vielmehr um eine einzigartige Gruppe von Kreativen, und zweitens produziert diese Gruppe "nur" Animationsfilme.

Vor Toy Story 3 fiel es sicherlich schwer, sich die Pixar-Werke auf der gleichen Stufe wie Citizen Kane, Psycho oder The Bridge on the River Kwai vorzustellen. Aber das zweite Sequel des ersten vollständig am Computer entstandenen Films packt uns da, wo wir am empfindlichsten sind: an unserer Nostalgie. Und genau deshalb ist Toy Story 3 die Perfektion der Pixar-Magie.

Wieso ist Pixar seinen grossen Konkurrenten FOX und DreamWorks überlegen? Das Herz allein kann es nicht sein, denn wenn nur Herz die Kinokarten verkaufen würde, dann hätte Avatar nicht einmal die 10-Millionen-Dollar-Grenze geknackt. Nein, der Grund ist beim Zuschauerbild zu suchen. Im Gegensatz zu den meisten FOX- und DreamWorks-Kinderfilmen nimmt Pixar sein Publikum ernst. Wie Don Bluth in den 1980er Jahren zeigt das Studio aus Emeryville entschlossen Themen wie Tod oder die Grausamkeit der Zeit auf, während die Konkurrenz - man ist versucht, sie mit dem Disney der 1980er Jahre zu vergleichen - diese unschuldig pfeifend übergeht. Und dort endet die Kunst von Pixar nicht. Denn im selben Atemzug wird jeweils auf eine einzigartige Weise demonstriert, wie wunderbar die Welt doch sein kann - und das aus der Sicht von Ratten, Robotern, Ameisen, Fischen und, nicht zuletzt, Spielzeugen.

Toy Story wird leider nicht von allen Pixar-Fans geliebt. Heute lässt man sich gerne von den stellenweise etwas kruden Computeranimationen, vor allem wenn es um das Design der Menschen geht, ablenken, anstatt sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Denn Toy Story und Toy Story 2 waren beide subtile, urkomische und gleichzeitig tragische Parabeln auf ein sich veränderndes Leben und Freundschaft. Ja, die Kapazität der Lebensnähe der Animationen steckte noch in den Kinderschuhen, aber der für Pixar inzwischen so typische Tiefgang war von Anfang an da. Und auch das ist ein Problem von DreamWorks: Die Animationen sind meistens so gut wie makellos, doch die Storys lassen doch stark zu wünschen übrig. Und wenn die Produzenten einmal eine einigermassen gelungene Geschichte haben (Shrek, How to Train Your Dragon), dann runieren sie diese mit unzähligen Fortsetzungen.

© Disney/Pixar
Und nun kommen wir endlich zu Toy Story 3, dem krönenden Abschluss der, zumindest laut dem Geschmack dieses Kritikers, besten Trilogie aller Zeiten. Wo soll man nur anfangen? Der Film ist ein Feuerwerk der Fantasie, der Technik, des Humors und der Melancholie. Das Beste wird sein, die negativen Punkte zuerst abzuhaken: Fertig. Toy Story 3 ist praktisch ein fehlerfreies Stück Kino. Zugegeben, es wird Leute geben, die ihm vorwerfen werden, er sei teilweise eine Spur zu dramatisch und kitschig geraten, doch das Wunderbare daran ist, dass sich diese "Mängel" aus dem Verlauf der Geschichte selbst ergeben und somit nur die Konsequenz des Regisseurs Lee Unkrich und seines Autorenteams (Story: John Lasseter, Andrew Stanton und Unkrich selbst, Drehbuch: Oscar-Gewinner Michael Arndt (Little Miss Sunshine)) unterstreichen. Und auch sonst ist das Skript nur zu loben. Die Balance zwischen Action, Humor und Sentimentalität wird exzellent gehalten. Man hält gespannt den Atem an, wenn die Spielzeuge Gefahr laufen, in der Kehrichtverbrennungsanlage verfeuert zu werden - eine Szene, die den kleineren Zuschauern mitunter sogar Angst machen könnte -, man schüttelt sich vor Lachen, wenn Buzz' Sprachmodus auf Spanisch umgestellt wird, und man kämpft mit den Tränen, wenn sich die Protagonisten in der Verbrennungsanlage, die quasi die Spielzeug-Hölle symbolisiert, in ruhiger Verzweiflung die Hände reichen oder wenn sich Andy von ihnen trennen muss. Und keins dieser Gefühle wird dem Zuschauer aufgedrängt.

Natürlich darf auch nicht die hervorragende Arbeit, die die Herren Lasseter, Stanton und Unkrich bei der Story geleistet haben, vergessen werden. Einmal mehr stellen sie Woody vor eine Wahl - Andy oder seine Freunde -, bei der es keinen Kompromiss gibt. Zudem verwandeln sie die scheinbar friedliche Kinderkrippe in ein brutales Spielzeug-Gefängnis, das sehr bewusst an POW-Filme über den Zweiten Welt- oder den Vietnamkrieg erinnert. Und selbstverständlich kommt der hoch geschätzte Pixar-Subtext auch nicht zu kurz. Nicht nur ist Toy Story 3 ein Film über Treue, Veränderung und Freundschaft wie seine Vorgänger; nein, er hält sich auch nicht zurück, die moderne Konsumgesellschaft anzuprangern. Dies ist zwar nicht ganz so offensichtlich gemacht wie in WALL-E, obwohl die finalen Szenen auf der Mülldeponie ganz offensichtlich darauf anspielen - es fehlte nur noch das "Buy n Large"-Logo auf den Lastwagen -, aber die Seitenhiebe sind doch sehr gut erkennbar, etwa wenn sich ein Charakter daran erinnert, wie der Bösewicht einst ein "besonderes Stofftier" war, verloren ging und anschliessend ganz einfach ersetzt wurde.

