Montag, 25. April 2011

Four Lions

Die Kunst des 21. Jahrhunderts ist wie kein anderer Gesellschaftsbereich von einem grossen Paradox geprägt: Auf der einen Seite werden Künstler und Kulturschaffende immer risikofreudiger und provokanter, während auf der anderen Seite eine wachsende Gemeinschaft stets den mahnenden Zeigefinger erhebt und darüber richtet, was die Kunst "darf" und "nicht darf". Besonders wenn es um Religion und damit verbundene Konflikte geht, zeigen sich viele Menschen überaus empfindlich.

Entsprechend dürfte der erste Langspielfilm des Briten Chris Morris, unter anderem bekannt als Denholm Reynholm aus der ersten Staffel der Sitcom The IT Crowd, für hitzige Diskussionen sorgen: In seiner bitterbösen Satire Four Lions kämpfen fünf englische Jihadisten mit der eigenen Inkompetenz und zeigen, dass ein Selbstmordattentat schwieriger durchzuführen ist als gemeinhin angenommen. In Deutschland hat sich die CSU bereits über den Film empört und selbsternannte Moralapostel dürften folgen, denn wenn man sich in der heutigen Zeit über etwas nicht lustig machen "darf", dann über den Terror von al-Qaida, der insgesamt schon mehrere tausend Menschenleben gefordert hat. Dabei ist Four Lions ein weiterer Beleg dafür, dass es wohltuend für eine Gesellschaft ist, wenn ein reales Schreckgespenst derselben einmal gehörig durch den Kakao gezogen wird.

Auf Tabus wird in Four Lions wahrlich keine Rücksicht genommen. Kein Wunder, wenn die Prämisse eines Films darin besteht, dass eine Gruppe von Sheffielder Working-Class-Muslimen die fixe Idee hat, sich an der westlichen, materialistischen Welt, in die sie sich eigentlich recht gut integriert haben, zu rächen, indem sie ein Selbstmordattentat aushecken. Doch der wohl grösste Tabubruch, den Chris Morris hier begeht, ist der, dass man sich ehrlich für die Protagonisten – die Jihadisten – interessiert und man für den einen oder anderen von ihnen sogar gewisse Sympathien hegt.

© Praesens Film AG
Denn Four Lions ist zwar eine rabenschwarze Komödie über die Sinnlosigkeit des islamistischen Terrors, doch wie bei jedem guten Lustspiel hat das Ganze auch eine tragische, menschliche Seite. So berührt etwa die Freundschaftsbeziehung zwischen der Hauptfigur Omar (Riz Ahmed) und seinem "Jihad-Bruder" Waj (Kayvan Novak), seines Zeichens nicht gerade der hellste Kopf unter der Sonne: Omar, obwohl selber ein ziemlich besonnener Zeitgenosse, versucht stets, mit immer abstruseren Erklärungen und Metaphern, Waj davon zu überzeugen, dass seine Zweifel ein Verwirrungsmanöver des Teufels sind und dass es die richtige Entscheidung ist, sich in die Luft zu sprengen – die langen Schlangen auf dem Vergnügungspark zu umgehen, um gleich auf die grösste Attraktion, die "Rubber Dinghy Rapids!", aufzusteigen. Die kindliche Folgsamkeit, die Waj seinem Freund entgegenbringt, erinnert mit ihrer Melancholie und Traurigkeit an Thomas Otts Kobi im Schweizer Film Der Erfinder. Aber Chris Morris hat es geschafft, traurigere Aspekte der Geschichte sehr subtil anzudeuten und sich im Vordergrund auf die Komödie zu konzentrieren. Die Tatsache, dass Four Lions niemals ins Dramatische kippt – nicht einmal während des klimaktischen letzten Akts –, ist wohl eine der grössten Leistungen des Films.

Hauptanteil daran hat die trottelige Terroristentruppe, die hier im Fokus steht. Der simpel gestrickte Waj, gespielt vom wunderbaren Kayvan Novak (Nebenrolle in Syriana), der für seine Leistung mit einem British Independent Film Award ausgezeichnet wurde, ist, bei all seiner Tragik, ein herrlicher Einfaltspinsel: Er hält Hühner für Hasen, gibt Jihad-Tiraden mit Nonsens-Einwürfen wie "Fuck Mini Babybels!" der Lächerlichkeit preis und ist auf Kinderbücher wie The Camel Went to the Mosque oder The Cat That Went to Mecca angewiesen, um den Glauben zu kapieren, für den er angeblich kämpfen soll – sehr zum Missfallen der pakistanischen Terror-Emire.

