Die Suche nach dem verschollenen Familienmitglied: Ree (Jennifer Lawrence) und ihr Onkel Teardrop (John Hawkes) wollen ihren Vater/Bruder Jessup finden, damit Rees Familie ihr Haus behalten kann.
4 Sterne
[nach wiederholtem Schauen auf 4.5 bis 5 Sterne aufgebessert]
Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Filme, die mehr als ein halbes Jahr quasi von der Bildfläche verschwunden sind, drängen sich plötzlich wieder in den Vordergrund, da sie für einen oder sogar mehrere Oscars nominiert werden. Es sind die Gewinner der Sparte "Einheimisches Drama" bei Robert Redfords Sundance Film Festival, das sich dem Independent-Film verschrieben hat. Letztes Jahr war es Lee Daniels' Precious (zwei Oscars, vier weitere Nominationen), im Jahr davor das Drama Frozen River (zwei Nominierungen). Heuer ist es Debra Graniks Verfilmung von Daniel Woodrells Roman Winter's Bone, die von der Academy in ganzen vier (Haupt-)Kategorien Erwähnung findet (Bester Film, Beste Hauptdarstellerin, Bester Nebendarsteller, Bestes adaptiertes Drehbuch). Diese Ehren haben jeweils zur Folge, dass Indie-Filme auch ausserhalb der USA einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, mehr Geld einspielen und so die Rentabilität dieser besonderen Art des Kinos des 21. Jahrhunderts gewährleisten. Doch die Frage nach der Qualität muss trotz allem immer wieder aufs Neue gestellt werden, so auch dieses Jahr: Verdient Winter's Bone das Lob, das ihm entgegenschlägt? Ja und nein.
Debra Graniks Film bringt das wundersame Kunststück fertig, in eminent wichtigen Punkten zu versagen, im Grossen und Ganzen aber dennoch zu gefallen. Die Prämisse von Winter's Bone klingt überaus spannend: Die 17-jährige Ree sorgt im Hinterland von Missouri für ihre beiden jüngeren Geschwister und ihre katatonische Mutter und erfährt, dass, da ihr Meth herstellender Vater Jessup zu einem Gerichtstermin nicht erschienen ist, die Familie ihr Haus verliert, da es von Jessup als Kaution hinterlegt wurde. Also macht sich Ree auf die Suche nach ihrem alten Herrn, muss aber bald feststellen, dass die Menschen in der näheren Umgebung nicht daran interessiert sind, dass jemand nach Jessup sucht. Die Story bedient sich einer altgedienten, zeitlosen Thematik, die schon immer gute Dramen, Thriller und Krimis hervorgebracht hat: der Suche nach einer vermissten Person. Leider ist Winter's Bone nicht annähernd so spannend, wie er sein könnte. An den Dialogen liegt dies nicht. Debra Granik und Anne Rosellini vereinigen in ihrem Drehbuch die wortkarge Eloquenz eines No Country for Old Men und den dem US-Bundesstaat Missouri eigenen Slang und erzeugen allein mit Worten schon eine beklemmende Atmosphäre, die, wohl nicht zuletzt dank des grandiosen trostlosen Settings der Ozark Mountains, John Boormans Deliverance nachzueifern scheint. Nein, das Problem liegt bei der Art, wie die Geschichte vorgetragen wird. Der Zuschauer wird nur oberflächlich über die Beweg- und Hintergründe der Charaktere aufgeklärt, was es ungemein schwer macht, sich emotional an die Figuren zu binden. Man weiss, dass man einem soliden Film beiwohnt, aber man empfindet nichts dabei. Kudos für die subtile Charakterentwicklung und die leisen Hinweise auf das Intrigennetz, welches sich in Winter's Bone nach und nach offenbart; aber das Geschehen verliert an Tragweite und Spannung, wenn einem die Charaktere fremd bleiben. Zudem ist der Plot, trotz aller Zeitlosigkeit, schlichtweg zu dünn, selbst für einen Film, der nur 95 Minuten dauert. Ein allzu tiefgreifendes Interesse an der Handlung entsteht zu keinem Zeitpunkt.
