Sonntag, 27. Februar 2011

The King's Speech

Selbstvertrauen ist alles: Sprachtherapeut Lionel (Geoffrey Rush, rechts) versucht Albert (Colin Firth), den zukünftigen englischen König, Mut einzuflössen und ihm klar zu machen, dass er sein Stottern überwinden kann.

4 Sterne

Der grosse Favorit der diesjährigen Oscarverleihung ist The King's Speech, ohne Frage. In ganzen zwölf Kategorien ist er nominiert und das grösste Geheimnis ist im Moment nur noch, mit wie viel Abstand er seine Konkurrenten - allen voran David Finchers Meisterstück The Social Network - hinter sich lassen wird. Man sollte ihm den Erfolg nicht direkt übel nehmen, da es sich um einen wirklich guten Film handelt. Die Betonung liegt allerdings auf "gut". The King's Speech gehört zu den filmischen Werken, an denen es grundsätzlich nicht viel auszusetzen gibt, die einen aber auch nicht zu überwältigen vermögen. Die Meinung vieler Kritiker und insbesondere die der Gilden des US-Filmbusiness mögen etwas anderes suggerieren, aber aus der Sicht dieses Kritikers ist Tom Hoopers Film über den stotternden englischen König George VI nichts anderes als ein urbritisches Period Piece, das gefällt und unterhält, der Welt aber nichts Neues bietet.

Die beste Beschreibung der Qualität von The King's Speech ist wohl die banalste von allen: Er ist gut, nicht mehr und nicht weniger. Tatsächlich ist die einzige Disziplin, in der sich Tom Hoopers Streifen besonders hervor tut, das Schauspiel seiner beiden Hauptakteure. Colin Firth übertrifft als George VI - oder Bertie, wie er von den anderen Figuren meist genannt wird - seine letztjährige Performance als verzweifelter homosexueller Lehrer, die durch ihre Feinfühligkeit und Eindringlichkeit bestach, in Tom Fords A Single Man. Seine beeindruckendste Leistung ist aber nicht einmal sein makelloses Stottern an sich, sondern der Umstand, dass er den Sprachfehler nicht zu einem alles einnehmenden Charakterzug seiner Figur - und diese selbst damit zu einer Karikatur - werden lässt. Bertie ist weit mehr als ein verzweifelter Adeliger, der keinen Satz ohne Hänger aufsagen kann, was zu einem schönen Teil Firths Verdienst ist. Das Drama seiner Behinderung wird nie über- oder untertrieben und es ist dem Film - und auch Firth - hoch anzurechnen, dass die Titel gebende Rede nicht in perfektem Vorleseenglisch gehalten wird, sondern dass sich durchaus auch Pausen und schwierige Passagen darin finden, in denen sich der innere Kampf des Königs wider Willen abzeichnet. Auch wenn Colin Firth dieses Jahr erneut seinem Oscar-Konkurrenten Jeff Bridges (True Grit) schauspielerisch knapp unterlegen ist, darf man sich für den Briten freuen, wenn er die Goldstatuette im Kodak Theater entgegennehmen wird. Wer in der Oscar-Nacht auch auf der Bühne stehen könnte, ist sein Co-Star Geoffrey Rush, ein Schauspieler der Sorte "Immer gut, egal wie mies der Film", der für seine Rolle als David Helfgott in Shine bereits mit einem Hauptrollenoscar ausgezeichnet wurde. Rush spielt den Australier Lionel, den ruhigen, ironischen und vor allem bürgerlichen Gegenpol zum verbitterten und zu einem gewissen Grade naiven Monarchen. Lionel ist freiberuflicher Sprachtrainer, mit dem Bertie über die Jahre eine tief greifende Freundschaft entwickelt und an welchem er auch vor seiner grossen Kriegsrede festhält - trotz aller Zweifel des Erzbischofs von Canterbury (verkörpert von der Schauspiellegende Derek Jacobi). Geoffrey Rush betritt, mehr noch als Firth, gemessen an der Figurencharakterisierung, kein darstellerisches Neuland. Aber es ist ihm dennoch gelungen, seinen Lionel nicht bloss als aufgestellten Comic Relief erscheinen, sondern ihn ein Eigenleben entwickeln zu lassen, das auch vor ein paar tragischen Andeutungen nicht Halt macht. Die dritte Hauptfigur, deren Verkörperung die Aufmerksamkeit der Academy auf sich gezogen hat, ist Berties Frau Elizabeth - heute wohl eher unter dem Namen Queen Mum bekannt - , gespielt von Helena Bonham Carter. Ihre Leistung ist zweifelsfrei von guter Qualität, geht aber neben denjenigen von Firth und Rush beinahe unter - was bedauernswert ist, da Elizabeth immer mehr zum wichtigsten emotionalen Rückhalt Berties wird. Viel mehr als Carters Auftritt bleibt die Nebenrolle Sir Michael Gambons (Extraerwähnung "and..." im Abspann) als Berties Vater George V in Erinnerung. Gambon, der männiglich mittlerweile nur noch mit der Harry-Potter-Reihe assoziiert wird, ist nur in zwei kurzen Szenen zu sehen, hinterlässt mit seiner kraftvollen Präsenz einen bleibenden Eindruck. Neben den fünf hier erwähnten Schauspielern geben sich weitere Starmimen die Ehre - von Guy Pearce als Berties älterer Bruder und abdankender König Edward VIII bis hin zu Timothy Spall als Winston Churchill.