© Praesens Film AG
Ganz anders der britische Konvertit Barry (der urkomische Nigel Lindsay), der nicht nur bereit ist, "Ungläubige" – Kuffar – mit sich in den Tod zu reissen, sondern auch andere Muslime: Sein Plan, eine Moschee zu sprengen, um "die Moderaten zu radikalisieren", stösst bei seinen Brüdern aber auf wenig Gegenliebe, was Barry wiederum vermehrt zur Weissglut treibt Â ein Wesenszug, den er mit Joel und Ethan Coens Walter Sobchak, einem Juden, aus The Big Lebowski gemein hat. Da keine Hommage oder mindestens eine Inspiration zu sehen, fällt schwer. Doch auch der Vergleich mit einem der fluchenden Gangster aus einem Film von Guy Ritchie – wohl Lock, Stock and Two Smoking Barrels oder Snatch – liegt sehr nahe.

Etwas weniger Screentime haben der junge, orientierungslose Hassan (Arsher Ali), dessen Motivation, ein Islamist zu sein, nicht über den Wunsch einer "gefährlichen" Gang anzugehören hinausgeht, und der schweigsame Bombenbastler Fessal (Adeel Akhtar), der beim Einkaufen seine Stimme mehr schlecht als recht verstellt, um nicht erkannt zu werden (!), Krähen Bombengürtel umschnallt und schlussendlich frühzeitig das Zeitliche segnet – auf eine, selbst an den Standards von Four Lions gemessen, äusserst unwürdige Art und Weise.

Chef dieser "Band of Brothers" ist Riz Ahmeds Omar, der die Rolle des im Vergleich zu den anderen besonnenen und vernünftigen Terroristen einnimmt. Er ist derjenige, der den anderen die Sinnlosigkeit oder Unmöglichkeit ihrer Pläne vorbuchstabieren muss – ganz in der Tradition der britischen Sitcom à la Sybil Fawlty in Fawlty Towers oder Father Ted Crilly in Father Ted. Aber auch er ist vor Missgeschicken nicht gefeit: So zeigt einem Four Lions etwa die Gefahren auf, die sich ergeben, wenn man eine Panzerfaust verkehrt herum hält.

Jedoch steckt hinter diesem klassischen "Sorry Bunch" noch mehr als man auf den ersten Blick sieht: Was die titelgebenden vier Löwen – Omar, Waj, Hassan und Barry – nämlich mehr verbindet als ihr Glaube, ist ihre soziale Stellung – die von vielen britischen Filmemachern vielfach beschriebene Working Class aus dem Norden Englands, dessen Symbol seinerseits natürlich die Three Lions sind. Entsprechend lassen sich die Jihadisten immer wieder zu paradoxem rassistischem Gerede hinreissen ("Fuckin' Pakis!"), was treffend die Grundproblematik von westlichen Islamisten umschreibt.

© Praesens Film AG
Aber auch die Story von Four Lions trägt viel zur Heiterkeit im Kinosaal bei. Die Autoren Sam Bain, Jesse Armstrong und Simon Blackwell (Letzteren sind oscarnominierte Co-Autoren von In the Loop) werfen ihre Charaktere nicht nur in allerlei absurde Situationen, sondern holen mit ihren pointierten, bitterbösen Dialogen auch aus unscheinbareren Stellen prächtige Lacher heraus. Dabei werden sie vom brillanten komödiantischen Timing der Hauptakteure unterstützt; vor allem Nigel Lindsay zeigt sich als ein Meister des verzögerten Dialogs.

Einen besonderen Reiz haben zudem die verschiedenen Terrorvideos, die den Jihadisten jeweils nicht so recht gelingen wollen, entweder weil Waj es irgendwie unterbricht oder weil die Bekennerbotschaft nicht zum geplanten Attentat passt und der Bekennende von seinen Kollegen aus dem Off unterbrochen wird – auch hier hat Lindsay einige grossartige Momente. Doch nicht nur die Terroristen werden in Four Lions auf den Arm genommen: Englische Sicherheitskräfte und Politiker werden als ähnlich heuchlerische und inkompetente Menschen dargestellt, die sich als Herren der Lage fühlen. Insgesamt haben sich die drei Autoren und Chris Morris die Essenz der doppelbödigen, aussagekräftigen Satire zu Herzen genommen: Viele Lacher, insbesondere jene im letzten Akt, haben eine kleine schmerzende Seite.

