Donnerstag, 30. Juni 2011

Whip It

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Vor zwei Jahren wagte sich Drew Barrymore erstmals auf den Regiestuhl. Und siehe da: Das Resultat lässt sich sehen – endlich auch hierzulande. Obwohl sie mit der Teenager-Saga Whip It das Rad nicht neu erfindet, fällt es schwer, sich dem Charme des Films zu entziehen.

"Deprimierend", "am Ende der Welt" und voll von "rassistischen Hinterwäldlern" – so "besingt" die 17-jährige Bliss Cavendar (die famose Ellen Page) ihren Wohnort Bodeen, eine weisse Suburbia nahe der texanischen Hauptstadt Austin, zur Melodie von Dolly Partons Country-Hit "Jolene". Das Kaff ist fürwahr nicht der Traum eines orientierungslosen, unscheinbaren und gelangweilten Teenagers. Ausstiegschancen bieten sich kaum, ausser in Form einer College-Anmeldung, wofür Bliss sich aber nicht richtig begeistern kann. Stattdessen arbeitet sie mit ihrer besten Freundin und Mit-Aussenseiterin Pash (Alia Shakwat) im lokalen Fast-Food-Restaurant und macht, ihrer traditionell gesinnten Mutter Brooke (eine starke Marcia Gay Harden) zuliebe, bei Schönheitswettbewerben mit. Als Bliss sich aber eines Tages auf Shoppingtour in Austin befindet, wird sie auf eine Gruppe von Frauen mit bunten Haaren, schrillen Outfits und 1970er-Rollschuhen aufmerksam – ein Roller-Derby-Team. Fasziniert von deren Unabhängigkeit und frechen Einstellung schnappt sie sich Pash und besucht heimlich ein Spiel. Der Sport begeistert sie sofort, woraufhin sie ihr Alter fälscht und ein Probetraining der "Hurl Scouts", der schlechtesten, aber gleichzeitig beliebtesten Truppe der Liga, besucht. Dort fällt sie durch ihr Talent auf und wird prompt ins Team aufgenommen. Bei Maggie Mayhem (Kristen Wiig), Smashley Simpson (Drew Barrymore) & Co., ihren neuen Kolleginnen/Idolen, fühlt sich Bliss zwar so wohl wie nie zuvor, distanziert sich damit aber auch von ihrer Familie, da diese nichts von der "ungebührlichen" sportlichen Aktivität ihrer ältesten Tochter wissen darf.

Neu ist die Geschichte von Whip It wirklich nicht. Autorin Shauna Cross, die hier ihr eigenes Buch (Derby Girl) adaptierte, versah den Film mit einer Vielzahl von wohlbekannten Mustern, welche fast schon ans Formelhafte grenzen: der Aufstieg des Underdogs, der Kampf des liberal gesinnten Teenagers gegen die altmodischen Eltern, der Ausbruch aus der Kleinstadt-Ödnis. Doch der Film weiss dies in gleich mehrfacher Hinsicht wettzumachen. Zum einen handelt es sich dabei um eine ungemein warmherzige und aufstellende Angelegenheit, woran der etwas eigene, leicht abseitige Humor im Stile von Terry Zwigoffs Ghost World oder Wes Andersons Komödien (Rushmore, The Royal Tennenbaums) sicherlich seinen Anteil hat. Allerdings verzichtet Whip It auch nicht auf durchaus nachvollziehbare Konflikte. Besonders die Betonung der Mutter-Tochter-Beziehung entwickelt eine spannende Dynamik, geht über gängige Klischees hinaus und führt letztlich zu einem für beide Seiten befriedigenden Ende.

Rollende Leidenschaft: Die 17-jährige Bliss Cavendar (Ellen Page) hat im rauen Roller Derby ihren Sport gefunden.
Zum anderen zeichnet sich der Film durch einen gewitzten Genre-Stilbruch aus. Drew Barrymores Regiedebüt wird zu einem schönen Teil von seinen aufregend inszenierten Roller-Derby-Szenen geprägt. Whip It ist ein Sportfilm aus dem Bilderbuch und damit ein Vertreter des wohl amerikanischsten aller Filmgenres. Aber so amerikanisch sein Inhalt, so gänzlich unamerikanisch seine Moral: Es geht nicht ums Gewinnen, nicht darum, dass man am Ende obenauf schwingt, sondern dass es viel wichtiger ist, sich dessen zu erfreuen, was man macht, und die Freude daran mit Leuten, die einem nahe stehen, zu teilen. Dass das "Feiern der Mittelmässigkeit" ("We're number two!"), wie es der Trainer der Hurl Scouts nennt, hier nicht nur als Gag gebraucht wird, sondern als erstrebenswerte Tugend dargestellt wird, ist Shauna Cross und Drew Barrymore hoch anzurechnen.

Whip It ist kein bahnbrechender Film, aber das muss er auch nicht sein. Er ist solide inszeniert – Drew Barrymore besitzt offenkundig Regietalent – und unterhält mit losem Mundwerk und handfesten Sportszenen sowie einem hervorragenden Cast (komödiantisches Glanzlicht: der Stand-Up-Comedy-Star Jimmy Fallon). Und obwohl sich der Plot öfters am Rande des Klischeehaften bewegt, kann man dem Film nicht wirklich böse sein; zu gut gelaunt und zu charmant kommt das Ganze daher. Whip It ist ein kleiner sommerlicher Aufsteller, der neben den Blockbustern 2011 wahrscheinlich verschwinden wird, es aber verdient hätte gesehen und anerkannt zu werden. Wer weiss? Vielleicht entdeckt ja sogar jemand das Roller Derby für sich.