Urbritisch ist nicht nur die Besetzung von The King's Speech, sondern auch die Inszenierung. So britisch sogar, dass man sich mehrfach in einem gediegenen BBC-Episodendrama wähnt. Ob das nun ein gutes Zeichen ist, bleibe dahingestellt. Tatsache ist, dass Tom Hoopers Regie die Stringenz und Stilsicherheit seines vorangegangenen Werkes The Damned United vermissen lässt. Der Film ist zwar keineswegs langweilig, doch stellenweise etwas gar steif inszeniert. Echte emotionale Spannung wie während der klimaktischen Rede oder der Szene, in der Herrscher (Bertie) und Bürger (Lionel) symbolisch die Rollen tauschen, bleibt die Ausnahme. Einen gewissen Anteil daran dürfte auch David Seidlers unstetes Drehbuch haben, welches er schon zu Lebzeiten Queen Mums in Planung hatte; es blieb dann in der Schublade, da die greise Königinmutter auf Seidlers Wunsch nach ihrem hoheitlichen Placet sinngemäss geantwortet haben soll: "Only over my dead body!" Seidler beweist Fingerspitzengefühl, Charme und Witz, wenn es um Dialoge und Charakterentwicklung geht. Seine Figuren sind lebende Menschen und nicht Schablonen. Die Gespräche sind mit britischen Humor, wenn auch von der eher allzu braven Sorte, gespickt, die problemlos zu unterhalten wissen, selbst wenn der Versuch, die beiden Hauptakteure als "Leute wie du und ich" zu porträtieren, auf der verbalen Ebene teils etwas dick aufgetragen wirkt - siehe den fluchenden Bertie. Aber Seidler zeigt Schwächen im Storyaufbau. The King's Speech behandelt einen Zeitraum von 14 Jahren (1925-1939), die man als Zuschauer aber nicht fühlt. Überhaupt liegt darin das ganze Paradox des Drehbuchs: Während die Entwicklung der einzelnen Charaktere von David Seidler ungemein elegant angelegt hat, holpert der Prozess des Anfreundens von Bertie und Lionel ein wenig. Es ist zwar nachvollziehbar, dass die beiden immer mehr Sympathien füreinander entwickeln, doch das Ganze scheint sich schubhaft und nicht graduell abzuspielen. Auch das ist einer der Gründe, warum sich das Gefühl, man wohne einer TV-Miniserie bei, nur schwer loswerden lässt. Und interessanterweise besteht Tom Hoopers bisheriges Schaffen überwiegend aus Fernseh- und Miniserien (darunter der kommerzielle wie kritische Erfolg John Adams).

Natürlich dürfen bei einem Period Piece dieses Typs, die Schauwerte nicht fehlen. Diese sind fürwahr ein Genuss. Ausstattung und Kostüme vermitteln einem die Atmosphäre im England der 1930er Jahre makellos. Hinzu kommt der wunderschöne, nostalgische Score von Alexandre Desplat, der, wie man es sich inzwischen von Desplat gewohnt ist, mehr auf leise Stücke setzt, als auf dramatische Orchestrierung - ein willkommener Trend, zumindest in den Augen, respektive Ohren, dieses Rezensenten.

Sich negativ über The King's Speech zu äussern, fällt zugegebenermassen schwer. Nur, und das ist der Knackpunkt, ist es fast genauso schwierig, den Film mit Lobgesängen einzudecken. Tom Hoopers neuer Film ist in gewisser Weise eine Zelebrierung sowie eine teilweise Wiedererweckung des alten "Hollywood" der 1930er- und 1940er Jahre. Daran ist nichts Schlechtes, doch es braucht mittlerweile mehr, um einen wirklich sensationellen Film zu machen. Es darf auch einmal mit der einen oder anderen Konvention gebrochen werden - eine Praktik, die Tom Hooper durchaus beherrscht, wie The Damned United bewies. Wie die Academy dies goutieren wird, wird sich weisen. Und obwohl man den Oscars nicht zuviel Bedeutung beimessen sollte, ist das diesjährige Rennen in vielerlei Hinsicht auch ein Wettstreit zwischen "New Hollywood" und "Old Hollywood" - ein Wettstreit, der von entscheidender Bedeutung für das zukünftige Filmgeschäft sein kann.

Freitag, 25. Februar 2011

127 Hours

Aussichtslose Lage? Abenteurer und Extremsportler Aron Ralstons (James Franco) Arm ist zwischen einem Stein, der sich nicht bewegen lässt, und einer Felswand eingeklemmt und sucht nach einer Möglichkeit, sich zu befreien.

4.5 Sterne

Die Kreativität von Filmemachern ist bewundernswert, wenn es darum geht klassische Erzählstrukturen innovativ umzuinterpretieren. Anstatt mit der Tradition zu brechen, ist man bemüht, neue Wege zu finden, sie anregend umzusetzen. Der Engländer Danny Boyle hat diese Art des Inszenierens nach und nach zu einem Markenzeichen gemacht und mit 127 Hours, der Verfilmung des autobiographischen Buches von Aron Ralston, der 2003 beim Bergsteigen verunglückte, fünf Tage eingeschlossen war, da niemand wusste, wo er war, und sich schliesslich den rechten Arm mit einem Taschenmesser amputierte, einen weiteren Beweis für seine diesbezügliche Ambition abgeliefert. Hier treibt er die drei aristotelischen Erzähleinheiten - Zeit, Ort, Handlung - auf die Spitze und vermag damit sehr zu überzeugen. Jedoch bemühnt sich Boyle in seinem neusten Werk auch, seinen Ruf als "Hipster-Regisseur" zu zementieren und greift dabei leider mehrfach Stilelemente auf, die schon in seinem letzten Film - Slumdog Millionaire (2008) - als zu hektisch und effekthascherisch empfunden wurden. Dennoch ist 127 Hours eine anregende Charakterstudie, die nicht zuletzt dank Hauptdarsteller James Franco - Hollywoods Jungstar der Stunde - positiv in Erinnerung bleibt.

