Samstag, 28. Januar 2012

J. Edgar

Eine Figur, welche die USA des 20. Jarhunderts politisch wie gesellschaftlich am meisten geprägt hat, ist ohne Zweifel John Edgar Hoover, Gründer und von 1924 bis zu seinem Tod 1972 Leiter des Buerau of Investigation und dessen Nachfolgeorganisation, des FBI. Die Biografie dieser überlebensgrossen, von Millionen gehassten, von Millionen verehrten Persönlichkeit erfolgreich auf Film zu bannen, ist keine Selbstverständlichkeit. In den sicheren Händen Clint Eastwoods jedoch wird aus Hoovers komplizierter und von Mythen umwobener Vita gleichzeitig ein faszinierendes Porträt eines letztlich tragischen Lebens sowie ein spannendes und assoziatives Panoptikum amerikanischer Geschichte.

Wenn der vielleicht mächtigste Mensch in Washington D.C. zur Audienz lädt, dann wird der Einladung Folge geleistet. Agent Smith (Ed Westwick) wird von der Sekretärin, Miss Gandy (von Naomi Watts mit bewundernswerter Subtilität gespielt), hereingebeten und setzt sich mit seiner Schreibmaschine ins Büro von J. Edgar Hoover (Leonardo DiCaprio). Dieser breitet nun sein Leben vor dem jungen Biografen aus. Von den Anfängen um 1920, als Hoover gegen kommunistische Terrorgruppen, die das Land in Angst und Schrecken versetzten, vorging; über seine Berufung zum Direktor des Bureau of Investigation, seine Frustration ob der Machtlosigkeit dieser Institution; bis hin zur Allmacht des FBI-Chefs, der, immer mehr der Paranoia anheim fallend, belastende Akten über Eleanor Roosevelt und Martin Luther King anlegt, um das Land vor allerlei Gefahren zu schützen. Doch auch Privates dringt hindurch: Hoover erinnert sich an die Beziehung zu seiner Mutter (eine herausragende Judi Dench), die ihm das Stottern abgewöhnte und ihn zu Höherem berufen sah; an die enttäuschte Liebe zu Ellen Gandy, die ihr Leben ihrem Beruf widmet und sogar über Hoovers Tod hinaus an ihrer Loyalität ihm gegenüber festhält; und an die Einstellung Clyde Tolsons (Armie Hammer), der zu seinem engsten Vertrauten werden sollte.

Man ist anfangs fast ein bisschen überfordert mit dem Erzählstil, den Dustin Lance Black (Milk) seinem Drehbuch auferlegt hat. Nach und nach jedoch weiss man sich nicht nur darauf einzulassen, sondern auch die Kreativität dahinter wertzuschätzen. Blacks Titelfigur ist ein alter Mann, der zurückblickt und sich wenig um lineare Abläufe kümmert, vielmehr verbindet er Details – einen Satz, eine Abschweifung, einen Blick aus dem Fenster – miteinander und gewährt so Einblick in sein bewegtes Leben. Hoover ist Dreh- und Angelpunkt von J. Edgar und in dieser Funktion brilliert auch Leonardo DiCaprio. Eine dermassen überlebensgrosse Figur zu spielen, kann für manchen Schauspieler katastrophal enden, aber bei DiCaprio funktioniert alles. Er imitiert Hoover nicht, er fühlt sich in ihn hinein, sodass er zu jeder Zeit menschlich bleibt, selbst unter dem dicken, dennoch recht gut gelungenen, Altersmakeup – jenes von Armie Hammer ist leider weniger überzeugend. DiCaprio verzichtet auf jegliches Chargieren, obwohl es dazu verleitende Szenen reichlich gäbe, sondern bleibt seiner zurückhaltenden, intimen Darstellung konsequent treu. Die Genialität der Performance zeigt sich allein schon in der stimmlichen Darbietung: Wirkt seine übertrieben genaue Aussprache auf einige Zuschauer zu Beginn womöglich gestellt, merkt man schon bald, dass dies ein essentieller Teil seiner Rolle ist. Als "geheilter" Stotterer ist jede von Hoovers Äusserungen genau kalkuliert, aus Angst, es ertappe ihn jemand dabei, bei einem Wort stecken zu bleiben.