★★★★½

Dienstag, 28. Juni 2011

Kung Fu Panda 2

Für die Animationsriesen Pixar und DreamWorks Animation scheint 2011 das Jahr der Sequels zu sein. Während Erstere mit Cars 2 die Geister scheiden, begeistern Letztere mit Kung Fu Panda 2 Publikum wie Kritiker. Das ist insofern erstaunlich, als dass die Fortsetzung der tierischen Kung-Fu-Saga um den übergewichtigen Panda Po alle Fehler des Originals – und von denen gibt es viele – wiederholt und es in Sachen Witz und Charme sogar noch unterbietet.

Vor langer Zeit lebte ein ehrgeiziger Pfau namens Shen (Stimmgeber: Gary Oldman), dessen Ziel es war, eine grosse Stadt zu beherrschen. Doch eine Wahrsagerin (Michelle Yeoh) prophezeite ihm, dass ein Krieger in Schwarz und Weiss ihm Einhalt gebieten würde, woraufhin Shen sich aufmachte, alle Pandas in China auszulöschen. Dies ist dem hochnäsigen Pfau aber offenbar nicht gelungen, da zumindest einer übrig geblieben ist: Po (Jack Black), der Drachenkrieger, sorgt mit seinen Freunden, den "Furious Five", für Recht und Ordnung in China und ist im Kung-Fu-Kloster von Meister Shifu (Dustin Hoffman) gut aufgehoben. Doch gerade als Shifu Po ins Geheimnis des inneren Friedens einweihen will, wird Alarm geschlagen und die Kung-Fu-Kämpfer müssen ein Dorf vor Banditen verteidigen. Es stellt sich heraus, dass diese Schurken Meister Shen dienen, der eine riesige Kanone baut, mit der er sich ganz China untertan machen will. Logisch, dass die Furious Five da eingreifen müssen. Doch kommt ihr Kung Fu gegen die moderne Technik an? Und woher kommt Po eigentlich und wieso wurde er von einer Ente aufgezogen?

Nach dem eher bemühenden Kung Fu Panda wäre es vielleicht eine gute Idee gewesen, das Autorenteam Jonathan Aibel, Robert Koo und Glenn Berger auszuwechseln. Immerhin war dieses Trio für die unlustigen Slapstick-Einlagen und die holprige Geschichte des Originals verantwortlich. Der Grund, wieso das Trio für die Fortsetzung zurükkehrte: Kung Fu Panda war ein Hit und spielte fast das Fünffache der Produktionskosten ein.

© Paramount Pictures Switzerland
Nun denn, haben Aibel/Berger/Koo wenigstens aus ihren Fehlern gelernt? Teilweise. Sie haben erkannt, dass ihre Charaktere durchaus Potenzial haben; sie schraubten die schwachen Schenkelklopf-Momente etwas zurück und konstruierten stattdessen ein Szenario rund um die Selbstfindung der Hauptfigur. Leider aber ist dieses Szenario eine schamlose Kopie der Harry Potter-Reihe. Pos Suche nach seinen verschollenen Eltern, seine Reaktion, als er die Wahrheit erfährt, das Sinnen auf Rache – es wirkt alles, als stamme es aus der Feder J. K. Rowlings.

Auch versäumt es dieser Plot, jedwede Dramaturgie aufkommen zu lassen. Die Geschichte des ersten Teils mag unstet gewesen sein, doch dort war wenigstens eine Erzählstruktur zu erkennen. Kung Fu Panda 2 hingegen dümpelt vor sich hin – hie und da durch eine mässig inszenierte Kampfszene gebrochen – und scheint mehr aus willkürlichen und schlampig zusammengeschusterten Ideen als aus einer durchdachten Story zu bestehen.

Auch das Niveau der Gags haben sich seit 2008 nicht wesentlich verbessert. Es finden sich zwar ein paar wenige Lacher, doch insgesamt ist Jennifer Yuh Nelsons Film – sie ersetzte das Duo Mark Osborne/John Stevenson – eine unlustige, ja beinahe schmerzhafte Angelegenheit. Aibel, Berger und Koo zeigen erschreckend wenig Gespür für Timing und den Punkt, an welchem sich ein Witz totgelaufen hat. Kung Fu Panda 2 weist eine Vielzahl an Running Gags auf, die anfangs vielleicht noch ganz amüsant sind – Stichwort: "Noodles!" –, mit fortschreitender Filmdauer aber immer mehr wie ein verzweifelter Versuch wirken. So werden auch Charaktere, für die man als Zuschauer durchaus Interesse und Sympathien hegen könnte, nach und nach zu billigen, witzlosen Karikaturen reduziert, deren Existenz einzig darin zu bestehen scheint, einen Catchphrase von sich zu geben.