© Disney/Pixar
Einmal mehr überzeugen auch die Charakterzeichnung sowie die Leistungen der Synchronsprecher. Tom Hanks und Tim Allen reden Woody und Buzz so, als wären seit dem letzten Film keine elf Jahre vergangen, ebenso John Ratzenberger (Hamm), Joan Cusack (Jessie), Wallace Shawn (Rex) und Don Rickles (Mr. Potato Head). Und trotz des tragischen Todes von Jim Varney im Jahre 2000 hat auch Slinky, dank der Stimme von Blake Clark, seine typische Südstaatenstimme mit der rührenden Naivität beibehalten. Auch die Tiefe der Charaktere ist nach wie vor erstaunlich. Es sind Jahre vergangen seit Andy das letzte Mal mit seinen Lieblingsspielzeugen gespielt hat. Dies hat zur Folge, dass die Protagonisten einen gewissen Zynismus und sogar eine Art Antipathie gegen ihren Besitzer entwickelt haben. In den Anfangsszenen des Films wird auch klar, wie viel sich inzwischen verändert hat. Nach einer beeindruckenden Actionszene, in der gezeigt wird, was für ein Abenteuerszenario sich der noch kleine Andy ausgedacht hat - ausgeschmückt mit einigen feinen Anspielungen für den cinephilen Zuschauer -, finden wir uns in der Gegenwart wieder, die für die Spielzeuge wahrlich bedrückend ist: Viele ihrer Freunde wurden weggeworfen, verschenkt oder gespendet - sogar die Schäferin Bo Peep, der "Romantic Interest" von Woody, ist nicht mehr da - und sie fristen ein für sie langweiliges Leben. Abgerundet wird dieses Beispiel der kontinuierlichen Veränderung durch Buster, den Familienhund. Wer erinnert sich noch an die wunderbare Szene aus Toy Story 2, als Woody auf dessen Rücken dem Pinguin Wheezy, der inzwischen auch weg ist, zu Hilfe geeilt ist? Derselbe Buster ist nun alt, grau und langsam geworden, ein trauriges Zeichen für den Zahn der Zeit. Allerdings finden sich in Toy Story 3 auch leichtere Referenzen an die vorherigen beiden Filme; etwa ein Müllmann mit einem Totenschädel auf dem T-Shirt, bei dem es sich eigentlich nur um den Spielzeugfolterer Sid aus dem ersten Film handeln kann.

Gleichermassen beeindruckend ist aber auch der dreidimensionale Bösewicht, Lotso, überragend gesprochen von Ned Beatty. Zwar erinnert seine Überzeugung, dass Kinder letzten Endes Spielzeuge nur zerstören, stark an diejeinge Stinky Petes aus dem zweiten Teil, aber im Gegensatz zu diesem ist Lotso ein wirklich handelnder Charakter, der sich mit brutalen Schergen umgibt. Einer dieser Schergen, Ken, der von einem sehr witzigen Michael Keaton vertont wurde, liefert zusammen mit Barbie einen herrlichen Subplot, der mehr als nur einmal seine heterosexuelle Fassade in Frage stellt. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Figurenzeichnung, wie die Geschichte, fliessend von Komödie zu Tragödie und umgekehrt übergeht.

© Disney/Pixar
Worauf der Film auch sehr schön eingeht, sind die Emotionen der menschlichen Akteure. Zwischen Andy und seiner Mutter entwickelt sich eine rührende Interaktion, die schliesslich darin mündet, dass sich die beiden in den Armen liegen und Andy seiner weinenden Mutter sagt, dass sie immer für ihn da sein wird, auch wenn er nicht mehr zuhause wohnt. Hierbei wird das erste Mal in der Serie konkret darauf eingegangen, dass Andys Mutter alleinerziehend ist und sich langsam von ihren geliebten Kindern trennen muss.

Ein weiteres Überbleibsel aus den Vorgängern von Toy Story 3 ist Randy Newman, der für die Musik verantwortlich war. Erwartet man von ihm etwas anderes als gute Arbeit? Nein. Und das ist auch nicht nötig. Sein Score untermalt die rasanten, die dramatischen und die tragischen Momente jeweils optimal. Ihn nicht auszuwechseln war eine gute Entscheidung.

Der letzte objektive Aspekt, auf den hier eingegangen werden soll, ist die Animation. Wie jeder weiss, hat Pixar seit 1995 in dieser Beziehung grosse Schritte nach vorne gemacht. Mittlerweile stehen FOX und DreamWorks auch bei dieser Disziplin hinten an. Die Menschen in Toy Story 3 sehen, für Animationsfilm-Verhältnisse, verblüffend real aus, die Settings sind enorm detailverliebt und überzeugen zu hundert Prozent, und das dabei verwendete 3D ist alles andere als aufdringlich, sondern dient lediglich dazu, Raumtiefen hervorzuheben und den Zuschauer ins Geschehen miteinzubeziehen.

© Disney/Pixar
Toy Story 3 ist also ein rundum gelungener Film. Doch das, was ihn vollends zu einem Meisterstück der Filmgeschichte macht, ist die Nostalgie, die sich bei der Visionierung des Films einstellt. Ist man zwischen 18 und 30 Jahre alt, dann wird man sich mit Wehmut an die beiden Vorgänger erinnern, die man als Kind oder als Jugendlicher gesehen hat und sich bewusst werden, wie viel Zeit seither vergangen ist. Aber dennoch deprimiert einen diese Erkenntnis nicht, da Toy Story 3 - wie so viele andere Pixar-Filme - aufzeigt, dass es Dinge gibt, die nicht sterben. Freundschaft, Erinnerungen und Kindheit gehören dazu. Oder um es in Erich Kästners Worten auszudrücken: "Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch."

