Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Was passiert, wenn man zwei moderne Ehepaare mit unterschiedlichen
Weltanschauungen in einen Raum steckt? Dieser Frage geht Roman
Polanski in seiner Theaterverfilmung Carnage nach. Das Resultat
ist ein spannendes Kammerspiel mit rabenschwarzem Humor.
Der elfjährige Zachary Cowan geht mit einem Stock auf seinen
Schulkameraden Ethan Longstreet los und schlägt ihm zwei Zähne aus.
Sofort treffen sich die Eltern der beiden in der Wohnung der
Longstreets, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Während sich
Nancy Cowan (Kate Winslet) und Gastgeber Michael (John C. Reilly)
bemühen, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, kann sich die
idealistische Penelope (Jodie Foster) nicht zurückhalten, ständig
auf die "schwere Verletzung" ihres Sohnes hinzuweisen. Und Nancys
Mann, der Staranwalt Alan (Christoph Waltz), interessiert sich
ohnehin nicht für das Gespräch. Viel wichtiger sind für ihn die
Anrufe seiner Kollegen, da der Pharmakonzern, den er vertritt, stark
unter Beschuss steht.
Ungefähr in der Mitte des knapp 80-minütigen Films hat die Figur
Nancy einen kurzen Moment der Klarheit: "Pretty funny when you
think about it", sagt sie. Dieser eine Satz, dieses Innehalten im
längst ausgearteten Konflikt der Klassen und Philosophien, ist die
perfekte Erklärung, weshalb Roman Polanskis Carnage – und
dementsprechend auch das originale Bühnenstück Le dieu de
carnage von Yasmina Reza, die das Drehbuch mitverfasste – so
wunderbar funktioniert. Der überzeichnete Zusammenbruch menschlicher
Beziehungen macht Spass, weil man selbst nicht beteiligt ist; der
Film hat eine geradezu kathartische Wirkung. Mit Hochgenuss lassen
Polanski und Reza die immer roher werdenden Akteure ihre
zivilisierten Prinzipien vergessen, sich gegenseitig ankeifen und
unheilige Allianzen schliessen, ganz in der Tradition von Edward
Albees Who's Afraid of Virginia Woolf?. Die Fassade der
vernünftigen, erwachsenen Problemlösung wird gnadenlos
niedergerissen, was mit lautem Lachen aus dem Zuschauerraum quittiert
wird, wohl auch weil einem von den vier Figuren keine wirklich
sympathisch ist.
Gestatten, die Kombattanten: Die Longstreets (Jodie Foster und John
C. Reilly, links) gegen die Cowans (Kate Winslet und Christoph
Waltz).
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Die Akribie, mit der hier vorgegangen wird, technisch wie
dramaturgisch, macht das Ganze umso intensiver. Pawel Edelmans Kamera
ist nah dran an den Charakteren – Grossaufnahmen herrschen vor –,
Alexandre Desplats Score untermalt die bürgerliche Katastrophe
musikalisch. Auch die Schauspieler geben alles, manchmal vielleicht
sogar etwas zu viel, wobei vor allem der ewige Nebendarsteller John
C. Reilly begeistert. Kompromisse gibt es, wie bei Polanski üblich,
keine. Es wird gesoffen und gekotzt; übelste Beschimpfungen wechseln
sich mit mal sexistischen, mal rassistischen Verunglimpfungen und
Parolen ab. Die Dialoge gehen fliessend vom Absurden ins Sardonische,
ja Zynische über, ohne je ihren Witz zu verlieren. Carnage
gehört eindeutig zu den lustigsten Filmen dieses Jahres, Seite an
Seite mit The Guard und Chris Morris' Terroristenfarce Four
Lions – beide politisch ähnlich unkorrekt.
Roman Polanski lässt auch in seinem neuen Film keine Zweifel an
seiner Klasse als Filmemacher aufkommen. Carnage ist brillant
fürs Kino adaptiertes Theater, welches zugleich unterhält und
schmerzt. Ein Albtraum für die Charaktere, ein grossartiges Erlebnis
für den Zuschauer.
★★★★★½
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