© Paramount Pictures Switzerland
Derartige Mängel würden möglicherweise nicht ganz so schwer wiegen, wenn die Stimmen hinter den Figuren wenigstens gut wären. Doch Kung Fu Panda 2 führt auch in diesem Bereich die Unzulänglichkeit des Originals weiter und verschlimmert sie sogar. Wie schon im ersten Teil passen die prominenten Synchronsprecher überhaupt nicht zu ihren Charakteren. Jack Black ist nicht Po, ebensowenig ist Angelina Jolie Tigress, oder Lucy Liu Viper. Die Vokalleistungen der Schauspieler mögen ganz gut sein, doch sie ändern nichts daran, dass jemand schlechte Casting-Arbeit geleistet hat. In Kung Fu Panda passte wenigstens der Bösewicht (Ian McShane); im Sequel funktioniert nicht einmal das. Gary Oldman liefert als Shen zwar eine gute Performance – ein Mittelding zwischen Lord Voldemort und Montgomery Burns –, doch seine Stimme ist einfach nicht adäquat für einen Pfau. Die einzig passenden Sprecher – Dustin Hoffman als Shifu und Jackie Chan als Affe – sind leider unterbeschäftigt.

Das Beste an Kung Fu Panda 2 sind eindeutig die technischen Aspekte. Animation und Ausstattung sind hervorragend und zeichnen mit ihrer Tiefe und ihrem Detailreichtum ein mystisches Fantasieland, welches einen angenehmen Kontrast zur drögen Story bildet. Die Musik von John Powell und Hans Zimmer hat eine ähnliche Funktion: Der Film scheint dem Irrglauben, er sei gross und episch, verfallen zu sein, wobei einzig die Musik diese Annahme untermauert. Die Kung-Fu-Kämpfe, Pos Kindheitserinnerungen und Shens böse Monologe erhalten durch den atmosphärischen Score ein Minimum an Gewicht, welches die Geschichte selbst ihnen nicht verleihen kann.

Es wird Cars 2 schwer fallen, Kung Fu Panda 2 zu unterbieten. Nach dem ansprechenden How to Train Your Dragon hat DreamWorks wieder einen Rückschritt vollzogen und ein weiteres Mal ein unglaublich schwaches Sequel abgeliefert, welches sich nicht einmal für Toy Story 3- und Harry Potter-Plagiate zu schade ist. Ob eines der 24 Projekte, die in Jeffrey Katzenbergs Studio derzeit in Planung sind, das Vertrauen ins Unternehmen DreamWorks Animation wiederherstellen kann, bleibt abzuwarten.

★★

Donnerstag, 23. Juni 2011

Submarine

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Filme über Teenager gibt es viele. So viele, dass die seriöseren davon sogar ein eigenes Genre bilden: den Coming-of-Age-Film. Dass die Auseinandersetzung mit diesem speziellen Lebensabschnitt immer wieder neu begeistern kann, beweist Submarine – ein eigensinniges kleines Meisterstück.

Der 15-jährige Oliver Tate (Craig Roberts) gehört nicht zu den beliebtesten Schülern in seiner Schule. Man munkelt, er sei homosexuell, Mädchen schenken ihm wenig bis gar keine Beachtung und sein Interesse an Literatur (J.D. Salinger, Friedrich Nietzsche und die "reiferen" Werke Shakespeares, zu denen Hamlet offenbar nicht gehört) bringt ihm auch keinen Respekt ein. Doch als er eines Tages – als Mitläufer – unabsichtlich dazu beiträgt, dass die übergewichtige Zoe die Schule wechselt, ändert sich sein Leben zumindest in einem Bereich: Die eigenbrötlerische Jordana (Yasmine Paige), auf die Oliver ein Auge geworfen hat, interessiert sich plötzlich für ihn. Aber auch mit Freundin ist für ihn noch nicht alles perfekt. Seine Eltern Jill (Sally Hawkins, bekannt aus Happy-Go-Lucky) und Lloyd (Noah Taylor) entfremden sich immer mehr voneinander, und zu seinem Entsetzen zieht nebenan auch noch Jills charismatischer Ex-Freund Graham (Paddy Considine) ein. Oliver ist fest entschlossen, das Familienleben der Tates zu retten. Allerdings kommt bei dieser Rettungsaktion Jordana etwas zu kurz, was ihr gar nicht gefällt.

Was an Submarine sofort auffällt, ist Regisseur Richard Ayoades (Kult-Nerd Moss aus der TV-Serie The IT Crowd) Liebe für die Filmhistorie. Immer wieder wird subtil auf bekannte Werke angespielt – etwa auf den berühmt-berüchtigten Twist von Nicolas Roegs Don't Look Now; oder sie nehmen sogar selber einen Platz in der Erzählung ein, wie im Falle von Le samouraï und La passion de Jeanne d'Arc. Nichtsdestoweniger ist die Verfilmung von Joe Dunthornes Roman desselben Namens ein lupenreines Original. Selbst der im Grunde alltägliche Plot wird durch Ayoades raffinierte Inszenierung in etwas Einmaliges verwandelt. In Submarine wird viel experimentiert, viel stilisiert, viel nur angeschnitten. So werden beispielsweise keine schwarzen Szenenübergänge benutzt, sondern nur blaue und rote; das Setting ist ein Enigma: Der Film spielt zwar im walisischen Swansea, doch ob das Jahr nun 1985 oder 2011 ist, muss jeder für sich selbst herausfinden; und wenn Oliver, der als Erzähler fungiert, einen neuen Charakter vorstellt, geht er stark ins Detail und liefert zahlreiche Hintergrundinformationen, nur um schnell wieder zur Hauptstory zurückzukehren und die aufgezählten Eigenheiten der beschriebenen Figur weitgehend unkommentiert zu lassen. Dass dabei niemals das Gefühl aufkommt, der Film sei anmassend, ist dem herrlich selbstkritischen Tonfall zu verdanken. Wenn zum Beispiel zitiert wird, dann lässt einen Submarine in seiner eigenen ironischen Art, wissen, dass es sich dabei nicht um Angeberei handelt, sondern um einen Versuch, Filmfreunde schmunzeln zu lassen.