In den letzten drei Jahren hat Pixar jedes Jahr verdientermassen den Oscar für den besten Animationsfilm eingeheimst. Und sie hätten es immer noch nicht verdient, dass diese Serie reisst, denn alles andere als mindestens dieser ein Academy Award für Toy Story 3 wäre ein Skandal. Der Film ist beinahe perfekt und begeistert Kinder und Erwachsene gleichermassen. Das Studio mit der Lampe ist mit seinem neuesten Streich endgültig auf dem Olymp der Kinowelt angekommen und hat seinen Ruf als bestes Animationsstudio der Welt einmal mehr gerechtfertigt. Dass Toy Story 3 noch zwei Verneigungen an den grössten der legitimen Verfolger, das japanische Studio Ghibli, beinhaltet (ein Totoro-Plüschtier und ein "Special Thanks" für Hayao Miyazaki), macht es uns nur noch sympathischer. Film on, Pixar, film on.

★★★★★★

Mittwoch, 23. Juni 2010

Invictus

Auf Tuchfühlung: Nelson Mandela (Morgan Freeman) begrüsst zum ersten Mal die Spieler der südafrikanischen Rugbymannschaft. Captain François Pienaar (Matt Damon, Mitte) ist dem neuen Präsidenten gegenüber noch skeptisch.

4.5 Sterne

Will ein Sportfilm ein breites Publikum erreichen, muss er "menscheln". Mit anderern Worten, es müssen Kitsch, Pathos und viele, viele Emotionen darin vorkommen. In den Händen eines mittelmässigen Regisseurs - sagen wir: John Lee Hancock - würde dies zu einer klischeehaften Hollywood-Posse verkommen. Betraut man aber Clint Eastwood, den "besten lebenden Filmemacher" (Zitat aus Sight & Sound), damit, dann erlebt man eine Neudefinition des Begriffs. Bei ihm bedeutet menscheln nämlich nichts anderes als die Vermenschlichung eines Giganten der Historie - Nelson Mandela - trotz der stellenweise insinuierten Heiligkeit des südafrikanischen Aktivisten und Politikers. Der Film basiert auf dem Buch Playing the Enemy: Nelson Mandela and the Game That Changed a Nation von John Carlin und ist sicherlich kein Sportfilm aus dem Bilderbuch wie The Blind Side oder Oliver Stones Football-Drama Any Given Sunday. Abgesehen von ein paar wenigen Schlenkern in die Gefilde der Genre-Klischees ist es Eastwood mit Invictus hervorragend gelungen, ein Sportereignis in einen grösseren geschichtlichen Kontext einzuordnen.

Wie kommt Clint Eastwood dazu, sich filmischer Konvention zu ergeben? Zugegeben, gewisse Kritiker haben ihm das schon bei Changeling vorgeworfen (weshalb, sei dahingestellt). Aber im Vergleich zu gewissen Szenen in Invictus erscheint Changeling schon fast wie filmisches Neuland. Dem aufmerksamen Kinogänger wird aber nicht entgangen sein, dass Eastwood seine Filme nie selber schreibt. Das heisst, dass er jeweils seinen Drehbuchautoren ausgesetzt ist und diese einen schönen Teil des Tons seiner Filme bestimmen. Natürlich hat der alte Regie-Hase das Talent, jeden Stoff in seiner Handschrift umzusetzen. So auch Invictus.

Besonders die Actionsequenzen gegen Ende, von denen ein Grossteil in Zeitlupe gedreht wurde, sind alles andere als neu. Aber genau da macht sich das besondere Talent von Eastwood bemerkbar: Die Rugby-Spieler im Film sind echte Rugby-Spieler. Mit brillanten Aufnahmen von Spielzügen und Tacklings, unterstützt natürlich von seinem Hauskameramann Tom Stern, zieht Eastwood einen ins Geschehen auf der Leinwand und lässt einen vergessen, dass man derartige Sequenzen schon zigmal gesehen hat. Auch die Entscheidung, einen relativ kitschigen Song spielen zu lassen, während Mandela das südafrikanische Rugbyteam besucht, sorgt für Stirnrunzeln, da damit der Szene leider enorm viel Kraft geraubt wird.

Aber wie bei jedem Film, bei dem Sport eines der Hauptthemen ist, steht auch in Invictus das Menscheln im Mittelpunkt. Morgan Freeman ist elektrisierend als Nelson Mandela. Seine liebenswürdige und manchmal etwas naive Natur ist ebenso spürbar wie seine abgeklärte, berechnende und durchaus auch linkische Seite. Und wie wir es uns von Freeman inzwischen gewohnt sind, kommt auch der Humor der Figur nicht zu kurz. Vielfach lässt er mit seiner allseits beliebten Art einen Spruch fallen, über den man herzhaft lachen kann - etwa wenn er dem neuseeländischen Starspieler Jonah Lomu entgegentritt und lachend "Oh my, you frighten me!" sagt. Gleichzeitig beweist Freeman aber, dass er auch den anderen Typen Grossvater spielen kann. Seine Unterredung mit dem Captain der Rugbymannschaft, François Pienaar, sehr gut gespielt von Matt Damon, der hier einmal über seine schauspielerische Blässe hinauswächst, ist höchst eindringlich und hat tatsächlich echten Inspirationscharakter. Auch das Gedicht von William Ernest Henley, dem der Film seinen Titel zu verdanken hat, hat diese Wirkung, besonders wenn es von Morgan Freeman gelesen wird. Die Chance ist gross, dass es einem am Ende von Invictus kalt den Rück herunterläuft, wenn man ihn noch einmal "I am the master of my fate: I am the captain of my soul" zitieren hört.

Aber wo kommt denn da das Menscheln ins Spiel? Nun, etwa wenn Mandela in seinem Büro einen Spielplan der Rugby-WM aufgestellt hat und die Teams in der K.O.-Runde von Hand einträgt. Oder wenn er vor dem Finale mit dem neuseeländischen Präsidenten eine Wette abschliesst ("How about a little bet?" - "Okay, how about all your country's diamonds against all my country's sheep?" - "Heh, heh, I was thinking more along the lines of a crate of wine.").