Ein Blick auf die Crew, die bei 127 Hours hinter der Kamera mitgearbeitet hat und man stellt umgehend fest, dass die Personalparallelen zu Slumdog Millionaire erheblich sind. Sieht man den neuen Film, dann wird klar, dass Danny Boyle zwar stilistisch auf seinem mit acht Oscars ausgezeichneten Erfolgsfilm aufbaut, inhaltlich die beiden Streifen aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Beispiel der aristotelischen Einheiten bietet sich an: Slumdog Millionaire war ein Film, der eine mehrjährige Story aufrollt, während 127 Hours einen Zeitabschnitt von fünf Tagen behandelt; die Bollywood-Hommage spielte sich gefühlt in ganz Indien ab, während die Verfilmung von Aron Ralstons Buch Between a Rock and a Hard Place quasi auf einem Quadratmeter spielt; und während Ersterer eine Geschichte mit Rahmenhandlung und internen Subplots aufweist, erzählt Letzterer vom Innenleben seines gefangenen Hauptcharakters, blendet die Gegenwart aber nie gänzlich aus. Das ist auch die Stärke der von Danny Boyle und Simon Beaufoy adaptierten Story. Aron Ralston flüchtet sich zwar in Halluzinationen, Erinnerungen und mögliche Zukunftsszenarien, vergisst aber nie, wo er ist und dass er sich nur selbst aus seiner misslichen Lage befreien kann. Dies hebt 127 Hours auch von Sean Penns Into the Wild ab, der zwar inhaltlich ähnlich ist, sich allerdings um einen eher nervenden Protagonosten dreht, der es praktisch als Ehre empfindet, an seiner eigenen Lethargie zu Grunde zu gehen - solange er nur die Natur um sich hat. Aron ist diesbezüglich von ganz anderem Kaliber: Er liebt zwar Natur und Abenteuer genauso wie Christopher McCandless in Into the Wild, respektiert sich selbst aber genug, um sich aktiv um sein Überleben zu bemühen. Diese Ähnlichkeit mit McCandless hat jedoch auch zur Folge, dass man erst nach Sympathien für Aron suchen muss. Seine Leichtfertigkeit, mit der er Wanderungen, Klettern und allerlei gefährliche Aktionen angeht, führt dazu, dass man im Moment des fatalen Sturzes innerlich seufzt "Da hat er jetzt den Salat!". Da kommt einem aber glücklicherweise Danny Boyles Inszenierung zu Hilfe, die aus stationären Handlung eine unglaubliche Dynamik herausholt. Dies funktioniert während Arons Gefangenschaft grösstenteils gut, verfehlt aber während den ersten 15 Minuten seinen Zweck. Anfangs wirkt 127 Hours mit seinen Split-Screenshots, hektischen Schnitten, übertriebenen Detailaufnahmen und der gellenden Musik von A.R. Rahman wie ein überlanger Werbespot, bei dem vergessen wurde, wofür eigentlich geworben werden soll. Doch kaum hat das Drama wahrhaftig angefangen - was dadurch gezeigt wird, dass der Titel erst dann auf der Leinwand erscheint, als Aron zwischen Stein und Felswand feststeckt -, wird alles langsamer, roher und vor allem echter. Der Protagonist verwandelt sich von einem Model für Jack Wolfskin zu einem Menschen, den man nun auch besser kennen und verstehen lernt. Der Film lässt sich auch Zeit, Ralstons fruchtlose Befreiungsversuche, seine Wut und seine letztendliche Anpassung an die Situation geduldig und schrittweise zu beleuchten. Boyle hat ein gutes Auge für Details wie Ameisen und andere Insekten, die eine potentielle baldige Nahrungsquelle zu wittern scheinen; die Krähe, die (fast) jeden Morgen um Punkt 8.17 Uhr über die Felsspalte fliegt; oder die 15 Minuten Sonnenlicht, die Aron jeden Morgen bekommt. Jede Szene markiert einen weiteren Schritt in Richtung finaler Katharsis, auf die 127 Hours hinausläuft. Der Film beschreibt im Grunde genommen einen Selbstfindungstrip, der auf kleinstem Raum stattfindet. Aron wird durch den Felsbrocken für einmal an einer Stelle festgehalten, sodass er sich mit seinem Leben ernsthaft auseinandersetzen kann.

Diesen Part zu spielen ist sicherlich nicht einfach; doch einer der grössten Vorzüge von 127 Hours ist die fantastische Performance von James Franco, der einem Einblick ins Innenleben Arons gewährt. Die Szene, in welcher Franco bzw. seine Figur drei Rollen übernimmt - sich selbst, einen Talkshow-Host und einen Anrufer - und seine Lage in Form einer heiteren Fernsehsendung in seine Videokamera spricht, ist einerseits Schauspiel auf höchstem Niveau, und andererseits eine enorm starke Szene, die die Gemütslage des Protagonisten - das Schwanken zwischen Galgenhumor, Verzweiflung und Realismus - und dessen Wunsch, den Verstand nicht zu verlieren, hervorragend auf den Punkt bringt.

Auf der technischen Seite kann man im Prinzip niemandem schlechte Arbeit vorwerfen. Zwar wirken Cutter Jon Harris' Split-Screens sowie manche von Anthony Dod Mantles und Enrique Chediaks ungewöhnlichen Kamerapositionen etwas aufdringlich und protzig, sind aber allesamt sehr gut gemacht und verhelfen dem Film auf ihre Weise zu seiner beeindruckenden Dynamik. Auch A.R. Rahmans Musik rückt nach der Exposition in den Hintergrund und wird subtiler und weniger überbordend.

127 Hours ist ein Film von einem Hipster über einen Extremsportler, der für alle etwas bereit hält. Auch wenn gewisse Szenen grosses Schockpotential haben - Stichwort: Armamputation - und demnach auch starke Nerven voraussetzen, sollte man Danny Boyles Film nicht verpassen. Man begibt sich auf eine, trotz aller Widrigkeiten, ermutigende Reise - anders als in Into the Wild - und entdeckt aus einer gewissen Distanz das Innenleben von Aron Ralston, der übrigens auch nach seinem traumatischen Erlebnis im Blue John Canyon ein begeisterter Abenteurer blieb und bis heute seinen Extremsport-Hobbys frönt. Auch wenn sein Lebenswandel für viele schwer oder überhaupt nicht nachvollziehbar ist, Arons Haltung hat fraglos etwas Inspirierendes - ein Wort, welches auch in Bezug auf 127 Hours benutzt werden darf.

Mittwoch, 23. Februar 2011

Winter's Bone

Die Suche nach dem verschollenen Familienmitglied: Ree (Jennifer Lawrence) und ihr Onkel Teardrop (John Hawkes) wollen ihren Vater/Bruder Jessup finden, damit Rees Familie ihr Haus behalten kann.

4 Sterne
[nach wiederholtem Schauen auf 4.5 bis 5 Sterne aufgebessert]

Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Filme, die mehr als ein halbes Jahr quasi von der Bildfläche verschwunden sind, drängen sich plötzlich wieder in den Vordergrund, da sie für einen oder sogar mehrere Oscars nominiert werden. Es sind die Gewinner der Sparte "Einheimisches Drama" bei Robert Redfords Sundance Film Festival, das sich dem Independent-Film verschrieben hat. Letztes Jahr war es Lee Daniels' Precious (zwei Oscars, vier weitere Nominationen), im Jahr davor das Drama Frozen River (zwei Nominierungen). Heuer ist es Debra Graniks Verfilmung von Daniel Woodrells Roman Winter's Bone, die von der Academy in ganzen vier (Haupt-)Kategorien Erwähnung findet (Bester Film, Beste Hauptdarstellerin, Bester Nebendarsteller, Bestes adaptiertes Drehbuch). Diese Ehren haben jeweils zur Folge, dass Indie-Filme auch ausserhalb der USA einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, mehr Geld einspielen und so die Rentabilität dieser besonderen Art des Kinos des 21. Jahrhunderts gewährleisten. Doch die Frage nach der Qualität muss trotz allem immer wieder aufs Neue gestellt werden, so auch dieses Jahr: Verdient Winter's Bone das Lob, das ihm entgegenschlägt? Ja und nein.