Zwei Aussenseiter haben sich gefunden: Oliver (Craig Roberts) und Jordana (Yasmine Paige) pflegen eine exzentrische Beziehung.
Aber trotz, oder vielleicht gerade wegen, der fast schon dylanesken Verschrobenheit von Richard Ayoades Film ist er wahrhaftiger als so mancher andere Coming-of-Age-Film – vielleicht sogar noch mehr als Lone Scherfigs (zu Recht) viel gelobter An Education, der immerhin auf einer realen Geschichte beruhte. Die Geschichte stellt eine Teenager-typische Achterbahnfahrt der Gefühle dar, die man als Zuschauer mit Oliver unternimmt. Dessen Gefühle wirken bekannt; ebenso seine Handlungen, die mal clever, mal kindisch-naiv sind. Einen derartigen Charakter sympathisch bleiben zu lassen, ist nicht leicht; Kudos an den exzellenten Craig Roberts und an die gleichermassen talentierte Yasmine Paige, die eine noch exzentrischere Figur zu spielen hat. Auch visuell wussten Ayoade und sein Kameramann Erik Wilson den Geist des Teeenagerseins hervorragend umzusetzen. Die Liebesgeschichte zwischen Oliver und Jordana – auch sie genial in ihrem von schwärmerischer Romantik gebrochenen Realismus – wäre ohne die Gegenüberstellung des jugendlichen Überschwangs mit der grauen, etwas heruntergekommenen Industriestadt Swansea wohl nur halb so kraftvoll.

Submarine ist ein erfrischender und trotz seines Retro-Chics moderner Indie-Film der besonderen Art. Der Film vereint Romantik, Drama und trockenen, schwarzen, unverkennbar britischen Humor in sich und versteht es hervorragend, das Teenagersein zu beschreiben – skurril, aber stimmig. Ein besseres Langspielfilm-Regiedebüt hätte Richard Ayoade kaum abliefern können. Nicht nur ist Submarine der beste Coming-of-Age-Film seit Jahren, er ist einer der bisherigen Höhepunkte im Kinojahr 2011.

★★★★★½

Un homme qui crie

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Passend zum anhaltenden "Arabischen Frühling", ist nun im Kino Mahamat-Saleh Harouns Un homme qui crie angelaufen; ein introspektiver Kriegsfilm, der die eigentlichen Kampfhandlungen ausklammert und anhand des Schicksals eines einzelnen Mannes eindrücklich den Bürgerkrieg im Tschad porträtiert.

Adam (Youssouf Djaoro) ist seinem Quartier in N'Djamena, der Hauptstadt der Sahararepublik Tschad, eine kleinere Berühmtheit; 1965 gewann er die zentralafrikanische Schwimmmeisterschaft, was ihm den Spitznamen "Champion" einbrachte. Nun ist er 55 Jahre alt und arbeitet als Bademeister in einem Luxushotel – ein Traumjob. Gemeinsam mit seinem 20-jährigen Sohn Abdel (Diouc Koma) kümmert er sich um die Sauberkeit des Swimmingpools, sammelt gebrauchte Badetücher ein und erteilt Kindern Schwimmunterricht. Aber mit der neuen Chefin des Hotels brechen andere Zeiten an: Die alteingesessenen Mitarbeiter werden entweder entlassen oder, in Adams Fall, versetzt. Abdel ist nun alleiniger Bademeister, während sein Vater an der Verkehrsschranke des Hotels ein tristes Dasein fristet, seines Lebensinhaltes – des Pools – beraubt. Währenddessen kämpft das tschadische Militär gegen Rebellen, die die Landeshauptstadt einnehmen und die Regierung stürzen wollen. Jeder Bürger ist dazu aufgerufen, die Soldaten zu finanzieren oder sonstwie zu unterstützen, woran der Quartierboss (Emil Abossolo M'bo) Adam nur zu gern erinnert. Doch "Champion" hat kein Geld zur Verfügung, sondern nur seinen Sohn, der ihn aus seinem Beruf gedrängt hat.