Ein Problem des Drehbuchs von Anthony Peckham, bekannt als Co-Autor von Guy Ritchies Adaption von Sherlock Holmes, ist, dass es eine gewisse Ambiguität aufweist - Mandela betont stets, dass er nur ein einzelner Mann ist, doch im Verlauf des Films wird jeweils auf das Gegenteil angespielt. Man könnte dies allerdings auch als leichte Ironie interpretieren, wenn man bedenkt, dass der grosse Nelson Mandela vergeblich gegen seine Heiligsprechung ankämpft. Und es ist wohl nicht zu vermeiden, dass ein Film, der sich um "Madiba" dreht, aufzeigt, was dieser Mann in seinem Leben alles ertragen musste. Zudem kann man dem Umstand, dass Mandela den Leuten, die ihn ins Gefängnis steckten, fast bedingungslos vergab, einen faszinierenden Aspekt nicht absprechen.

Peckham verdient sich aber auch viel Lob. Der bis zu diesem Punkt angeführte Tadel fällt beim letztendlichen Filmgenuss kaum ins Gewicht. Mit diesen kleineren Mängeln lässt sich leben, vor allem wenn der Storyaufbau dermassen gut gelungen ist wie hier. Tatsächlich vermag Invictus durch seine Geschichte, deren Wendungen eigentlich alle schon kennen, zu glänzen. Der Film ist überaus spannend erzählt und besticht durch eine schöne Ausgewogenheit zwischen Charakterstudie Mandelas und Pienaars, actionreichen Sportszenen, hochinteressanten Subplots - hier sticht sicherlich die Mikrokosmos-Abhandlung des Post-Apartheid-Südafrikas hervor, in welcher schwarze Sicherheitskräfte auf afrikaanische treffen -, sowie historischen Fakten. Zwar wurde beispielsweise an der Episode des über das Ellis-Park-Stadion fliegenden Flugzeugs etwas herumgebastelt - die Leibwächter Mandelas waren über die Aktion informiert -, aber wenn daraus eine Szene gemacht wird, die auf wunderschöne Art und Weise den neugewonnenen Zusammenhalt des südafrikanischen Volkes illustriert, dann hat der Zuschauer eigentlich nicht das Recht, sich darüber zu enervieren. Auch die Dialoge, in denen über Südafrikas Scheideweg philosophiert wird, sind sehr interessant und geben einem eine Ahnung davon, vor was für einer riesigen Herausforderung Mandela nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 stand und wie bravourös er sie letztendlich gemeistert hat.

Die letzte Frage, die sich stellt, ist die nach der Integrität Clint Eastwoods. Nach seinen eher düster angehauchten Dramen des letzten Jahrzehnts (Mystic River, Million Dollar Baby, Changeling, Gran Torino) kam mit Invictus nun ein merklich leichterer Stoff in die Kinos. Man könnte sogar soweit gehen und sagen, dass es sich um einen Feelgood-Streifen handelt, vergleichbar mit Looking for Eric, zum Beispiel. Verwerflich ist dies keineswegs. Eastwood bleibt sich selber treu: Er nimmt sich der Stoffe an, die ihm als geeignet erscheinen. Und genau deswegen hat ihn wohl das Sight & Sound als "besten lebenden Regisseur" gefeiert.

Er mag den direkten Vergleich mit Gran Torino verlieren, aber dennoch ist Invictus ein höchst unterhaltsamer und bekömmlicher Film, den man sich nicht entgehen lassen sollte. Für Sportfans hält er packende Rugby-Szenen bereit, für Historiker sind sicherlich die Exkurse in die politische Lage in Südafrika in der Zeit nach der Apartheid von Interesse. Trotzdem verliert Clint Eastwoods neustes Werk dadurch überhaupt nicht an Stringenz, vielmehr verwandelt es sich dadurch in ein äusserst vielschichtiges Erlebnis. Da freut man sich doch gleich auf das nächste Projekt des Regisseurs: Hereafter, ein übernatürlicher Thriller nach einem Drehbuch von Peter Morgan (The Queen, Frost/Nixon, The Damned United).

Samstag, 3. April 2010

Up in the Air

Wer ist hier effizient? Ryan Bingham (George Clooney) instruiert die naive Natalie Keener (Anna Kendrick), wie man seinen Koffer am besten packt.

5.5 Sterne

Mit der Finanzkrise 2008/2009 hat sich im US-Film ein ganz neuer Themenbereich aufgetan: die Problemstellung Arbeitswelt. Alte Strategien werden überdacht, "Effizienz" ist das magische Wort und die Person, die an Tradition festhält, ist persona non grata. Das zentrale Werk dieser neuen Thematik ist Up in the Air von Jason Reitman. Interessanterweise basiert sein Film nicht auf einer Originalidee, sondern ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Walter Kirn aus dem Jahr 2001, dem Jahr, in dem die Internetblase platzte. Wie schon in Thank You for Smoking und Juno schafft es Reitman auch hier, die ernste Grundlage mit Humor zu versehen, ohne sie jedoch ihrer Relevanz zu berauben. Doch Up in the Air ist weder eine heitere Komödie noch eine moralisierende Parabel über die heutige Zeit. Der Film geht vielmehr auf die verschiedenen urbanen Typen der Moderne ein und untersucht ihre Weltanschauungen und ihr Streben nach Glück. So schafft Jason Reitman einmal mehr den Spagat zwischen Gesellschaftskritik und leichtfüssiger Unterhaltung.

