Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Der Berner Markus Imboden liefert nach zehn Jahren wieder einmal
einen Kinospielfilm ab. Mit dem Thema der Verdingkinder greift er
darin ein unrühmliches Stück jüngerer Schweizer Historie auf. Das
Resultat ist Der Verdingbub, ein ansprechender, aber sehr
unsteter Film.
Der 15-jährige Waisenjunge Max (Max Hubacher) wird irgendwann
während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf einen Hof im
Kanton Bern geschickt, wo er bei der Familie Bösiger unterkommt.
Diese erwartet von ihm aber vorab Feldarbeit. Die Liebe, die er sich
von seinem neuen Heim erhoffte, bekommt er nicht. Im Gegenteil, "Vater" (Stefan Kurt), "Mutter" (Katja Riemann) und deren
Sohn Jakob (Maximilian Simonischek) halten sich mit bösartigen
Sticheleien nicht zurück. Max' Leben ändert sich aber schlagartig,
als Berteli (Lisa Brand), mit der er sich nach und nach anfreundet,
auch auf dem Hof abgeliefert wird. Die einzigen Fluchtmöglichkeiten
aus dem harten Alltag sind für die beiden die Schule und Max'
Handorgelspiel.
Dass Markus Imboden ein grosser Bewunderer des klassischen Schweizer
Kinos und der grossen Literaten des Landes ist, ist in jeder
Einstellung seines neuen Films spürbar. Kurt Gloors Drama Der
Erfinder scheint Bildsprache und -komposition sowie die
Darstellung des helvetischen Landlebens an der Schwelle zur Moderne
inspiriert zu haben, während die beklemmende Atmosphäre auf Leopold
Lindtbergs Friedrich-Glauser-Verfilmung Matto regiert
zurückgreift. Die korrupte Dorfgemeinschaft scheint einer Erzählung
aus Gottfried Kellers Seldwyla-Zyklus entsprungen zu sein – wenn
auch nicht ganz so ironisch –, und die Thematik selber basiert
sicherlich nicht nur auf den Erlebnisberichten echter Verdingkinder,
sondern auch, mindestens teilweise, auf Jeremias Gotthelfs Bauernspiegel und dem darauf basierenden Radiohörspiel aus den
1950er Jahren.
Heilende Musik: Verdingbub Max (Max Hubacher) lenkt sich mit seinem Handorgelspiel vom harten Arbeitsalltag ab. |
Dieses Traditionsbewusstsein ist Imboden hoch anzurechnen, vor allem
weil sich in Der Verdingbub immer wieder neue film- und
literaturhistorische Kleinigkeiten entdecken lassen. Dennoch wirkt
die Angelegenheit stellenweise fast ein wenig so, als ob dem
Regisseur – und auch dem Drehbuchautor Plinio Bachmann – ob der
vielen Einflüsse der Fokus etwas abhanden kam. Die erste Hälfte des
Films irrt erschreckend ziellos herum und bietet ausser einigen
höchst atmosphärischen Bildern einer alten Schweiz wenig
Nennenswertes. In der zweiten Stunde erhält der Film dann
glücklicherweise eine Struktur und seine – durchwegs sehr
sorgfältig entwickelten, wenn auch etwas künstlichen – Charaktere
ein konkretes Ziel, was der Spannung des Ganzen sehr zuträglich ist.
Wie der Verlauf der Geschichte sind auch die Schauspielleistungen
etwas unausgeglichen. Positiv stechen besonders Maximilian
Simonischek, Andreas Matti (Fascht e Familie) und Stefan Kurt,
der das Phlegma eines Josef Bierbichler (Das weisse Band)
imitiert, hervor; eher unvorteilhaft fällt vor allem Lisa Brand auf,
der einige zusätzliche Stunden Schauspielunterricht nicht geschadet
hätten. Erwähnenswert ist auch der leider allzu kurze Gastauftritt
von Hanspeter Müller-Drossaart.
Der
Verdingbub mag kein Meisterwerk des Schweizer Kinos sein, doch
dank einer starken zweiten Hälfte und einiger inspirierter Hommagen
lässt sich der Film in guter Erinnerung behalten.
★★★★☆☆
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