Un homme qui crie ist ein Kriegsfilm der besonderen Art. Für das Genre typische Bilder wie dramatische Schusswechsel oder unmenschliche Gräueltaten sucht man, abgesehen von sporadisch auftauchenden Fernsehberichten, vergebens. Selbst der im Titel vorkommende Schrei wird dem Zuschauer vorenthalten. Dergestalt melodramatische Elemente wären in Mahamat-Saleh Harouns neuem Film auch komplett fehl am Platze. Vielmehr zelebriert der Regisseur und Autor eine elegante, an Stoizismus grenzende, melancholische Ruhe, die nicht einmal in den tragischsten Momenten gebrochen wird. Er geht ohne theatralisches Getue und erzwungenen Schwermut auf Schuld, Sühne und (mögliche) Erlösung seiner Hauptfigur ein und schafft so eine ergreifende und vielschichtige Charakterstudie. Und obwohl der Gewissenskonflikt im Zentrum von Un homme qui crie den tschadischen Bürgerkrieg in vielerlei Hinsicht widerspiegelt, fühlt sich der Film niemals wie ein Lehrstück über Sinn oder Sinnlosigkeit der Rebellionsbewegung im Tschad an, sondern stets wie ein intimer Blick in die persönliche Tragödie eines normalen Menschen – eine Tragödie, die durch die Bedrohung des Krieges letztendlich ins Rollen gebracht wird. Das Drama um Adam – oft verglichen mit dem Protagonisten (Emil Jannings) in F. W. Murnaus Stummfilmklassiker Der letzte Mann (1924) – ist das des alternden Menschen, der sich mit seiner eigenen Ersetzbarkeit konfrontiert sieht und nichts unversucht lässt, diese Entwicklung aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen, selbst wenn dabei die eigene Familie zerstört wird. Haroun beschreibt diese Tragik ohne Wertung oder Verurteilung, sondern mit einfühlsamer Zurückhaltung, wodurch Adams Taten immer ein Stück weit nachfühlbar bleiben.

Neuigkeiten von der Front? Bademeister Adam (Youssouf Djaoro) sorgt sich um seinen Sohn, den er aus Geldnot in die Armee geschickt hat.
Überhaupt erweist sich Haroun als äusserst sorgfältiger Regisseur mit einem beeindruckenden Sinn fürs Detail, im zeitgenössischen Kino vergleichbar mit dem Franzosen Stéphane Brizé (Je ne suis pas là pour être aimé, Mademoiselle Chambon). Viele Szenen sind fast gänzlich stumm; lange Einstellungen (mit wunderschönen Bildkompositionen von Laurent Brunet) herrschen vor; und ein Grossteil der filmischen Ausdruckskraft stammt von den Gesichtern der Schauspieler. In dieser Beziehung überzeugt vor allem der fantastische Youssouf Djaoro, der dem wortkargen Adam allein durch seine Mimik schon sehr viel Tiefe verleiht.

Mahamat-Saleh Haroun präsentiert mit Un homme qui crie ein eindringliches Drama, das im Stile einer griechischen Tragödie unaufhaltsam auf die finale Katastrophe zusteuert, seiner gebrochenen Hauptfigur am Ende jedoch die Möglichkeit der Katharsis offenlässt. Adams Geschichte ist sowohl isolierte Erzählung, als auch Parabel auf die momentane Lage im Tschad; der titelgebende Schrei ist ein innerliches, nicht geäussertes Bekenntnis der Verzweiflung, welches Inhalt und Subtext miteinander verbindet. So ist Un homme qui crie ein Kinoerlebnis mit einer politischen Dimension, das sich aber nicht als solches gebärdet – eine stille, in sich gekehrte Alternative zu Hollywoods Kriegsfilmen.

★★★★★

Freitag, 10. Juni 2011

Source Code

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region. 

Thriller zeichnen sich oft durch Gefühlskälte aus; man könnte denken, dass sich actionreiche Spannung nicht mit Emotionen vertrüge. Doch Regisseur Duncan Jones scheint entschlossen, dieser Ansicht entgegenzutreten: Mit Source Code bringt er einen zutiefst menschlichen Sci-Fi-Reisser ins Kino.

Duncan Jones' zweite Regiearbeit (nach dem hervorragenden Moon) erzählt die Geschichte des in Afghanistan stationierten Piloten Colter Stevens (ein ungemein sympathischer Jake Gyllenhaal), der sich unter mysteriösen Umständen plötzlich in einem Zug mit Ziel Chicago wiederfindet. Ihm gegenüber sitzt eine ihm unbekannte Frau namens Christina (Michelle Monaghan), die ihn mit Sean anspricht; sein Spiegelbild zeigt nicht ihn, sondern einen anderen; und nach kurzer Zeit detoniert eine Bombe im Zug. Verwirrt wacht er in einem dunklen Raum auf und wird von der uniformierten Goodwin (Vera Farmiga) per Webcam darüber aufgeklärt, dass er sich in einem Computerprogramm – dem "Source Code" – befindet, das einem ermöglicht, die letzten Minuten im Leben eines Menschen immer wieder zu durchleben. Was Colter erlebt hat, war ein Terroranschlag, der sich vor wenigen Stunden zugetragen hat – aus der Sicht des dabei ums Leben gekommenen Lehrers Sean Fentress. Mithilfe des Source Codes muss er nun die letzten acht Minuten von Seans Leben durchstöbern, um den Bombenleger finden, da dieser in der Realität einen noch verheerenderen Coup plant: das Zünden einer radioaktiven Bombe im Zentrum Chicagos.