Hauptfiguren müssen sich entwickeln, heisst es. Sei es ein Buch, ein Theaterstück oder ein Film, die im Mittelpunkt stehende Person muss während des Werks eine Veränderung durchmachen. Ryan Bingham, Dreh- und Angelpunkt von Up in the Air, ist ein Musterbeispiel dafür. Er ist eine von diesen Figuren, die man hassen sollte, es aber nicht kann. Sein Lebensstil ist extravagant, seine Einstellung von Vorurteilen geprägt - oder, wie er selbst sagt: "I stereotype, it's faster." - und sein Ziel banal: 10 Millionen Vielfliegermeilen, um sich zu der exklusiven Gruppe der Leute, die dieses Kunststück fertiggebracht haben, zu gesellen. Er verdient sein Geld als Abgesandter einer Firma, die für andere Leute Angestellte entlässt. Nebenher hält Ryan auch Vorträge darüber, wie einfach man sich sein Leben machen kann, wenn man keinerlei Beziehungen pflegt und sich von Gefühlen distanziert. George Clooney brilliert in dieser Rolle. Kein anderer Schauspieler hätte Ryan Bingham spielen können. Wie einst Cary Grant weiss auch Clooney ganz genau, wie man das Publikum so manipulieren kann, dass sie auch noch das grösste Ekelpaket sympathisch finden. Und das liegt nicht nur daran, dass der Mann ein unwiderstehliches Lächeln hat. Das ist echte Schauspielkunst und hätte Clooney wohl verdientermassen seinen ersten Hauptrollenoscar eingebracht, wenn nicht im selben Jahr eine noch grossartigere Performance - Jeff Bridges in Crazy Heart - nominiert gewesen wäre. Seis drum. Ryan Bingham ist seine Rolle, daran gibt es nichts zu deuteln.

Wie war das mit der sich entwickelnden Hauptperson? Bessert sich Ryan etwa? Wird er wie Ebenezer Scrooge zu einem allseits beliebten Wohltäter? Nein, denn dazu ist das grossartige Drehbuch von Jason Reitman und Sheldon Turner zu raffiniert. Man kann dem Skript vielleicht vorwerfen, die Unterteilung in eine primäre Handlung pro Akt sei gesucht; doch die Souveränität, mit welcher alle Handlungsstränge zu einem überzeugenden Ende führen, zeugt von grosser Klasse. Aber das Duo Reitman/Turner überzeugt nicht nur mit einer originellen Erzählweise und brillant konstruierten Charakteren, sondern auch mit geistreichen und stellenweise rasend schnellen Dialogen. Wenn sich Ryan mit einer weiblichen Protagonistin ein Rededuell liefert, fühlt man sich ins Jahr 1940 zurückversetzt, als sich Cary Grant und Rosalind Russell in His Girl Friday die schnippischen Bemerkungen nur so um die Ohren schlugen. Das Meisterhafte an diesen Dialogen sind aber nicht nur die stellenweise urkomischen Wortwechsel, sondern auch das, was man zwischen den Zeilen findet. Hört man sich beispielsweise Ryans Vortrag über "What's in Your Backpack?" genau an, sieht man darin das Geständnis eines gebrochenen Mannes, der sein Leben seiner Arbeit widmet und noch nicht begriffen hat, wie sehr ihm dies schadet. Aber wie heisst es so schön? Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Und das tut man in Up in the Air wahrlich mehr als man es vom Thema erwarten könnte.

Ein grosses Verdienst des Drehbuchs ist auch die Schaffung starker Frauenrollen. Vera Farmiga glänzt als Alex, die sich selbst als weibliche Version von Ryan tituliert ("Just think of me as you with a vagina."). Sie fungiert als sein realistisches Liebesinteresse, welches sich letzten Endes aber auch als unglückliche Sackgasse entpuppt. Farmiga verkörpert das Gleichgewicht zwischen Ernsthaftigkeit und Witz, das Up in the Air dermassen bravourös hält. Auch die wesentlich jüngere Anna Kendrick liefert starkes Schauspiel. Ihre Natalie ist die Personifikation der jungen, dynamischen Generation, die zurzeit die Berufswelt auf den Kopf stellt. Ihr Glaube an die neuen Technologien wirkt anfangs extrem naiv und unverschämt und man gönnt es ihr fast, dass ihr geliebter Freund sie per SMS sitzen lässt. Aber nach und nach merkt man, dass auch Kendricks Charakter seine Gründe für dieses Vertrauen hat. Schliesslich macht auch Natalie eine tiefgreifende Veränderung durch, die sie am Ende vollends von Ryan, der mittlerweile zu einer Art Mentor geworden ist, trennt.

Up in the Air zeigt grundsätzlich, wie ein Mensch durch seine Umwelt, seinen Umgang damit und die damit verbundenen Konsequenzen beeinflusst wird. So begegnen uns im Laufe des Films viele flüchtige Bekanntschaften, die Ryan trotzdem irgendwie tangieren. Sei es Sam Elliott als Pilot, der hier im Prinzip seine Rolle als The Stranger aus The Big Lebowski wieder aufnimmt und damit für eine wunderbare Szene sorgt; sei es Jason Bateman, der als Ryans Chef zwischen Tradition und Fortschritt vermitteln muss; oder sei es Danny McBride, durch den Ryan in der wohl besten Szene des Films endgültig zum fühlenden Menschen mutiert - sie alle hinterlassen bei der Hauptfigur sowie beim Zuschauer einen bleibenden Eindruck. Auch die Leute, die als Entlassene herhalten müssen, ein Mix aus wahrer Geschichte und bekannten Gesichtern wie JK Simmons oder Zach Galifianakis - Alan aus The Hangover -, überzeugen mühelos.

Geht man auf die technischen Aspekte eines Films ein, fällt einem meistens die Kamera auf. Kein Zweifel, Eric Steelberg hat gute Arbeit geleistet, insbesondere beim Vorspann, in welchem einem die USA aus der Vogelperspektive gezeigt wird, überaus passend untermalt von Woody Guthries "This Land Is Your Land" in der Version von Sharon Jones & The Dap-Kings, doch der wahre Meister der Technik in Up in the Air ist Dana E. Glauberman, die Cutterin. Wie ihr eine Oscarnomination verwehrt blieb, ist ein Rästel. Ihre Klasse zeigt sich gleich in den Anfangsminuten, als im Stakkato-Stil Ryans Packritual vorgestellt wird. Ihr Schnitt gibt den Inhalt des Films wieder: Schnell und effizient muss alles sein.