Debra Graniks Film bringt das wundersame Kunststück fertig, in eminent wichtigen Punkten zu versagen, im Grossen und Ganzen aber dennoch zu gefallen. Die Prämisse von Winter's Bone klingt überaus spannend: Die 17-jährige Ree sorgt im Hinterland von Missouri für ihre beiden jüngeren Geschwister und ihre katatonische Mutter und erfährt, dass, da ihr Meth herstellender Vater Jessup zu einem Gerichtstermin nicht erschienen ist, die Familie ihr Haus verliert, da es von Jessup als Kaution hinterlegt wurde. Also macht sich Ree auf die Suche nach ihrem alten Herrn, muss aber bald feststellen, dass die Menschen in der näheren Umgebung nicht daran interessiert sind, dass jemand nach Jessup sucht. Die Story bedient sich einer altgedienten, zeitlosen Thematik, die schon immer gute Dramen, Thriller und Krimis hervorgebracht hat: der Suche nach einer vermissten Person. Leider ist Winter's Bone nicht annähernd so spannend, wie er sein könnte. An den Dialogen liegt dies nicht. Debra Granik und Anne Rosellini vereinigen in ihrem Drehbuch die wortkarge Eloquenz eines No Country for Old Men und den dem US-Bundesstaat Missouri eigenen Slang und erzeugen allein mit Worten schon eine beklemmende Atmosphäre, die, wohl nicht zuletzt dank des grandiosen trostlosen Settings der Ozark Mountains, John Boormans Deliverance nachzueifern scheint. Nein, das Problem liegt bei der Art, wie die Geschichte vorgetragen wird. Der Zuschauer wird nur oberflächlich über die Beweg- und Hintergründe der Charaktere aufgeklärt, was es ungemein schwer macht, sich emotional an die Figuren zu binden. Man weiss, dass man einem soliden Film beiwohnt, aber man empfindet nichts dabei. Kudos für die subtile Charakterentwicklung und die leisen Hinweise auf das Intrigennetz, welches sich in Winter's Bone nach und nach offenbart; aber das Geschehen verliert an Tragweite und Spannung, wenn einem die Charaktere fremd bleiben. Zudem ist der Plot, trotz aller Zeitlosigkeit, schlichtweg zu dünn, selbst für einen Film, der nur 95 Minuten dauert. Ein allzu tiefgreifendes Interesse an der Handlung entsteht zu keinem Zeitpunkt.

Nichtsdestotrotz verunmöglichen diese gravierenden Defizite den Genuss des Films nicht. Grossen Anteil daran hat sicherlich die Hauptdarstellerin, die 20-jährige Jennifer Lawrence, in der Rolle der Ree. Auch wenn sie Graniks und Rosellinis Probleme mit der Charakterisierung der Figuren nicht völlig kaschieren kann, macht sie Ree immerhin zu einer sehr sympathischen Protagonistin, deren Entschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein einerseits beeindrucken und einem andererseits die Tragik des Charakters näherbringen. Wir wissen wenig über Ree, aber wir können klar erkennen, dass sie ein Mädchen ist, das aufgrund seiner Familiensituation zu früh erwachsen werden musste. Vergleiche mit Charles Portis' Romanfigur Mattie Ross (True Grit) oder der von Natalie Portman verkörperten Mathilda Lando in Léon sind durchaus angebracht. Neben Lawrence agiert in erster Linie John Hawkes, der wie Lawrence für einen Oscar nominiert wurde. Hawkes spielt den stets angespannten, passiv-aggressiven Teardrop, Jessups Bruder, der sich gemeinsam mit Ree auf die Suche nach ihm begibt. Er ist keine sonderlich sympathische Figur, aber auch ihm liegt eine durchaus dreidimensionale Traurigkeit zugrunde, deren Potential jedoch nur angedeutet wird. Die diesbezüglich beste Szene ist die letzte, in der Teardrop sich selber eingesteht, dass er ein gebrochener Mann ist und an den bedauernswerten Ereignissen, die sich abgespielt haben, rein gar nichts ändern kann. Hawkes zeichnet sich in dieser wie auch in jeder anderen seiner Szenen durch sehr differenziertes und starkes Schauspiel aus. Ausser Hawkes und Lawrence bleibt nur eine Darstellerin dauerhaft in Erinnerung: Lauren Sweetser als Gail, Rees Freundin. Wie auch Ree besticht Gail durch Kompromisslosigkeit und Eigenverantwortung. Der grösste Unterschied zwischen den beiden Charakteren ist, dass Gail nicht so wirkt, als ob sie wirklich in die Gemeinde der Südstaaten-Hinterwäldler gehört. Sie scheint, mehr als Ree, dafür gemacht zu sein, aus der Einöde auszubrechen und in der Stadt ihr Glück zu suchen. Doch auch über diese Charaktereigenschaft schweigt sich das Skript weitgehend aus.

Bebildert wurde Winter's Bone vom bislang unbekannten Kameramann Michael McDonough, der sich die karge Szenerie wunderschön zu Nutze machte. In seinen Aufnahmen herrschen Brauntöne vor, die den harten Winter des Mittleren Westens der USA sehr poetisch untermalen. McDonough unterstützt Debra Graniks ruhige Inszenierung, die nur durch sehr wenige lautere Szenen in entsprechenden Umgebungen gebrochen wird, optimal. Letztlich erinnert die Stimmung in Winter's Bone passenderweise an ein Werk aus der amerikanischen Folk-Musik: Bob Dylans "North Country Blues".