"Groundhog Day als Thriller"? Die Bezeichnung ist keineswegs verkehrt: Ben Ripley hat sich beim Schreiben des Drehbuchs offensichtlich von Harold Ramis' Komödienklassiker der 1990er Jahre inspirieren lassen, vor allem was die Entwicklung des Protagonisten in der zeitlichen Endlosschlaufe anbelangt. Colters graduelle Wandlung vom verwirrt-destruktiven Antihelden zum souveränen Herrn der Lage erinnert frappant an diejenige von Bill Murrays TV-Wetterfrosch Phil Connors. Dies bedeutet aber nicht, dass Source Code ein plumpes Derivat ist, das ausserdem mit seiner Thematik der multiplen Realität noch ein wenig auf der Inception-Welle reitet. Im Gegenteil: Wie schon in „Moon“ experimentiert Duncan Jones auch hier, wenn auch etwas weniger radikal, mit den Beschränkungen und Konventionen des Genres; so wird zum Beispiel der grösste Twist des Films wieder sehr früh verraten. Man könnte nun denken, dass dieser Umstand, zusammen mit der steten Wiederholung des gleichen Szenarios, zur Folge hat, dass der Film auf Dauer langweilig werden könnte. Dem ist aber nicht so, da Ripleys knackiges, temporeiches Skript immer wieder mit verblüffenden Wendungen und originellen Ideen aufwartet, sodass dauerhaft maximale Spannung erhalten bleibt. Dazu trägt sicherlich auch die vergleichsweise knappe Laufzeit von „Source Code“ bei; die höchst komplexe Geschichte wird in gut 90 Minuten abgewickelt, was verhindert, dass sich das faszinierende Konzept wegen Überlänge totläuft.

Colter (Jake Gyllenhaal) weiss nicht, wieso er sich plötzlich in einem Zug befindet; sein Gegenüber (Michelle Monaghan) scheint ihn aber zu kennen.
Auch dramaturgisch weiss Source Code zu begeistern. Obwohl sich die Erzählung um die actionreiche Suche nach dem Zug-Attentäter dreht, verlieren Jones und Ripley niemals die menschliche Komponente aus den Augen. Colters komplizierte, von Schuldgefühlen und Konflikten geprägte Beziehung zu seinem Vater wird so subtil wie dreidimensional angegangen; ebenso sein Beschützerinstinkt, der mit jeder Zugexplosion stärker wird und der darin mündet, dass er die unschuldigen Opfer des Anschlags wenigstens in der Source-Code-Simulation retten will. Ausserdem beginnt er allmählich, Gefühle für Christina zu entwickeln. Obwohl dieser Handlungsstrang eher konventionell ist und auch hie und da etwas ins Süssliche abrutscht, vermag er einen trotzdem zu berühren – wohl nicht zuletzt dank Gyllenhaals und Monaghans vorzüglichen schauspielerischen Leistungen – und verleiht dem eigenwilligen, aber stimmigen Ende zusätzliche Resonanz.

Source Code ist nicht Inception, noch ist er Groundhog Day oder Moon. Er mag kleinere, für Sci-Fi-Thriller durchaus typische Logiklöcher enthalten und ob der Schluss mit der inneren Gesetzmässigkeit der Story kompatibel ist, hängt von der Interpretation ab. Trotzdem ist Duncan Jones ein fesselnder Film gelungen, der trotz ungewöhnlicher Prämisse, vieler Effekten und Action auch das Herz anspricht und nicht vergisst, dass der Kern einer auf- und anregenden Geschichte aus ihren Charakteren besteht. Insofern ist Source Code ein Vorbild für andere Filmemacher, die sich in diesem Genre versuchen.

★★★★½

Sonntag, 5. Juni 2011

Potiche

François Ozon ist wohl der zurzeit populärste und womöglich sogar bekannteste französische Regisseur. Seine Werke locken selbst jene Leute ins Kino, die französischsprachige Filme sonst nur vom Hörensagen kennen und verhelfen so der frankophonen Filmindustrie zu wohlverdientem Prestige. Ozon dreht massentaugliche Komödien, Dramen und Satiren, die sich fast ausnahmslos grosser Beliebtheit erfreuen: sei es ein ironisches Singspiel à la Woody Allens Mighty Aphrodite (der Megahit 8 femmes), ein kühl-erotisches Drama wie Swimming Pool oder Romanzen wie Sous le sable und 5x2.

Sein neuster Streich richtet sich offensichtlich an das Publikum, welches sich von 8 femmes begeistern liess: Potiche spielt in einer genauso knallbunten und stilisierten Vergangenheit – diesmal in den 1970er Jahren –, wartet mit ähnlichen komödiantischen Wendungen und einem ebenso prominenten All-Star-Cast auf. Was Ozons neuem Film aber fehlt, ist der satirische Biss, der das Krimi-Musical zu einem angenehm doppelbödigen Erlebnis machte. So ist Potiche eine eher zahnlose und etwas gar süssliche Angelegenheit geworden, die einem einen vergnüglichen, wenn auch substanzarmen Kinobesuch beschert.

Im Zentrum von Potiche steht die nicht mehr ganz junge Suzanne Pujol, die in ihrer Ehe mit dem Industriellen Robert genau die titelgebende Rolle einnimmt: die "Potiche", das Schmuckstück, das keine Eigeninitiative hat – oder zumindest keine haben sollte – und dessen Aufgabe darin besteht, hübsch auszusehen, am besten passend zum knallig-kitschigen Dekor, und nett zu lächeln.