Jason Reitman ist mit Up in the Air ein weiterer Volltreffer gelungen. Sein Film strotzt vor leichtfüssiger Satire und schnellen Screwball-Dialogen, lässt aber auch Herz, Charakterstudie und nachvollziehbares Drama nicht vermissen. Der Satz "Er hat den Zeitgeist getroffen" wird in letzter Zeit leider sehr inflationär gebraucht, hier ist er beinahe angebracht. Denn der Zeitgeist ist meistens der negative beladene Zeitungeist, weshalb man hier "Er hat den Zeitgeist mitten ins Herz getroffen" sagen sollte. Up in the Air ist wahrscheinlich der Film über unsere Zeit. Möglicherweise wird er schlecht altern und in Vergessenheit geraten, aber im Hier und Jetzt ist er nichts weniger als der essentielle Film über das noch junge 21. Jahrhundert. Und dafür zieht dieser Kritiker vor Jason Reitman den Hut.

Samstag, 27. März 2010

The Blind Side

Trautes Familienidyll: Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) kümmert sich um ihren Sohn SJ (Jae Head, links) und den adoptierten Familienzuwachs Michael Oher (Aaron Quintin).

2 Sterne

Amerikaner mögen Sportfilme. Besonders wenn das Ganze auf wahren Begebenheiten beruht, kennt ihre Gier nach Aufsteigergeschichten keine Grenzen. John Lee Hancock hat mit der Buchverfilmung The Blind Side, welche den Beginn der Karriere des Footballstars Michael Oher beleuchtet, genau diese Sparte des Kinopublikums angesprochen - der finanzielle Erfolg liess entsprechend nicht lange auf sich warten. Sogar die Academy erbarmte sich seiner und nominierte den Streifen für "Best Picture", während die Hauptdarstellerin Sandra Bullock sogar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Dies sind wohl die einzigen Gründe, weshalb man sich als Cinephiler The Blind Side ansehen wollen könnte. Hat man ihn gesehen, kann man das Buch, in welchem die Fehler der Academy aufgelistet sind, um ein grosses Kapitel erweitern. Hancocks Film ist nichts anderes als ein schlechter Sportfilm - so einfach ist das.

Zugegeben, Sportfilme zu drehen ist nicht einfach. Kaum ein anderes Genre driftet so leicht in kitschiges Pathos ab. Lustigerweise ist dies aber nicht das Hauptproblem von The Blind Side. Im Gegenteil, die Footballszenen sind überraschend unspektakulär geraten, was dem Streifen gut zu Gesicht steht. Nein, das wahre Problem ist das Drehbuch von John Lee Hancock selbst. Dabei hat der Mann schon bewiesen, dass er schreiben kann. Aus seiner Feder stammt beispielsweise das Drehbuch zu Clint Eastwoods unterschätztem A Perfect World. Überhaupt könnte man denken, dass ein ehemaliger Mitarbeiter Eastwoods in der Lage wäre, einen ansprechenden Film zu drehen. Aber nein, es ist ihm nicht gelungen. Es mutet wie Ironie des Schicksals - oder besser Ironie der Academy - an, dass für Hancocks Schmonzette Eastwoods routinierter Sportfilm Invictus aus der Liste der Nominierten für "Best Picture" weichen musste.

Woran krankt das Skript von The Blind Side? Das gravierendste Problem sind wohl die Figuren. Denn der Film ist - oder sollte es zumindest sein - ein Stück weit eine Charakterstudie, die das Zusammenprallen zweier Gesellschaftsklassen unter die Lupe nimmt. Der arme Junge aus dem Ghetto wird von der moderat republikanischen Familie der gehobenen Mittelklasse aufgenommen. Anstatt sich sklavisch von Michael Lewis' Buch zu leiten, hätte The Blind Side einen anderen Weg gehen können und zu einem ernstzunehmenden Gesellschaftsdrama werden können. Aber das Infragestellen der sozialen Struktur in den USA verkauft keine Tickets. Stattdessen übergeht Hancock jegliche Charakterzeichnung und verlässt sich auf die üblichen Konventionen des Genres. Entsprechend ist dem Zuschauer das Schicksal der Protagonisten relativ egal. Auch werden viele Figuren ziemlich unmotiviert verheizt, ohne dass man auch nur ihre Namen erfährt. Zudem kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass in The Blind Side ein Hauch von Rassismus mitschwingt. Die Stereotypen der Gesellschaft spotten jeder Beschreibung. Der einzige rechtschaffene Schwarze ist Michael Oher, während alle anderen im Ghetto von Memphis sexistische Machos sind. Auch bei der weissen Bevölkerung findet keinerlei Nuancierung statt. Die Oberklasse-Republikanerinnen sind gackernde Hühner, die aussehen, als kämen sie vom Dreh der Senioren-Fassung von Sex and the City. Doch das ist bei weitem nicht der einzige Makel von Hancocks Drehbuch. The Blind Side fehlt es an Spannung und an Stringenz. Viele Szenen wirken dazugepappt und sinnlos. Interesse an der Storyentwicklung kommt nie auf. Und zu "guter" Letzt scheint sich der Streifen auch nicht entscheiden zu können, was er eigentlich sein will. Für ein Drama gibt es zu viele meist unlustige One-Liner und unangebrachte Slapstick-Einlagen, für eine Komödie wird die Fassade der Gesellschaftskritik zu vehement aufrechterhalten. Unausgegorenheit, dein Name ist The Blind Side.