2010 war kein spektakuläres Jahr für Independent-Filme. Die erfolgreichsten Produktionen - The Kids Are All Right und Winter's Bone - sind beide ambitiös, weisen aber beide Mängel auf. Debra Graniks Film erzählt eine Geschichte, die weitgehend kalt lässt, in der Charaktere agieren, über die man so gut wie nichts weiss. Es ist an den Schauspielern, diese Hohlräume zu füllen und es gelingt ihnen recht ordentlich. Winter's Bone ist zweifelsohne ein Film, dessen Visionierung man nicht bereuen wird und der eine kritische Auseinandersetzung verdient. Er ist kein cineastisches Highlight, weiss aber mit gewissen sehr starken Aspekten zu gefallen, wenn nicht mit seiner Story, dann wenigstens mit einigen guten Darstellern und einer stimmigen, düsteren Atmosphäre. Man kann Winter's Bone ohne zu zögern empfehlen, allein schon wegen den Diskussionen über seine Qualitäten und Mängel.

Sonntag, 6. Februar 2011

Welcome to the Rileys

Vatersein verlernt man nicht: Klempner Doug (James Gandolfini) hilft der Stripperin Mallory (Kristen Stewart), besser mit ihrem Leben zurechtzukommen.

3.5 Sterne

Kristen Stewart ist einer der aufstrebenden Hollywood-Stars. Dank ihrer Hauptrolle in der Hit-Filmserie Twilight kennt fast jeder durchschnittliche amerikanische Teenager ihren Namen, was wiederum dazu führt, dass sie von Independent-Produzenten gerne als Publikumsmagnet eingesetzt wird. Auf diese Weise eröffnete sich Filmen wie Adventureland, The Yellow Handkerchief oder The Runaways eine ganz neue demografische Interessengruppe. Doch ob Stewart den ganzen Rummel tatsächlich verdient, ist eine ganz andere Frage. Sie hat ein gewisses schauspielerisches Talent, ohne Frage, ist aber weder vielseitig noch charismatisch genug, um jemals zu Hollywoods Grossen zu gehören. Allerdings ist sie das Quotenmädchen der Stunde, welches man gerne castet, wenn man die allgemeine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Film lenken will. So geschehen mit Welcome to the Rileys, der zweiten Regiearbeit von Ridley Scotts Sohn Jake, einem netten, schnell vergessenen Indie-Film.

Wirklich originelle Geschichten sind im Kino rar. Nun haben aber Drehbuchautoren den Kniff entdeckt, bekannte Storys miteinander zu verweben, sodass die bekannten Szenarien in neuem Licht gezeigt werden können. So ist Welcome to the Rileys eine Kombination der Konzepte "Erlösung einer Prostituierten" und "Entfremdetes Ehepaar findet wieder zueinander". Dies mag in der Theorie funktionieren, doch in der Praxis - mit anderen Worten: in Ken Hixons Drehbuch - wollen die beiden Stränge nicht so recht zusammenpassen. Obwohl Hixon ein paar unterhaltsame Dialoge zu bieten hat, fehlt es seinem Skript an Sorgfalt und Feinfühligkeit. Viele Dinge werden angedeutet, aber nicht beleuchtet; etwa wenn Stripperin Mallory sich über ihren tyrannischen Vermieter beklagt und man den Rest des Films auf dessen Erscheinen wartet. Auch spielen sich gewisse Charakterentwicklungen in unrealistisch übersetztem Tempo ab. Die schiere Unmöglichkeit, dass eine seit acht Jahren an Agoraphobie leidende Frau innert 24 Stunden in der Lage ist, nicht nur das Haus zu verlassen, sondern auch gleich 1'300 Kilometer mit dem Auto zu fahren und auf sämtliche Medikamente zu verzichten, überschreitet schlichtweg die Grenze filmischer Logik. Dabei wären die Figuren an sich, auch wenn sie alles andere als neu sind, nicht uninteressant. Mallory hätte mit mehr Hintergrund eine zwar sonderliche, aber irgendwie sympathische Figur werden können, doch Hixon belässt es bei Sprüchen, die sich stellenweise wie ein billiger Juno-Abklatsch anhören. Die Beziehung des Vorstadt-Ehepaars Doug und Lois, deren Tochter bei einem Autounfall starb, erhält durch Lois' Agoraphobie, die aber leider schon viel zu früh überwunden wird, zusätzliche Tiefe. Zudem beweist Hixon mehrfach, dass er durchaus Szenen von emotionaler Tragweite schreiben kann. Viel zu selten sind Auseinandersetzungen wie diejenige, als Doug seine Frau damit konfrontiert, dass sie für sie beide bereits einen Grabstein hat aufstellen lassen. Es wären Szenen wie diese, die dem Zuschauer vermitteln, was die Charaktere antreibt und auf diese oder jene Art handeln lässt, und ihm so die Chance gäben, sich mit ihnen zu identifizieren. Doch Hixons vager Schreibstil verhindert eine echte Identifikation mit den Figuren. Aber sein Drehbuch weist auch positive Aspekte auf: Es vermag die Geschichte immerhin so zu erzählen, dass niemals Langeweile aufkommt und dass einem der Ausgang des Films nicht egal ist. Im Gegenteil, das Ende von Welcome to the Rileys ist in mancherlei Hinsicht äusserst befriedigend. Einerseits weist es auf eine nachvollziehbare Charakterentwicklung bei allen Beteiligten hin, und andererseits widersteht Hixon dem momentanen Indie-Trend, Filme nicht abgeschlossen enden, sondern einfach irgendwie ausklingen zu lassen. Nein, er ist konsequent und führt den Film zu einem würdigen Ende, das mit den geschickt inszenierten Familienmomenten von Mallory, Doug und Lois des dritten Akts sehr gut harmoniert. Letzten Endes hat Ken Hixon mit seinem Skript keine unbefriedigende Arbeit geleistet. Es ist ein nicht weiter bemerkenswertes Buch, das im Detail viele Fehler macht, im Grossen und Ganzen aber als passabel bezeichnet werden darf.