Wenn man Four Lions mit einem Wort beschreiben müsste, dann wohl mit folgendem: wichtig. Chris Morris hat mit dieser rabenschwarzen Satire eines der heikelsten Themen der Gegenwart aufgegriffen, ihm die Aura des Tabus entrissen und sich hemmungslos darüber lustig gemacht – pünktlich zum zehnten Jahrestag von 9/11 –, ohne jedoch zu vergessen, interessante Charaktere agieren zu lassen. Der Film hat schon zu hitzigen Debatten geführt und wird wohl noch Anlass zu weiteren geben, was ihm marketingtechnisch eigentlich nur zugute kommen kann. Der Humor ist unverkennbar britisch – wenige Augen im Kino werden trocken bleiben –, der Ton respektlos und der Dienst, der damit dem Kino getan wurde, immens. Es ist keinesfalls eine Untertreibung, die Wichtigkeit von Four Lions mit The Great Dictator, Charlie Chaplins Meisterwerk der Hitler-Persiflage aus dem Jahre 1940, zu vergleichen. Wieder einmal haben Humor und Satire bewiesen, dass sie eine mächtige Waffe im Kampf gegen die Angst sind.

★★★★★

Sonntag, 24. April 2011

The Fighter

Ein Film, der bei der Award-Saison 2010/2011 immer ein bisschen dabei war, dem aber nie soviel Respekt gezollt wurde wie einem True Grit oder einem The Social Network, war das Boxerdrama The Fighter von David O. Russell (Three Kings). Der Grund dafür mag das Genre sein: Ein Sportfilm, besonders einer, dessen Thema das Boxen ist, bedient Klischees, er zelebriert den steilen Aufstieg eines Niemands und damit den Amerikanischen Traum, und er zieht klare Linien zwischen Gut und Böse, zwischen denen, die dem Protagonisten den Weg versperren und denen, die ihm zur Seite stehen.

Zu sagen, dass sich Russells Film über diese Dinge hinwegsetzt, wäre eine Fehleinschätzung. Die Geschichte des Weltergewichtsboxers Micky Ward, der 2000 überraschend Weltmeister wurde, enthält sämtliche Ingredienzien für einen typisch amerikanischen – sprich pathetischen – Sportfilm. Doch The Fighter konzentriert sich auf Wards nächstes Umfeld, in welchem während der Neunzigerjahre schlimmste Spannungen herrschten und konstruiert daraus ein sportliches Familiendrama, das so packend und mitreissend ist wie ein Boxkampf.

Beneiden kann man Micky Ward um seine Familie, wie sie einem in The Fighter präsentiert wird, nicht: Seine Mutter Alice (Melissa Leo) ist ein tyrannischer Haudegen, mit dem man sich auf keinen Fall anlegen sollte – eine Erfahrung, die Mickys Vater George (Jack McGee) merhmals macht. Seine sieben Schwestern sind vom gleichen Kaliber wie Alice; und sein Halbbruder Dicky (Christian Bale) ist ein cracksüchtiger Angeber, der noch immer die Illusion hegt, eines Tages zum Profiboxen zurückzukehren. Und in Mickys Fall besteht nicht einmal die Chance, Verwandschaft und Sport zu trennen, da seine Karriere wie ein Familienunternehmen geführt wird: Alice fungiert als Managerin, Dicky als Trainer und George als Berater, auf den niemand hören will. Und sie alle wollen nur das Beste für Micky, ob es ihm passt oder nicht.

© Ascot Elite
Die Prämisse ist keine neue: Der Boxer hat an allen Fronten zu kämpfen und erhält lediglich im Ring die Chance auszubrechen und sich für maximal zwölf Runden wirklich frei zu fühlen, nur um danach wieder mit der harten Realität konfrontiert zu werden. Insofern erfindet The Fighter das Rad wahrlich nicht neu. Doch wenn die von Scott Silver, Paul Tamasy und Eric Johnson entworfene Story etwas beweist, dann dass auch alte Muster durchaus zu gefallen vermögen – wenn sie richtig eingesetzt und gekonnt präsentiert werden. Dass der Ablauf der Geschichte ziemlich vorhersehbar ist, stört kaum; auch nicht die Tatsache, dass dem Film leider etwas das Gefühl für den Lauf der Zeit fehlt. Dass zwischen Anfang und Ende ungefähr acht Jahre vergehen, ist aus dem Film selbst nicht zwingend ersichtlich.

Doch diesbezügliche Probleme werden durch das Herzstück von The Fighter – das zentrale Familienkonstrukt – spielend leicht vergessen gemacht. Das Autorentrio hat bei der Charakterzeichnung ganze Arbeit geleistet: Die Charakterisierungen sind von Mike Leigh'scher Genauigkeit und Beobachtungsgabe und zeigen einem hinter jeder Figur eine glaubwürdige Motivation, eine tragische Seite, sodass man selbst mit einer im Grunde unausstehlichen Person wie Alice durchaus mitfühlen kann.