Hält wenigstens Sandra Bullock, was ihr Oscar verspricht? Sie ist blond, sie hat ihren Südstaatendialekt schön brav gelernt und sie spricht in abgehackten Sätzen wie Rorschach in Watchmen. Es ist erstaunlich, was heute nicht alles einen Academy Award bekommt. Hinter der Auszeichnung stand wohl einfach die Idee, man sollte Bullock endlich auszeichnen, bevor sie nur noch in Rom-Coms wie The Proposal oder All About Steve mitwirkt. Sie ist keineswegs schlecht, aber sie hat doch arg mit der Farblosigkeit ihres Charakters zu kämpfen. Quinton Aaron macht sich ganz gut in der Rolle des Michael Oher und zieht schnell wenigstens ein bisschen Sympathie auf sich. Jae Head hingegen, der den Sohn von Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) mimt, geht einem von Anfang bis Ende auf die Nerven. Dies geht sogar so weit, dass man sich wünscht, dass er während des Autounfalls in der Mitte des Films mindestens die Sprachgabe verliert, sodass man sich seine altklugen Bemerkungen und seine an eine Kreissäge erinnernde Stimme nicht mehr anhören muss. Man muss sich schon fragen, was ein Film falsch macht, wenn er einen zu derartigen Gedanken verleitet. Immerhin kommt während des dritten Akts noch Kathy Bates hinzu, die dem Film mit ihrer kecken Art etwas echte schauspielerische Klasse verleiht. Alle anderen Darsteller sind nichts anderes als Staffage und hinterlassen auch keinerlei Eindruck, weshalb auf sie auch nicht speziell eingegangen werden soll.

Die Klischees machen auch vor den technischen Aspekten nicht Halt. Der Mainstream-Kameramann Alar Kivilo (Year One, The Lake House) bietet zwar solide Arbeit, überzeugt aber nicht mit sonderlich innovativen oder kreativen Ideen. Auch der Cutter Mark Livolsi reisst einen nicht unbedingt vom Hocker. Diese Eintönigkeit im technischen Sektor geht sogar so weit, dass der renommierte Komponist Carter Burwell, Haus-Komponist für Joel und Ethan Coen, mit einem langweiligen Score vom Fliessband enttäuscht. Alle diese Punkte laufen letzten Endes auf ein Fazit hinaus: The Blind Side ist einfach ein uninspirierter Film, der zwar eigentlich Gutes will, dies aber überhaupt nicht schafft. Und so muss man sich wieder einmal die unangenehme Frage stellen: Darf man einen Film, dessen Anliegen prinzipiell gut ist, schlecht finden? Ja, denn es ist nicht nur der Wille, der zählt. So bewegt sich John Lee Hancocks Kitsch-Vehikel auf einer ähnlichen Schiene wie John Q oder Pay It Forward.

Ist The Blind Side ein typischer Gutmenschenfilm, der zwar filmisch enttäuscht, das Herz aber am rechten Fleck hat? Nicht wirklich, da der Streifen auch vor rassistischen Untertönen nicht zurückschreckt. Zudem versetzen einen gewisse Humorversuche in Rage und die gefühlvollen Momente wirken aufgesetzt und lächerlich. Grosses Kino, ja selbst grosses Sportkino, sieht anders aus. Fans des Genres und von Sandra Bullock werden wahrscheinlich ihre Freude daran haben, der Rest des Publikums wird sich wohl fragen, was der Film soll. Der Geschichte wird The Blind Side vor allem als weiteres Zeugnis für die Unergründlichkeit der Wege der Academy in Erinnerung bleiben. Etwas anderes hat John Lee Hancock nicht verdient.

Sonntag, 14. März 2010

The Men Who Stare at Goats

Superkräfte kämen jetzt gerade gelegen: Ex-Soldat Lyn Cassady (George Clooney, links) und Reporter Bob Wilton (Ewan McGregor) geraten im Irak mit Amateur-Geiselnehmern aneinander.

4.5 Sterne

Mit The Hurt Locker räumte bei den diesjährigen Oscars ein Film, der auf kritische Weise den Irakkrieg thematisiert, sechs Auszeichnungen ab. Sozusagen als komödiantisches Gegenstück zu Kathryn Bigelows Drama kommt nun The Men Who Stare at Goats des Schauspielers Grant Heslov (Good Night, and Good Luck, Leatherheads) zu uns in die Kinos. Es handelt sich dabei um eine freie Adaption des gleichnamigen Romans von Jon Ronson, der sich mit den paranormalen Truppen der US-Armee auseinandersetzt. Schenkt man dem Buch Glauben, dann hat ein Militäroffizieller namens Jim Channon in den 1970er Jahren die New-Age-Bewegung "studiert" und aufgrund seiner Erfahrung das "First Earth Battalion" ins Leben gerufen. Der Sinn dieses Unternehmens war die Schaffung einer alternativen Form des sprichwörtlichen Kampfes für den Frieden. Der Trailer und der Film selber betonen, dass an der erzählten Geschichte, die man auf den ersten Blick wohl als Unsinn abstempeln würde, mehr wahr sei, als man sich vorstellen kann. Doch ob das Ganze nun Wirklichkeit oder erlogen ist, spielt letzten Endes keine Rolle. The Men Who Stare at Goats ist eine Militärfarce erster Güte, die sich mühelos zu Klassikern wie MASH oder - in geringerem Masse - Stanley Kubricks Satire Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb gesellt.