FBI-Chef J. Edgar Hoover (Leonardo DiCaprio, rechts) und sein Assistent Clyde Tolson (Armie Hammer)
Diese Tragödie, eine Mischung aus überdimensioniertem Ego, Geltungssucht und Selbstverleugnung, zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film. Eastwood und Black entschieden sich klugerweise dagegen, Partei für oder gegen ihre Hauptfigur zu beziehen. Sie konzentrieren sich auf Hoovers Kampf mit sich selber, die Unvereinbarkeit seiner unterdrückten privaten Seite mit seinem Ideal, sein Leben in den Dienst seines Landes und nur seines Landes zu stellen, selbst dann, als er in Clyde Tolson die Liebe seines Lebens findet. So entsteht das Bild eines Mannes, dessen Leben zwar oberflächlich von Triumphen bestimmt wurde, im Grunde genommen aber tragischer nicht hätte sein können. Im Zentrum steht dabei Hoovers Unfähigkeit, sich seine Homosexualität einzugestehen und seine Überzeugung, der einzige Amerikaner zu sein, der seinem patriotischen Auftrag vollumfänglich gerecht wird; selbst der paranoideste und perfideste aller Kommunistenjäger, Senator Joseph McCarthy, wird als Opportunist abgekanzelt. Dem Film gelingt es dabei vorzüglich, die durch kluge Selbstdarstellung entstandenen Legenden mit der oftmals nur leicht abgeänderten, weniger gloriosen Wahrheit zu kontrastieren.

Doch J. Edgar weiss auch, dass Hoover für eine transformative Periode in der amerikanischen Geschichtsschreibung steht. Muss der junge Staatsangestellte anfangs noch darum kämpfen, dass die älteren Polizei-Semester Tatorte unberührt lassen und nach Fingerabdrücken suchen, sieht er sich als alter FBI-Boss als Auslaufmodell, der immer noch in Gewerkschaften und Universitäten nach bolschewistischen Aufrührern suchen will. Dazwischen liegen 50 Jahre, in denen er sich mit ausländischen Subversiven, den zu Volkshelden emporgejubelten Gangstern der Weltwirtschaftskrise, der Entführung von Charles Lindberghs Sohn und der Bürgerrechtsbewegung befassen muss und dazu Präsident um Präsident, Ideologie um Ideologie vorbeiziehen sieht. Es steht ausser Frage, dass Clint Eastwood hier seine Kindheitserinnerungen an den "Super G-Man" der Dreissiger- und Vierzigerjahre einfliessen liess. Hinzu kommen eine stimmige Austattung und Tom Sterns wie gewohnt fantastische Kamera, die einen visuell durch dieses wichtige Kapitel der US-Historie geleitet.

DiCaprio als gealterte Ikone im Zwielicht.
Clint Eastwoods neuer Film, Nummer 32, trägt unverkennbar die Handschrift seines Regisseurs. Der chaotisch anmutende, aber innerlich äusserst stringente J. Edgar wird schnörkellos vorgetragen, ist meisterhaft inszeniert und zeichnet sich durch Unaufgeregtheit und Abgeklärtheit aus. Die Legenden, die sich um J. Edgar Hoover ranken, werden kritisch beleuchtet, aber nicht demontiert; der Mann selbst wird als herrische, unsichere, das eigene Mysterium tunlichst aufrechterhaltende, tragische Figur gezeigt. Aber eben doch als Mensch.
★★★★★

Donnerstag, 26. Januar 2012

Intouchables

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Innert zwei Monaten avancierte die Komödie Intouchables zu einem der erfolgreichsten französischen Filme aller Zeiten – völlig zurecht. Auf wahre Begebenheiten gestützt, wird eine einfühlsame und zugleich urkomische Geschichte zweier ungleicher Freunde erzählt.

Bürokratie ist ein komplizierter, irrationaler Albtraum. Diese Erfahrung muss auch Driss (Omar Sy), ein junger Mann aus der Pariser Banlieue, machen. Der gut dreissigjährige Senegalese kommt gerade aus dem Gefängnis und möchte Arbeitslosengeld beantragen. Schön und gut, doch dazu muss er erst einmal beweisen, dass er nach einem Beruf sucht; drei Absagen trennen ihn von seinem "Glück". Also bewirbt er sich – der negativen Rückmeldung willen – beim seit einem Gleitschirmunfall an den Rollstuhl gefesselten Adligen Philippe (François Cluzet), der in seinem Hauptstadt-Anwesen von Helfern umgeben ist und einen neuen persönlichen Pfleger sucht. Wider Erwarten wird Driss eingestellt und residiert fortan in der luxuriösen Villa und kümmert sich, wenn anfangs auch reichlich ungeschickt, um den vornehmen Philippe.