Daraus scheint François Ozon anfänglich tatsächlich eine feinsinnige Emanzipationskomödie zu spinnen. Sein Drehbuch, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Jean-Pierre Grédy und Pierre Barillet aus dem Jahre 1980, hat besonders während der Exposition seine herrlichen Momente der komischen Überzeichnung – insbesondere die Figur des Robert Pujol – und überzeugt durch die subtile Herangehensweise an das Thema der aus dem geborgenen Hausfrauenalltag ausbrechenden Potiche.

© Filmcoopi
Doch je länger der Film, desto zahmer wird die Sozialkritik und desto mehr verliert das Ganze an Schwung, bis die nicht sonderlich stringente Story sodann bloss noch so dahinplätschert. Ausserdem rutscht Potiche mehr und mehr in den Kitsch ab, weil er sich und seine Beziehungswirren eine Spur zu ernst nimmt. So wird sogar die Glaubwürdigkeit des Emanzipationsmotivs ein wenig angekratzt, da aufgrund des Kitschs gewisse Charaktere wieder in stereotype Fahrwasser zurückfallen, was mehrfach einen etwas schalen Nachgeschmack hinterlässt.

Das soll aber nicht heissen, dass Potiche eine mühsame Angelegenheit ist. Obwohl die Komödie in den letzten 20 Minuten zusehends kitschiger und süsslicher wird und auch immer weniger Lacher zu bieten hat, glänzt der Rest durch ein amüsantes Figurenchaos, welches auch 8 femmes Charme verlieh. Damit verbunden sind einige überraschende, ironisch überspitzte Twists, die sich vorab um Mutter- und Vaterschaftsfragen von Suzanne und Robert und heitere Wer-mit-wem-Enthüllungen drehen. Ozon ist fürwahr ein Experte, wenn es darum geht, derartige Szenarien auf die Leinwand zu bringen und unterhaltsam zu inszenieren – selbst wenn die Figuren nicht über alle Zweifel erhaben sind, wie dies in Potiche der Fall ist.

Besonders die Nebencharaktere wirken bei genauerem Hinsehen nicht voll abgerundet. Suzannes Kinder Joëlle – die scharfzüngige Kapitalistin, die von der überzeugenden Judith Godrèche gemimt wird – und Laurent – das idealistische Muttersöhnchen und Grinsekasper vom Dienst (Jérémie Rénier) – wirken teilweise erschreckend eindimensional. Die Erklärung dafür mag darin liegen, dass Ozon mit Potiche in Erinnerungen an vergleichbare Siebzigerjahre-Komödien zu schwelgen beabsichtigte. Die Liebe zu diesen wird mit reizvoller Nostalgie ausgedrückt, täuscht aber nicht über die Tatsache hinweg, dass dermassen einfältige Figuren wie Joëlle und Laurent auch vor 35 Jahren nicht die stärksten Seiten einer Komödie waren. Dennoch generieren selbst sie einige wirklich lustige Momente.

© Filmcoopi
Diese bewahren sie aber nicht davor, vom grossen Star-Trio von Potiche komplett in den Schatten gestellt zu werden: Catherine Deneuve, Fabrice Luchini und Gérard Depardieu. Alle drei setzen ihr ganzes komödiantisches Talent und ihre ausgelassene Spielfreude ein. Grande Dame Deneuve begeistert als Potiche und lässt einen beinahe vergessen, dass Ozon offenbar nicht wusste, ob er sie nun als Haus- oder Powerfrau positionieren wollte. Depardieu lässt wieder einmal seinen jovialen Charme spielen und rettet damit die zu klischeehafte Figur des Kleinstadt-Kommunisten. Wer aber fast jede Szene an sich reisst, ist Fabrice Luchini als Robert Pujol. Seine Performance als cholerischer, versnobter Lustmolch mutet, besonders während sich Robert von seinem Herzinfarkt erholt, wie eine skurrile Mischung aus Louis de Funès und dem Looney-Tunes-Stinktier Pepé Le Pew an. Schade nur, dass diese geballte Ladung an schauspielerischer Potenz gegen ein relativ schwaches Drehbuch anzukämpfen hat.

Mit Potiche liefert François Ozon federleichte Unterhaltungskinokost – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Trotz eines Protagonistentrios in Hochform, schöner Ausstattung und amüsanter satirischer Vignetten fühlt sich der mit 103 Minuten überlange Film auf Dauer wie eine Überdosis Zuckerwatte an: zu süss, zu flockig, zu leer. Es fehlen ein paar Ecken und Kanten wie in anderen Ozon-Werken, welche das gesellschaftskritische Potential der Geschichte zur Vollendung bringen würden. Es scheint es deshalb angezeigt, auch einmal Komödientalente wie Dany Boon oder Jean Becker, der mit seinen einfühlsamen, philosophischen, lebensnahen Tragikomödien (Dialogue avec mon jardinier, La tête en friche) Mal für Mal die Herzen der Zuschauer erfasst, in den Fokus des breiten Kinopublikums zu rücken.