Wie gehen nun die Schauspieler mit dem durchwachsenen Drehbuch um? Melissa Leo hat definitv die undankbarste Rolle erwischt. Aus Lois' "Ausbruch" aus ihrer Agoraphobie werden ein paar unpassend anmutende Lacher gewonnen, die der Figur die Tragik nehmen könnten. Aber Leo ist nicht umsonst eine vorzügliche Charakterdarstellerin. Der etwas künstlich geratenen Lois haucht sie so viel Leben wie möglich ein und macht sie zu einer Frau, die sich trotz ihrer Unsicherheit niemandem unterordnet. Schon gar nicht ihrem Mann Doug, der von James Gandolfini hervorragend verkörpert wird. Doug ist der "nicht perfekte Mensch mit dem Herz aus Gold", den wir aus zu vielen Filmen kennen, der aber dank Gandolfinis bodenständigem Charme erfrischend sympathisch wirkt. Er ist auch die am besten entwickelte Figur in Welcome to the Rileys, der man den Bruch mit dem alltäglichen Trott gönnt und deren Frustration über Lois' Depression man nachvollziehen kann. Die letzte Hauptfigur im Bunde ist die 16-jährige Stripperin Mallory, gespielt von Kristen Stewart. Stewart ist sicher nicht die schlechteste Besetzung für die naive und zugleich frivole Tänzerin. Obwohl man Stewart in einer derartigen Rolle nicht kennt, hat sie keine Mühe, sie glaubwürdig zu interpretieren. Das Problem ist aber, dass man ihr die gutherzige Seite von Mallory nicht so richtig abkauft, die freche dafür umso mehr, was einem in einigen Szenen ein bisschen auf die Nerven gehen kann.

Was nicht direkt nervt, aber einem immerhin negativ auffällt, ist die Musik von Marc Streitenfeld. Es ist offensichtlich, dass der Score an erfolgreiche Independent-Produktionen wie Juno oder The Kids Are All Right angelehnt ist. Nur fehlt ihm leider die Abwechslung. Das musikalische Hauptthema von Welcome to the Rileys ist ein einzelner Takt, bestehend fünf Tönen, der sich ständig wiederholt. Er mag illustrieren, wie sich Doug und Lois in ihrer Trauer über den Tod ihrer Tochter festgefahren haben, doch das macht ihn nicht spannender.

Zugegeben, das Fazit dieser Rezension scheint zu sein, dass Welcome to the Rileys ein schlechter Film ist. Aber das ist er keineswegs. Er begeht viele Fehler und gefällt sich als gänzlich unspektakuläres Stück Film ist. Er beleidigt nicht, er langweilt nicht und er nimmt auch keine weit hergeholten Wendungen. Regisseur Jake Scott verzettelt sich, weil er zu bemüht scheint, möglichst viele Aspekte in einen 110-minütigen Film zu packen, anstatt sich voll und ganz auf seine Kerngeschichte zu konzentrieren. Hinzu kommt Ken Hixons unausgegorenes Drehbuch, das bei den Charakteren, die, vor allem wenn sie von Schauspielern wie Melissa Leo oder James Gandolfini gespielt werden, durchaus Potential hätten, nur an der Oberfläche kratzt. Welcome to the Rileys ist nichts anderes als eine kleine, möglicherweise willkommene und schnell vergessene Ablenkung während der Oscar-Saison.

Samstag, 5. Februar 2011

Black Swan

Ungewöhnliche Methoden: Regisseur Thomas (Vincent Cassel) versucht, Tänzerin Nina (Natalie Portman) dazu zu bringen, ihre dunkle, unkontrollierte Seite zu entdecken, um die Rolle des schwarzen Schwans in "Schwanensee" überzeugend zu tanzen.

5 Sterne

Ballett und Psychothriller. Man lasse sich diese Paarung einmal auf der Zunge zergehen. Was wie eine unmögliche Kreuzung klingt, vermochte Regisseur Darren Aronofsky (Requiem for a Dream, The Wrestler) auf faszinierende Weise filmisch zu realisieren. In Black Swan entführt er uns in die Welt einer Profi-Ballerina, die an ihrer Doppelrolle in "Schwanensee" zerbricht. Der Film ist ein hochklassig stilisiertes cineastisches Experiment, das den Zuschauer mit seiner überwältigenden Bildsprache, seinen grandiosen Darstellern, seiner Spannung, die Erinnerungen an Meister wie Stanley Kubrick oder Alfred Hitchcock wach werden lässt, und seiner schonungslosen erotischen Kraft das Staunen und Fürchten lehrt. Und doch ist er nicht perfekt. Aber vielleicht ist Black Swan gerade deshalb ein in jeder Hinsicht wunderschöner Film, der eine derartige Faszination ausübt, dass man ihn nicht enden sehen will.

Die Voraussetzungen für Black Swan scheinen kaum vielversprechend: Ballett ist nun wahrlich kein Thema, das die Massen anzusprechen vermag. Entsprechend ist es auch schwierig, sich mit Charakteren, deren Leben dem Tanz gewidmet ist, zu identifizieren. Tatsächlich hat man Mühe, sich emotional an die Haupfigur Nina zu binden. Ihr zwanghafter Drang nach Perfektion ist anfänglich schwer nachvollziehbar. Doch Natalie Portman hilft einem mehr als nur darüber hinweg. Portman, Favoritin für den Hauptrollen-Oscar, liefert eine Performance ab, an die man noch in kommenden Jahren zurückdenken wird, über deren Genialität man noch lange sprechen wird. Obwohl sie schon seit ihrer ersten grossen Rolle - als 13-Jährige in Luc Bessons Léon - zu den besten jungen Schauspielerinnen Hollywoods gehört, blieben ihr die ganz grossen Preise bisher verwehrt, abgesehen von einem gewonnenen Golden Globe und einer Oscar-Nomination (beide für Closer). Black Swan müsste ihr nun eigentlich einen hoch verdienten Academy Award bescheren. Ihre Darstellung Ninas ist von einer Urgewalt, die man im Kino nur selten miterleben darf, und dabei frei von jeglichem Overacting. Jede Bewegung und jeder Gesichtsausdruck hat Subtext und wenn sie tanzt, dann strahlt sie ein unglaubliches Feuer aus. Kein Wunder, dass Portman als Kind selber Ballett tanzte, denn sonst wäre sie wohl kaum in der Lage gewesen, grösstenteils auf Doubles zu verzichten und sich so grazil und energisch zu bewegen. Und wenn sich Nina schliesslich komplett in ihrer Rolle verliert und den Tanz ihres Lebens abliefert, bleibt einem der Atem weg - eine Performance für die Ewigkeit.