Nichtsdestotrotz verunmöglichen diese gravierenden Defizite den Genuss des Films nicht. Grossen Anteil daran hat sicherlich die Hauptdarstellerin, die 20-jährige Jennifer Lawrence, in der Rolle der Ree. Auch wenn sie Graniks und Rosellinis Probleme mit der Charakterisierung der Figuren nicht völlig kaschieren kann, macht sie Ree immerhin zu einer sehr sympathischen Protagonistin, deren Entschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein einerseits beeindrucken und einem andererseits die Tragik des Charakters näherbringen. Wir wissen wenig über Ree, aber wir können klar erkennen, dass sie ein Mädchen ist, das aufgrund seiner Familiensituation zu früh erwachsen werden musste. Vergleiche mit Charles Portis' Romanfigur Mattie Ross (True Grit) oder der von Natalie Portman verkörperten Mathilda Lando in Léon sind durchaus angebracht. Neben Lawrence agiert in erster Linie John Hawkes, der wie Lawrence für einen Oscar nominiert wurde. Hawkes spielt den stets angespannten, passiv-aggressiven Teardrop, Jessups Bruder, der sich gemeinsam mit Ree auf die Suche nach ihm begibt. Er ist keine sonderlich sympathische Figur, aber auch ihm liegt eine durchaus dreidimensionale Traurigkeit zugrunde, deren Potential jedoch nur angedeutet wird. Die diesbezüglich beste Szene ist die letzte, in der Teardrop sich selber eingesteht, dass er ein gebrochener Mann ist und an den bedauernswerten Ereignissen, die sich abgespielt haben, rein gar nichts ändern kann. Hawkes zeichnet sich in dieser wie auch in jeder anderen seiner Szenen durch sehr differenziertes und starkes Schauspiel aus. Ausser Hawkes und Lawrence bleibt nur eine Darstellerin dauerhaft in Erinnerung: Lauren Sweetser als Gail, Rees Freundin. Wie auch Ree besticht Gail durch Kompromisslosigkeit und Eigenverantwortung. Der grösste Unterschied zwischen den beiden Charakteren ist, dass Gail nicht so wirkt, als ob sie wirklich in die Gemeinde der Südstaaten-Hinterwäldler gehört. Sie scheint, mehr als Ree, dafür gemacht zu sein, aus der Einöde auszubrechen und in der Stadt ihr Glück zu suchen. Doch auch über diese Charaktereigenschaft schweigt sich das Skript weitgehend aus.
Bebildert wurde Winter's Bone vom bislang unbekannten Kameramann Michael McDonough, der sich die karge Szenerie wunderschön zu Nutze machte. In seinen Aufnahmen herrschen Brauntöne vor, die den harten Winter des Mittleren Westens der USA sehr poetisch untermalen. McDonough unterstützt Debra Graniks ruhige Inszenierung, die nur durch sehr wenige lautere Szenen in entsprechenden Umgebungen gebrochen wird, optimal. Letztlich erinnert die Stimmung in Winter's Bone passenderweise an ein Werk aus der amerikanischen Folk-Musik: Bob Dylans "North Country Blues".
2010 war kein spektakuläres Jahr für Independent-Filme. Die erfolgreichsten Produktionen - The Kids Are All Right und Winter's Bone - sind beide ambitiös, weisen aber beide Mängel auf. Debra Graniks Film erzählt eine Geschichte, die weitgehend kalt lässt, in der Charaktere agieren, über die man so gut wie nichts weiss. Es ist an den Schauspielern, diese Hohlräume zu füllen und es gelingt ihnen recht ordentlich. Winter's Bone ist zweifelsohne ein Film, dessen Visionierung man nicht bereuen wird und der eine kritische Auseinandersetzung verdient. Er ist kein cineastisches Highlight, weiss aber mit gewissen sehr starken Aspekten zu gefallen, wenn nicht mit seiner Story, dann wenigstens mit einigen guten Darstellern und einer stimmigen, düsteren Atmosphäre. Man kann Winter's Bone ohne zu zögern empfehlen, allein schon wegen den Diskussionen über seine Qualitäten und Mängel.
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