Skurriler könnte die Prämisse von The Men Who Stare at Goats wohl kaum sein: George Clooney, Ewan McGregor, Jeff Bridges und Kevin Spacey spielen in einem Film mit, der auf einem Tatsachenbericht beruht, welcher sich um sogenannte Jedi-Ritter dreht, die übernatürliche Kräfte wie Telepathie, Unsichtbarkeit und Hellsehen besitzen. Das Endprodukt ist genau das, was man erwarten würde: Eine abgedrehte Komödie/Satire mit urkomischen Darstellern und einer mehr oder minder zweitrangigen Story. Aber es ist dennoch bewundernswert, wie Grant Heslov bzw. sein Drehbuchautor Peter Straughan Jon Ronsons Buch in eine recht kohärente Angelegenheit verwandelt haben. Das Hin- und Herhüpfen zwischen den aktuellen Geschehnissen und der Geschichte der "New Earth Army" gestaltet den Film abwechslungsreich und erlaubt den grossen Namen genug Screentime. Denn der grösste Wert von The Men Who Stare at Goats ist sicherlich sein starbesetzter Cast. Ewan McGregor erinnert einen anfänglich zwar stark an seine Rolle in The Ghost Writer, hat aber bald alle Sympathien auf seiner Seite, da er, wie anfangs das Publikum, von den hirnverbrannten Machenschaften der Armee völlig vor den Kopf gestossen ist. An seiner Seite glänzt George Clooney, dessen Performance Erinnerungen an die ersten beiden Teile der "Numskull-Trilogy" von Joel und Ethan Coen (O Brother, Where Art Thou?, Intolerable Cruelty) weckt. Man könnte sich wahrlich keinen besseren Schauspieler als Clooney in der Rolle des Lyn Cassady, des Supersoldaten in Existenzkrise, vorstellen. Er ist verrückt und vielleicht sogar eine Spur unheimlich, aber man hat ihn sehr schnell ins Herz geschlossen. Kudos für Clooney, der sein komödiantisches Talent auch für eine derartige Produktion hergibt. In kleineren Rollen sind ausserdem Stephen Lang - der Bösewicht aus Avatar -, Jeff Bridges und Kevin Spacey zu sehen. Letztere ergänzen das Duo McGregor/Clooney hervorragend. Bridges spielt die reale Figur des Jim Channon, der für The Men Who Stare at Goats in Bill Django umbenannt wurde, mit der gleichen liebenswürdigen Lockerheit, mit der er in The Big Lebowski bereits die Massen begeisterte. Der Kinosaal bebt vor Lachen, wenn er Blumen an Rekruten verteilt - etwa an den herrlich doof grinsenden Stephen Lang - und dabei Hippie-Slogans von sich gibt. Auf der anderen Seite des Sympathie-Spektrums steht Kevin Spacey, den man wahrscheinlich als den Hauptantagonisten des Films bezeichnen könnte. Aber man mag ihn trotz der Arroganz seiner Figur irgendwie. Dies liegt vermutlich primär an seinen idiotischen und daher unglaublich lustigen Anwandlungen; sei es seine Quietschstimme beim Telepathietraining oder sein seliger Gesichtsausdruck, wenn ihm LSD untergeschoben wird.

Peter Straughans Drehbuch mag kein Meisterwerk der Erzählung sein; trotzdem bewegt es sich trotzdem auf hohem Niveau und bringt das Kunststück fertig, aus allem einen Witz zu machen. Denn es gibt Szenen in The Men Who Stare at Goats, die gefährlich ins allzu Esoterische abzudriften drohen, im letzten Moment aber von einer Absurdität, die man so nicht hat kommen sehen, gerettet werden. Zudem erweist sich Straughan als Meister des stummen Witzes. Selten sorgte ein wortloser Blickwechsel zweier Protagonisten für Pandemonium im Kino (Stichwort: Augenfunkeltechnik). Aber auch die Dialoge sitzen und tragen ihren Teil zum allgemeinen Gelächter während des Films bei. The Men Who Stare at Goats hat überdies durchaus seine satirischen Momente, die man in einem Film, der während des Irakkriegs spielt, sehr gerne sieht. Und dabei bekommen nicht nur die amerikanischen Streitkräfte ihr Fett ab, sondern auch naive Geschäftsleute, Kriegsreporter und die Massenmedien.

Auch über die technische Ausführung von The Men Who Stare at Goats darf man sich nicht beklagen. Kameramann Robert Elswit - Oscar 2008 für There Will Be Blood - findet einen gelungenen Mittelweg zwischen klassischen Kriegsfilmbildern und einer kunstvollen Kameraführung mit fantasievollen Schwenks und Einstellungen. Tadellos ist auch Tatiana Riegels Schnitt.

Eine Frage hat die Amerikaner in Bezug auf diesen Film sehr beschäftigt: Darf man eine Komödie über den Irakkrieg drehen? Ist es nicht pietätlos, den Kriegsalltag mit Pseudo-Schiessereien zwischen zwei amerikanischen Truppen, militärischer Inkompetenz oder der Vorstellung, dass Männer dazu ausgebildet werden, Ziegen mit Blicken zu töten, darzustellen? Auch die wunderbare Schlussszene gibt die im Irak stationierten Soldaten der Lächerlichkeit preis. Vielleicht ist auch gerade dies das Schöne an Grant Heslovs Film: Der Krieg an sich spielt eigentlich keine Rolle. Es ist eine simple Komödie, die zwar einige aufrührerische Ansätze beinhaltet, alles in allem aber vordergründig zur Unterhaltung des Publikums dient. Somit kann den moralischen Bedenken nur entgegnet werden: Man darf eine Komödie über den Krieg drehen, zumindest wenn ein Talent wie Grant Heslov dafür verantwortlich zeichnet.

Die Befürchtungen, dass alle lustigen Szenen bereits im Trailer gezeigt wurden, haben sich nicht bewahrheitet. The Men Who Stare at Goats ist ein höchst unterhaltsamer Angriff auf die Lachmuskeln, der mit einer gesunden Länge (95 Minuten) sich auch niemals in die Länge zieht. Der Film ist eine Perle der absurden Komödie und ist inmitten der Möchtegern-Lustspiele, die zurzeit das US-Kino erobern, eine Wohltat für Freunde guter Unterhaltung. Gespickt mit Stars, die sich auch für Slapstickeinlagen nicht zu schade sind, tollen Sprüchen, witzigen Verschrobenheiten und der richtigen Dosis Story ist The Men Who Stare at Goats ein absolut empfehlenswerter Film und schon jetzt ein Kandidat für den lustigsten Film 2010.