Es wäre nun gut möglich, dass Nebendarsteller von Natalie Portman von der Leinwand gefegt würden. Aber das ist glücklicherweise nicht der Fall, da alle Schauspieler ideal gecastet sind. So brilliert Vincent Cassel als Regisseur Thomas, der Nina dazu drängt, sich gehen zu lassen, um so den schwarzen Schwan in sich zu entdecken. Thomas ist der Inbegriff des Inszenators zwischen Genie und Wahnsinn, der seinen Tänzerinnen mit ebenso fragwürdigen wie wirksamen Methoden zu der Leistung drängt, die ihm vorschwebt. Cassel verkörpert diesen ambivalenten Charakter mit der ihm eigenen Art von Zynismus. Auch Mila Kunis überzeugt, obwohl sie dem Rest des Ensembles in Sachen schauspielerischer Klasse rein theoretisch unterlegen ist. Doch für die Rolle von Ninas intriganter und gespielt freundlicher Gegenspielerin Lily ist sie bestens geeignet. Kunis mag keine vielseitige Schauspielerin sein, doch in den richtigen Rollen weiss sie durchaus zu glänzen - so wie hier. Die dritte sehr gute Darstellerin im Bunde ist Barbara Hershey als Erica, Ninas Mutter. Hershey verleiht der sattsam bekannten Figur der Mutter, die durch ihr Kind zu leben versucht, eine spannende neue Dimension. Ihre Erica ist eine dreidimensionale Figur, der man trotz ihrer an Tyrannei grenzenden Überfürsorglichkeit und Bevormundung die Liebe zu ihrer Tochter anmerkt. Und schlussendlich ist in der kleinen Rolle des "Sterbenden Schwans", der abtretenden Primaballerina, Winona Ryder zu sehen, in deren zwei Szenen man sich unweigerlich an Gloria Swansons Norma Desmond in Billy Wilders Sunset Boulevard erinnert fühlt.

Die Geschichte von Black Swan lehnt sich zu einem gewissen Grad an "Schwanensee" an. Dies wird von den Drehbuchautoren Mark Heyman, Andres Heinz und John McLaughlin sehr geschickt eingefädelt und vorangetrieben, wird jedoch mehrmals, vor allem während des ersten Akts, durch etwas allzu offensichtliche Symbolik ihrer Raffinesse beraubt. Man könnte dies nun auf Darren Aronofskys (möglicherweise berechtigtes) mangelndes Vertrauen ins durchschnittliche Popcornkino-Publikum oder auf den Hitchcock'schen Einfluss zurückführen. So oder so fühlt sich der Film während der Exposition manchmal so an, als ob er für einen das Mitdenken übernehmen würde. Doch im weiteren Verlauf werden Bildsprache und Symbolismus flüssiger und subtiler und die fortschreitende innere und äussere Verwandlung Ninas immer eleganter angedeutet. Portmans geniale Darstellung von Ninas innerer Unruhe, ihrer wachsenden Paranoia und ihrem Versinken im Wahnsinn wird durch Aronofskys Regie und die technischen Aspekte von Black Swan hervorragend ergänzt. Es wird eine enorm dichte Atmosphäre der Unruhe und der Verfolgungsangst konstruiert, gespickt mit stellenweise verstörenden Wahnvorstellungen von Nina. Unterstützt wird das unheimliche Ambiente von wunderbar unaufdringlichen und kunstvollen Spezialeffekten, die an vergleichbare Werke von David Cronenberg - etwa The Fly - angelehnt zu sein scheinen. Auch die verdientermassen oscarnominierte Kameraarbeit von Matthew Libatique trägt das Ihre zur stimmigen Milieu-Atmosphäre bei. Libatique hat die Tänze aufregend eingefangen; er spielt effektiv mit Licht und Schatten und er weiss sich den kalten Backstage-Bereich des Theaters zu Nutzen zu machen, indem er ihn beinahe schwarz-weiss erscheinen lässt. Und schliesslich soll auch noch besonderes Augenmerk auf Andrew Weisblums Schnitt gelegt werden, da seine Editierkünste so manch schaurigem Moment den letzten Schliff geben.

Alles in allem ist Black Swan, was Filmmaking und Filmsprache angeht, ein quasi fehlerfreier Film, dem bei den Oscars ein Triumph in den Kategorien "Bester Film" und "Beste Regie" - obwohl eher unwahrscheinlich - zu gönnen wäre. Black Swan ist ein schrecklich schöner Film, der dem etwas in der Versenkung verschwundenen Genre des Psychothrillers neuen Auftrieb verleiht.

Darren Aronofsky scheint seinen Stil gefunden zu haben. Nach The Wrestler hat er erneut einen Film gemacht, der nicht auf einer effekthascherischen, verquer erzählten Geschichte basiert, sondern auf fesselnde Art und Weise den Niedergang und tragischen Wiederaufstieg seiner Hauptfigur beschreibt. Black Swan mag, wie auch The Wrestler, ein unvollkommenes Stück Filmkunst sein, welches aber mit seinen Tugenden nicht nur zu bestechen, sondern sogar zu überwältigen vermag. Letztendlich ist Black Swan eine grossartige filmische Etüde im Stile von Klassikern wie Vertigo oder Eyes Wide Shut, getragen von einer fantastischen Natalie Portman.

Mittwoch, 2. Februar 2011

Hereafter

Eine normale Beziehung? Medium George (Matt Damon) versucht, Melanie (Bryce Dallas Howard), die er im Kochkurs kennen gelernt hat, den Wunsch nach einer Seance abzuschlagen.

4.5 Sterne

Der Tod und seine Konsequenzen für die Lebenden war schon immer ein grosses Thema in Clint Eastwoods Filmen, egal ob die betreffende Figur William Munny, Walt Kowalski, Frankie Dunn oder Jimmy Markum heisst. Doch in Hereafter, einem von der Kritik mit gemischten Gefühlen aufgenommenen Film, wirft der Regie-Altmeister erstmals einen Blick darauf, was einen nach dem Tod denn erwartet, oder wenigstens erwarten könnte. Obwohl er dabei thematisch Neuland betritt, überzeugt Eastwood durch seine gewohnten Qualitäten und holt aus Peter Morgans (The Queen, The Last King of Scotland, Frost/Nixon) unvollkommenem Drehbuch sehr viel heraus. Unterstützt wird er dabei durch einen grösstenteils starken internationalen Cast. Hereafter mag kein Meisterwerk wie Gran Torino, Mystic River oder Million Dollar Baby sein, doch ein grundsolider Film, von dem sich weniger begabte Regisseure eine Scheibe abschneiden könnten, ist es allemal.

