Donnerstag, 8. Dezember 2011

Carnage

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Was passiert, wenn man zwei moderne Ehepaare mit unterschiedlichen Weltanschauungen in einen Raum steckt? Dieser Frage geht Roman Polanski in seiner Theaterverfilmung Carnage nach. Das Resultat ist ein spannendes Kammerspiel mit rabenschwarzem Humor.

Der elfjährige Zachary Cowan geht mit einem Stock auf seinen Schulkameraden Ethan Longstreet los und schlägt ihm zwei Zähne aus. Sofort treffen sich die Eltern der beiden in der Wohnung der Longstreets, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Während sich Nancy Cowan (Kate Winslet) und Gastgeber Michael (John C. Reilly) bemühen, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, kann sich die idealistische Penelope (Jodie Foster) nicht zurückhalten, ständig auf die "schwere Verletzung" ihres Sohnes hinzuweisen. Und Nancys Mann, der Staranwalt Alan (Christoph Waltz), interessiert sich ohnehin nicht für das Gespräch. Viel wichtiger sind für ihn die Anrufe seiner Kollegen, da der Pharmakonzern, den er vertritt, stark unter Beschuss steht.

Ungefähr in der Mitte des knapp 80-minütigen Films hat die Figur Nancy einen kurzen Moment der Klarheit: "Pretty funny when you think about it", sagt sie. Dieser eine Satz, dieses Innehalten im längst ausgearteten Konflikt der Klassen und Philosophien, ist die perfekte Erklärung, weshalb Roman Polanskis Carnage – und dementsprechend auch das originale Bühnenstück Le dieu de carnage von Yasmina Reza, die das Drehbuch mitverfasste – so wunderbar funktioniert. Der überzeichnete Zusammenbruch menschlicher Beziehungen macht Spass, weil man selbst nicht beteiligt ist; der Film hat eine geradezu kathartische Wirkung. Mit Hochgenuss lassen Polanski und Reza die immer roher werdenden Akteure ihre zivilisierten Prinzipien vergessen, sich gegenseitig ankeifen und unheilige Allianzen schliessen, ganz in der Tradition von Edward Albees Who's Afraid of Virginia Woolf?. Die Fassade der vernünftigen, erwachsenen Problemlösung wird gnadenlos niedergerissen, was mit lautem Lachen aus dem Zuschauerraum quittiert wird, wohl auch weil einem von den vier Figuren keine wirklich sympathisch ist.

Gestatten, die Kombattanten: Die Longstreets (Jodie Foster und John C. Reilly, links) gegen die Cowans (Kate Winslet und Christoph Waltz).
Die Akribie, mit der hier vorgegangen wird, technisch wie dramaturgisch, macht das Ganze umso intensiver. Pawel Edelmans Kamera ist nah dran an den Charakteren – Grossaufnahmen herrschen vor –, Alexandre Desplats Score untermalt die bürgerliche Katastrophe musikalisch. Auch die Schauspieler geben alles, manchmal vielleicht sogar etwas zu viel, wobei vor allem der ewige Nebendarsteller John C. Reilly begeistert. Kompromisse gibt es, wie bei Polanski üblich, keine. Es wird gesoffen und gekotzt; übelste Beschimpfungen wechseln sich mit mal sexistischen, mal rassistischen Verunglimpfungen und Parolen ab. Die Dialoge gehen fliessend vom Absurden ins Sardonische, ja Zynische über, ohne je ihren Witz zu verlieren. Carnage gehört eindeutig zu den lustigsten Filmen dieses Jahres, Seite an Seite mit The Guard und Chris Morris' Terroristenfarce Four Lions – beide politisch ähnlich unkorrekt.

Roman Polanski lässt auch in seinem neuen Film keine Zweifel an seiner Klasse als Filmemacher aufkommen. Carnage ist brillant fürs Kino adaptiertes Theater, welches zugleich unterhält und schmerzt. Ein Albtraum für die Charaktere, ein grossartiges Erlebnis für den Zuschauer.

★★★★★½

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