Unter Freunden: Mary (Lesley Manville, Mitte) ist wieder einmal zu Gast bei Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen).
★★★★★★
Mike Leigh gehört zu den grossen Realisten des Kinos. In seinen Filmen agieren Figuren, die direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen und die in ihrer Alltäglichkeit so vollendet sind, dass man sie irgendwoher zu kennen glaubt. Doch damit nicht genug: Leigh widersteht der Versuchung, seine Charaktere in eine aussergewöhnliche Situation hineinzuversetzen, sondern belässt es dabei, sie zu beobachten und sie ein Eigenleben entwickeln zu lassen. Das Ergebnis sind jeweils episodenhafte Filme, die im Grunde nur lose zusammenhängen, durch ihre Protagonisten jedoch zusammengehalten werden und trotz allem als geschlossene Einheit funktionieren. Another Year ist ein weiterer Beleg für Leighs diesbezügliches Talent. Sein erster Film seit dem Hit Happy-Go-Lucky (2007) ist eine kleine Perle des britischen Kinos.
Der Name ist bei Another Year Programm. Man könnte sogar so weit gehen und dem Filmtitel ein "Just" anhängen. Denn so verhält sich die Geschichte und so fühlt sie sich auch an. Charaktere kommen und gehen, sind im einen Moment wichtig, nur um im nächsten wieder komplett von der Bildfläche zu verschwinden. Und im Zentrum stehen Tom und Gerri, ein glückliches Ehepaar um die 60, er ein Geologe, sie eine Psychologin, in deren Schrebergarten sich der Fortlauf der Jahreszeiten und des Lebens widerspiegelt. Tom und Gerri sind der ruhende Pol in einem kleinen Ensemble von Menschen, die auf die eine oder andere Weise - manche mehr, manche weniger - unglücklich sind. Jim Broadbent und Ruth Sheen strahlen in ihren jeweiligen Rollen eine bewundernswerte Gemütsruhe und Einfühlsamkeit aus, jedoch immer gewürzt mit sanfter britischer Ironie; etwa wenn Gerri sich erkundigt, wie Tom bei seiner Arbeit vorankommt, worauf er schmunzelnd mit "Inexorably!" antwortet. Sie sind kein aussergewöhnliches Paar, aber immerhin eines, das man nur zu gerne kennt. Entsprechend gehen diverse Freunde und Bekannte in ihrem Haus aus und ein: Mary, gespielt von der starken Lesley Manville, ist geschieden, hat die Suche nach dem "Richtigen" allerdings noch nicht aufgegeben und hat ein Problem mit dem Alkohol; doch sie gaukelt sich vor, mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Zu allem Überfluss scheint sie sich in Tom und Gerris erwachsenen Sohn Joe, der von Oliver Maltman sehr nuanciert dargestellt wird, verguckt zu haben, trotz des erheblichen Altersunterschieds. Entsprechend verstimmt reagiert sie, als Joe zum ersten Mal seit Jahren in einer Beziehung ist; in einer, die in Sachen Glück der seiner Eltern in nicht viel nachsteht. Manvilles kraftvollste Szene ist ihr Dialog mit Ronnie, Toms Bruder, hervorragend gespielt von David Bradley (den man als Hausmeister Argus Filch aus den Harry Potter-Filmen kennen könnte). Der frisch verwitwete Ronnie sagt kaum ein Wort und steht immer noch unter Schock. Doch dank ihrer Hilfe findet er ganz langsam seinen Lebenssinn wieder. Für Mary hat das ausgedehnte Gespräch einen leicht kathartischen Charakter, da sie für einmal keine Hilfe annehmen muss, sondern jemandem helfen kann, möglicherweise sogar unbewusst.
Der Grossteil der Handlung dreht sich um Tom, Gerri, Mary und Joe und ihre Beziehung untereinander. Doch wie auch im richtigen Leben verläuft diese Geschichte nicht ohne andere Menschen und Ereignisse. Seien es trivial anmutende Dinge wie Marys neues Auto, der Besuch eines alten Freundes von Tom oder der Auftritt einer todunglücklichen Patientin Gerris, gespielt von Imelda Staunton (Mike Leighs Vera Drake), die aber doch alle Einfluss auf die Protagonisten üben, oder sei es ein tragischer Anlass wie der Tod und die Beerdigung von Ronnies Frau - es findet alles Erwähnung.
Letztendlich sind die Charaktere die grösste Stärke von Another Year. Es überrascht nicht, dass Mike Leigh und sein Cast sie über Monate hinweg gemeinsam entwickelt haben. Selten wurden einem in jüngerer Zeit so abgerundete und vollendete Figuren präsentiert. Es ist ein kleines Sammelsurium echter Menschen, mit denen man sich problemlos identifiziert und für deren Leben man grenzenloses Interesse verspürt. Und genau wie sie sind auch Leighs Dialoge und Situationen frei von Klischees und unrealistischen Kunstgriffen. Die Dialoge sind Alltagsgespräche, denen man vermutlich so oder in ähnlicher Form auch schon beiwohnte, doch man verfolgt sie sehr gerne, vielleicht gerade deshalb. Zudem ist Leigh nicht nur ein Meister des Realismus und der feinen Beobachtung, sondern auch einer des britischen Humors. Besonders wenn Tom, Gerri und Joe sich miteinander unterhalten, herrscht stets eine angenehme Atmosphäre der freundlichen und lockeren Ironie (Stichwort: "Basically he just digs holes.").
Ein Wort, welches einem im Zusammenhang mit Another Year immer wieder einfällt, ist "Understatement". Dies bekommt man in vielen Filmen zu sehen, doch in Another Year wirkt es völlig natürlich. Es scheint so, als ob es ganz von alleine den Ton und die Art des Films bestimmen würde. Kameramann Dick Pope hat hier sicherlich auch einen Teil dazu beigetragen. Seine langen, unaufgeregten Einstellungen lassen den Schauspielern Zeit, viel mit Mimik zu arbeiten. Ausserdem verfährt Pope mehrmals nach dem Prinzip, einer Szene einen festen Rahmen zu geben und die Figuren ihn durchqueren, verlassen und wieder betreten zu lassen. Auch darf man seine Farbschemen nicht vergessen: besonders während des im Winter spielenden dritten Akts herrschen kalte Farben vor, die perfekt zur Beerdigung von Ronnies Frau und Marys Gemütslage passen.
Another Year ist ein Film, der nur schwer zu beschreiben ist. Er ist genial in seiner Einfachheit und seiner Bescheidenheit. Obwohl er mehr Beobachtung als Erzählung ist und sich so einer konventionellen Story widersetzt, fasziniert und berührt er mit seinen Figuren, die, gemeinsam mit Tom und Gerris Schrebergarten, die einzige Konstante in den vier Kapiteln - Frühling, Sommer, Herbst und Winter - sind. Mike Leigh weiss, wo seine Stärken liegen, und die spielt er hier grandios aus. Sein brillantes Drehbuch, welches die Oscarnomination mehr als nur verdient hat, kreiert ein eigenes kleines Universum, das von überwiegend nachfühlbaren und sympathischen Charakteren bevölkert wird, für die wir uns wirklich und wahrhaftig interessieren. Another Year ist ein intimer, humorvoller und ehrlicher Blick auf normale Menschen in alltäglichen Situationen. Wieder einmal zeigt Mike Leigh, dass auch gerade ein einfaches Konzept einen wunderbaren Film ergeben kann.
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