Trotzdem ist der Sympathieträger des Films eindeutig Micky. The Fighter konzentriert sich auf seinen Reifeprozess, den körperlichen – Trainingsmontagen sind keine Mangelware – wie den emotionalen, der aufzeigt, wie er sich nach und nach von seiner Familie distanziert und schliesslich stabil genug ist, sich ihr wieder zu nähern und ihr klarzumachen, dass er derjenige ist, der sich um ihr finanzielles Auskommen kümmert und deshalb im Gegenzug auch das Recht hat, dass seine Meinung gehört und akzeptiert wird.

© Ascot Elite
Gespielt wird Micky von Mark Wahlberg, der selbst eine vergleichbare Karriere wie seine Rolle durchschritten hat: vom kurzlebigen Teenie-Musiker zum respektierten Hollywood-Schauspieler. Auch wenn Wahlberg in manchem Film eher farblos wirkt, erfüllt er Micky mit der ihm eigenen Ruhe, die wunderbar zu diesem Charakter passt und die Szenen, in denen er laut und emotional wird – etwa wenn es darum geht, seine Freundin Charlene (die starke Amy Adams) zu verteidigen –, umso wirkungsvoller und eindringlicher macht.

Die Skriptschreiber belassen es aber nicht bei der Behandlung von Mickys Konflikt mit seiner Familie. Sein Aufstieg, Niedergang und erneuter Aufstieg in der Welt des Boxens wird zum Katalysator für sämtliche schwelenden Auseinandersetzungen der Ward-Sippe: Vater George versucht verzweifelt, Micky aus dem Würgegriff seiner Frau zu befreien; die sieben Schwestern sehen sich durch Charlene bedroht; und Alice hat die Hoffnung, dass Mickys Erfolg Dicky irgendwie von der Crackpfeife befreien kann – vergeblich, denn Dicky landet für eine gewisse Zeit im Gefängnis, in welchem allerdings seine Katharsis, die, wie Mickys Reifeprozess, eine physische sowie eine emotionale Seite hat, seinen Lauf nimmt. Insbesondere letztere Konstellation ist von beeindruckender Intensität, wohl nicht zuletzt dank der grandiosen schauspielerischen Leistungen von Melissa Leo und, vor allem, Christian Bale, dessen Rastlosigkeit perfekt zum Tempo von The Fighter passt. Die Szenen, die sich die beiden teilen, gehören zu den bewegendsten des Films – etwa wenn Alice weinend im Auto sitzt, weil sie Dicky wieder in einer Crackhöhle gefunden hat, und er sie aufheitern will, indem er "I Started a Joke" zu singen beginnt.

© Ascot Elite
Die Brillanz von The Fighter ist aber nicht vollständig beschrieben, wenn nicht David O. Russells hervorragende Regie erwähnt wird. In seiner Inszenierung sind Tempo und Unrast nicht den Boxkämpfen vorbehalten. Auch bei den ohnehin schon schnellen Dialogszenen gönnt sich der Film keine Atempause, sondern bleibt immer in Bewegung, sei es durch Hoyte van Hoytemas dynamische Kameraarbeit, die auch vor Schwenks auf engstem Raum nicht zurückschreckt und auf diese Weise stellenweise den Look eines Handkamera-Familienfilms imitiert, oder durch den aufregenden Score von Michael Brook. So überrascht es nicht, dass die Boxszenen selbst zwar nicht in den Hintergrud rücken, aber immerhin eine kleinere Rolle als in vergleichbaren Filmen einnehmen, da das im Mittelpunkt stehende Familiendrama keiner "Aufpeppung" bedarf. Dennoch können sich die Szenen mit ihrer Härte, ihrem Realismus und den sehr effektiven eingeflochtenen Archivaufnahmen durchaus sehen lassen.

In Zeiten der Wirtschaftskrise ist es verlockend, The Fighter der momentanen gesellschaftlichen Befindlichkeit in den USA gegenüberzustellen, wie es diverse Kritiker getan haben. Tatsächlich liesse sich David O. Russells achter Film problemlos als Parabel für die Durchsetzungskraft des Starken in Zeiten der Schwäche hinstellen. Doch das ist im Grunde genommen gar nicht nötig, denn auch ohne diese doppelbödige Interpretation ist The Fighter ein gehaltvoller, eindringlicher und gleichzeitig durch und durch traditioneller Boxstreifen, der durch ein atemberaubendes Tempo, starke Charaktere und genuine Dramatik besticht. Insofern liegt er nahe an Martin Scorseses Raging Bull, auch was die Qualität anbelangt, da auch hier die Menschen und nicht der Sport im Mittelpunkt stehen. Es wäre durchaus wünschenswert, wenn sich zukünftige Sportfilme eine Scheibe von The Fighter abschneiden würden.

★★★★★