Trotz aller negativen Rezensionen ist Hereafter immerhin bei den Oscars für die besten Spezialeffekte nominiert, eine Nomination, die er überraschenderweise dem Favoriten für den Gewinn - Tron: Legacy - abgeluchst hat. Obwohl Clint Eastwood und die Kategorie "Best Visual Effects" nicht wirklich kompatibel scheint, hat die Entscheidung der Academy doch ihre Berechtigung. Der Film beginnt nämlich mit einer wuchtigen Inszenierung des verheerenden Tsunamis, der Ende 2004 den Indischen Ozean heimsuchte. Wer sich bei Videospielen auskennt, weiss, dass die Animation von Wasser nach wie vor die Achillesferse der SFX-Industrie ist. Doch hier wirkt das nasse Element für einmal unglaublich echt. Die Szene ist hervorragend choreografiert und gefilmt (von Eastwoods Hauskameramann Tom Stern) und ist in jeder Hinsicht wesentlich effektiver als jede vergleichbare Sequenz in 2012. Der Schrecken der Welle ist fühlbar und macht die Anfangsszene umso packender. Im weiteren Verlauf verzichtet Clint Eastwood allerdings auf jedwede Effekthascherei. Auch beschäftigt ihn weniger die Frage, wohin der Tod eigentlich führt, sondern mehr wie Sterbeerfahrungen, seien sie nun primärer oder sekundärer Natur, sich auf die Lebenden auswirken. Zu diesem Zweck ist Hereafter auf drei Charaktere fokussiert: auf die Journalistin Marie, die während des Tsunamis kurzzeitig tot ist und dabei eine mögliche Nahtod-Erfahrung macht; den Bauarbeiter George, der versucht, seine Gabe - oder sein "Fluch", wie er es nennt - mit Toten zu kommunizieren, hinter sich zu lassen; und den Jungen Marcus, dessen geliebter Zwillingsbruder von einem Auto angefahren wurde und seinen Verletzungen erlag. Peter Morgans Drehbuch gelingt es zwar, überwiegend eine stimminge Atmosphäre der Neugierde zu zelebrieren, gerät aber ein paar Mal in allzu sentimentale Fahrwasser, besonders in Marcus' Geschichte, über die einen dann aber sowohl die guten Schauspielleistungen, als auch Eastwoods meisterhafte Regie hinweghelfen. Doch Morgans Skript ist keineswegs schlecht. Seine Charaktere sind interessant und wie er sie mit ihrer jeweiligen Situation umgehen lässt, ist überaus elegant gemacht. Vor allem in den ruhigen Momenten ergänzen sich seine Dialoge, Eastwoods inszenatorischer Spürsinn und Tom Sterns unverkennbarer Filmstil perfekt. Vor allem in Georges Nebenplot entstehen so einige spannungsgeladene, berührende Szenen.

Ohne eine hochkarätige Besetzung hätten diese Szenen aber wohl kaum diese Aussagekraft. Vor allem Matt Damon, der den Spagat zwischen Action- und Drama-Schauspieler, der seine Karriere zu dominieren scheint, weiterhin vorzüglich schafft, übertrifft sich einmal mehr selbst mit seiner Darstellung des Ex-Berufsmediums George. Er vermittelt einem seine Einstellung, dass seine Fähigkeit, mit Toten zu reden, ein Fluch sei, äusserst glaubwürdig. George ist wahrlich nicht zu beneiden, da das Besondere an ihm eine normale Beziehung zu jemand anderem vollkommen unmöglich macht. Diese andere Person ist Melanie, die er im Kochkurs, der von einem herrlichen Italo-Stereotypen, gespielt von Steve Schirripa (The Sopranos), geleitet wird, kennen lernt. Die Möglichkeit einer Beziehung ist in dem Moment dahin, in dem sie George um eine Seance bittet, woraufhin sie auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Melanies relativ kurzer Auftritt ist ein besonders denkwürdiger, weil sie von der superben Bryce Dallas Howard dargestellt wird. Howards Performance ist der Inbegriff einer guten Nebenrolle und verhilft Melanie dazu, nicht nur ein Love-Interest vom Fliessband zu sein, sondern wirklich einen Eindruck zu hinterlassen.

Doch Cécile de France, wunderbar in Xavier Giannolis Quand j'étais chanteur, braucht sich überhaupt nicht hinter Damon und Howard zu verstecken. Ihre Faszination mit dem, was hinter dem Vorhang des Todes liegt, spiegelt in gewisser Weise die Neugierde des Films wider. Im Unterscheid zu Hereafter ist de Frances Marie aber darauf aus, Belege für ein Leben nach dem Tod zu finden, was ihre Herausgeber, die ein Buch über François Mitterand erwarten, aber nicht gut heissen. De France, stets eine kluge Schauspielerinnen-Wahl, überzeugt auch unter Eastwoods Regie. Die schwächsten Glieder im Bunde sind - wenig überraschend - auch gleichzeitig die jüngsten. Frankie und George McLaren spielen den kleinen Marcus bzw. seinen Zwillingsbruder Jason. Obwohl die beiden keine schlechte Leistung bieten, zeigt sich ihr Schauspiel etwas inkonsistent. Soll heissen, es variiert zwischen sehr guten Szenen und Szenen, wo die Emotionen etwas gezwungen scheinen. Dennoch haben beide McLarens Potential als Schauspieler und mindern den Wert von Hereafter kaum.

Auf den ersten Blick scheint Hereafter ein für Clint Eastwood untypischer Film zu sein. Das Thema mag nicht eines sein, das spezifisch für Eastwood geschrieben wurde (Peter Morgans erste Ansprechperson war Steven Spielberg); aber er weiss, wie er einem Stoff seine eigene persönliche Note verleihen kann. Einerseits natürlich mit seiner souveränen Inszenierung. Doch andererseits auch mit der Betonung von Aspekten, die während seiner Regie-Karriere immer wieder aufkeimten. Denn Eastwood ist ein unverbesserlicher Romantiker, der in seinen Filmen immer wieder Platz für Liebe und Zuneigung findet. Auch in Hereafter. Trotz aller Trauer, mit der sich die Charaktere hier auseinandersetzen müssen, obsiegt am Ende die Liebe. Und nur einem Weltklasse-Regisseur wie Clint Eastwood gelingt es, den Kitsch von dieser Erkenntnis fernzuhalten.