Donnerstag, 10. November 2011

Der Verdingbub

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Der Berner Markus Imboden liefert nach zehn Jahren wieder einmal einen Kinospielfilm ab. Mit dem Thema der Verdingkinder greift er darin ein unrühmliches Stück jüngerer Schweizer Historie auf. Das Resultat ist Der Verdingbub, ein ansprechender, aber sehr unsteter Film.

Der 15-jährige Waisenjunge Max (Max Hubacher) wird irgendwann während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf einen Hof im Kanton Bern geschickt, wo er bei der Familie Bösiger unterkommt. Diese erwartet von ihm aber vorab Feldarbeit. Die Liebe, die er sich von seinem neuen Heim erhoffte, bekommt er nicht. Im Gegenteil, "Vater" (Stefan Kurt), "Mutter" (Katja Riemann) und deren Sohn Jakob (Maximilian Simonischek) halten sich mit bösartigen Sticheleien nicht zurück. Max' Leben ändert sich aber schlagartig, als Berteli (Lisa Brand), mit der er sich nach und nach anfreundet, auch auf dem Hof abgeliefert wird. Die einzigen Fluchtmöglichkeiten aus dem harten Alltag sind für die beiden die Schule und Max' Handorgelspiel.

Dass Markus Imboden ein grosser Bewunderer des klassischen Schweizer Kinos und der grossen Literaten des Landes ist, ist in jeder Einstellung seines neuen Films spürbar. Kurt Gloors Drama Der Erfinder scheint Bildsprache und -komposition sowie die Darstellung des helvetischen Landlebens an der Schwelle zur Moderne inspiriert zu haben, während die beklemmende Atmosphäre auf Leopold Lindtbergs Friedrich-Glauser-Verfilmung Matto regiert zurückgreift. Die korrupte Dorfgemeinschaft scheint einer Erzählung aus Gottfried Kellers Seldwyla-Zyklus entsprungen zu sein – wenn auch nicht ganz so ironisch –, und die Thematik selber basiert sicherlich nicht nur auf den Erlebnisberichten echter Verdingkinder, sondern auch, mindestens teilweise, auf Jeremias Gotthelfs Bauernspiegel und dem darauf basierenden Radiohörspiel aus den 1950er Jahren. 

Heilende Musik: Verdingbub Max (Max Hubacher) lenkt sich mit seinem Handorgelspiel vom harten Arbeitsalltag ab.
Dieses Traditionsbewusstsein ist Imboden hoch anzurechnen, vor allem weil sich in Der Verdingbub immer wieder neue film- und literaturhistorische Kleinigkeiten entdecken lassen. Dennoch wirkt die Angelegenheit stellenweise fast ein wenig so, als ob dem Regisseur – und auch dem Drehbuchautor Plinio Bachmann – ob der vielen Einflüsse der Fokus etwas abhanden kam. Die erste Hälfte des Films irrt erschreckend ziellos herum und bietet ausser einigen höchst atmosphärischen Bildern einer alten Schweiz wenig Nennenswertes. In der zweiten Stunde erhält der Film dann glücklicherweise eine Struktur und seine – durchwegs sehr sorgfältig entwickelten, wenn auch etwas künstlichen – Charaktere ein konkretes Ziel, was der Spannung des Ganzen sehr zuträglich ist. Wie der Verlauf der Geschichte sind auch die Schauspielleistungen etwas unausgeglichen. Positiv stechen besonders Maximilian Simonischek, Andreas Matti (Fascht e Familie) und Stefan Kurt, der das Phlegma eines Josef Bierbichler (Das weisse Band) imitiert, hervor; eher unvorteilhaft fällt vor allem Lisa Brand auf, der einige zusätzliche Stunden Schauspielunterricht nicht geschadet hätten. Erwähnenswert ist auch der leider allzu kurze Gastauftritt von Hanspeter Müller-Drossaart.

Der Verdingbub mag kein Meisterwerk des Schweizer Kinos sein, doch dank einer starken zweiten Hälfte und einiger inspirierter Hommagen lässt sich der Film in guter Erinnerung behalten.

★★★★☆☆

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