★★★

Freitag, 3. Juni 2011

The Tree of Life

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Trotz einer Filmografie von nur fünf Filmen zählt Terrence Malick zu den grossen Filmästheten Hollywoods und wurde eben mit der Palme d'Or in Cannes für The Tree of Life ausgezeichnet. Darin stellt er die Frage nach dem Sinn des Lebens und zeigt einmal mehr, dass sein Stil Geschmackssache ist.

In seinem neuesten Werk gibt der enigmatische Kultregisseur Terrence Malick (The Thin Red Line, The New World) auf epische Art und Weise seine gottesfürchtige, pantheistisch anmutende Interpretation des Lebens zum Besten: Einerseits geht er auf das scheinbar idyllische Leben der texanischen 50er-Jahre-Vorstadtfamilie O'Brien ein, in dem der Konflikt zwischen Sohn Jack (Hunter McCracken) und dem herrischen Vater (Brad Pitt) schwelt, der Jack schliesslich dazu bewegt, Gottes Existenz anzuzweifeln. Andererseits lässt er in der Jetztzeit einen erwachsenen Jack (Sean Penn) sich auf die Suche nach spiritueller Erlösung begeben, da dieser von der Erinnerung an seinen im Vietnamkrieg gefallenen Bruder gequält wird. Zwischen diesen teils traumartigen Sequenzen – wunderschön gefilmt von Emmanuel Lubezki – finden sich ausufernde, teilweise sogar atemberaubende HD-Einstellungen von Galxien, Sternennebeln und irdischen Naturwundern wie Wasserfällen sowie (nicht sonderlich gut animierten) Dinosauriern. Nur leider genügen diese nicht als Ersatz für eine emotional wie intellektuell anregende Geschichte.

Anstatt seine philosophischen Ambitionen in eine Erzählung einzubetten – wie zum Beispiel ein Jim Jarmusch in The Limits of Control – belässt Malick es bei seinen Markenzeichen, denen er alles unterordnet: Szenen relativ lose aneinander zu reihen, Dialoge grossflächig durch geflüsterte Voiceovers zu ersetzen, symbolische Naturbilder in den Film zu integrieren und Charaktere nur sporadisch agieren zu lassen. Vor allem Letzteres ist dem Genuss des Films abträglich. Obwohl die Entwicklung der O'Briens en détail geschildert wird, angefangen bei der Geburt des ältesten der drei Söhne, hat man als Zuschauer keine emotionale Beziehung zu ihr, da sie einem nur schemenhaft bekannt ist. Auch Sean Penns Handlungsstrang vermag diesbezüglich nicht zu überzeugen: Penn verbringt seine spärliche Screentime vor allem damit, Lift zu fahren und mehr oder minder ziellos durch gläserne Bürogebäude und felsige Küstenlandschaften zu laufen. Dass dahinter kalkulierter Symbolismus steckt, ist offensichtlich, stärkt aber das Interesse des Kinogängers, der kein Malick-Fan ist, am Schicksal des erwachsenen Jack O'Briens nicht.

Mr. O'Brien (Brad Pitt) beschäftigt sich mit seinen Söhnen.
Diese Art des Erzählens geht stellenweise sogar so weit, dass The Tree of Life mehrmals wie die Parodie eines Autorenfilms wirkt. Dies liegt wohl auch daran, dass Malick sich in seiner Mission, das Leben, ja die Existenz von Zeit und Raum an sich, darzustellen, absolut ernst nimmt und sich konsequent gegen das Aufkommen jeglichen Humors und jeglicher Ironie stemmt. Dass das durchaus möglich wäre, haben die Brüder Joel und Ethan Coen vor gut einem Jahr mit A Serious Man bewiesen, der, genauso wie The Tree of Life, die Gottesfrage stellte. Doch Malick scheint sich in seiner Rolle als visionärer und tiefgründiger Filmkünstler zu sehr zu gefallen, um Leichtigkeit zuzulassen. Sporadische Lacher sind eher unfreiwilliger Natur und werden entweder durch eine der übertrieben bedeutungsschwangeren, mit esoterischem Gesang unterlegten Aufnahmen des Tierreichs oder die allzu gesuchte Symbolik provoziert.

In einigen Punkten weiss The Tree of Life durchaus zu gefallen. Obwohl seine Story das Interesse des Zuschauers nicht wirklich zu wecken vermag, hat Terrence Malick in seinem Drehbuch einen angenehm fliessenden Rhythmus hinbekommen, welcher dafür sorgt, dass der Film, ausser in den letzten zehn Minuten, nie richtig langweilt. Von den Schauspielern bleibt vor allem Brad Pitt in Erinnerung, der als autoritärer Vater der 1950er Jahre, der seine Kinder dazu erzieht, ihn "Sir" zu nennen, vollends überzeugt und so wohl endgültig sein Schönling-Image abgelegt haben dürfte.

Bei The Tree of Life trifft der Spruch "Über Geschmack lässt sich nicht streiten" fast noch mehr als bei anderen Filmen zu. Wer ein Freund von Terrence Malicks Filmen ist oder sich zumindest mit seinen religiösen und philosophischen Ansichten identifizieren kann, wird seinem Opus magnum bestimmt einiges abgewinnen können. Sonst aber ist der Gewinner der Goldenen Palme 2011 nicht viel mehr als ein prätentiöser Egotrip eines polarisierenden Regisseurs. Mit Dinosauriern und Sternennebeln.

★★½