Die Inspiration für Intouchables fanden die Regisseure und Autoren Olivier Nakache und Éric Toledano in einer 2004 produzierten Dokumentation über den reichen Paraplegiker Philippe Pozzo di Borgo und dessen nordafrikanischen Pfleger Abdel Sellou. Als Ersterer um die Rechte gebeten wurde, gab er sein Einverständnis, allerdings unter einer Bedingung: Der Film darf kein Mitleid erregen. Nakache und Toledano nahmen es sich zu Herzen und beschenkten Pozzo di Borgo, Sellou und den Rest der Welt mit einer hinreissenden Tragikomödie, zu der wohl nur Franzosen in dieser Form fähig gewesen wären.

Ansteckende Lebensfreude: Der Immigrant Driss (Omar Sy) und der gelähmte Adlige Philippe (François Cluzet) freunden sich immer mehr an.
Intouchables ist nicht Le scaphandre et le papillon, keine Abhandlung über den Körper, der für Gelähmte zum Gefängnis wird. Es ist ein scharfsinniges Lustspiel, welchem das Kunststück gelingt, die Balance zwischen unerhörtem, und damit unglaublich lustigem, Sarkasmus und glaubwürdiger und bewegender Charakterdarstellung zu halten. Auch driftet das Ganze nie ins Plakative ab; die Witze – seien sie nun über "Telethon-Behinderte", wie Driss sie nennt, gelähmte Nazis ("Non! Absolument pas! Nein!") oder moderne Kunst – werden nicht ausgeschlachtet und sind, in gewissen Fällen, dermassen subtil, dass sie der Zuschauer selber entdecken muss – eine Tugend, die im heutigen Komödienkino nicht selbstverständlich ist. Ein Grossteil dieses fantastischen Humors rührt von der uralten Formel von "Straight Man" und "Funny Guy", dem Dummen August und dem weissen Clown. Filme, die sich dieses Konzepts bedienen, stehen und fallen mit der Qualität ihres Drehbuchs und ihres Hauptdarstellerduos. Intouchables bekundet auch in letzterem Fall keinerlei Probleme. François Cluzet und Omar Sy verkörpern ihre jeweiligen Rollen nahezu perfekt; Driss' ungehobelte Art ergänzt Philippes gediegene Melancholie ideal.

Politische Interpretationen des Films liessen von Seiten der Kritik nicht lange auf sich warten. Doch Vorwürfe des Rassismus oder des Missachtens der Banlieue-Problematik sind total unangebracht. Im Zentrum steht eine ebenso ungewöhnliche wie ergreifende und enorm erheiternde Freundschaft. Und was meinte der vom Nacken herab gelähmte Philippe Pozzo di Borgo dazu? "Ich applaudiere mit beiden Händen."

★★★★★½

Mittwoch, 25. Januar 2012

King of Devil's Island

1896 wurde auf der norwegischen Insel Bastøy, knapp 50 Kilometer südlich von Oslo im Oslofjord gelegen, eine Zuchtanstalt für schwererziehbare Jugendliche errichtet, welche bis 1970 in Betrieb war. In seinem sechsten Film widmet sich Marius Holst (Dragonfly, Cross My Heart and Hope to Die) diesem dunklen Kapitel der jüngeren norwegischen Sozialgeschichte. Kongen av Bastøy, so der Originaltitel, ist naturalistisches Erzählkino alter skandinavischer Schule.

"Du hast es gut hier, hier ist es besser als im Gefängnis", pflegt Anstaltsleiter Bestyrer (Stellan Skarsgård) bei Gesprächen mit seinen Schützlingen zu sagen. Einer davon ist Neuankömmling Erling (Benjamin Helstad), der im Jahre 1915 auf der Insel einsitzt – angeblich wegen Mordes – und resozialisiert werden soll. Fortan heisst er C19 und verbringt seine Tage im Bastøyer C-Block mit harter Arbeit. Sein Schicksal teilen unter anderen der fragile Ivar (Magnus Langlete) und der Musterhäftling Olav (Trond Nilssen), der schon seit sechs Jahren auf der Insel lebt und bald in die Gesellschaft zurückkehren kann. Da er aber als Blockleiter für den immer wieder rebellierenden Erling verantwortlich ist, droht ihm Bestyrer mit dem Entzug dieser Chance. Derweil missbraucht der Aufseher Bråthen (Kristoffer Joner) Ivar sexuell, was diesen in den Selbstmord treibt und die ohnehin gereizte Stimmung unter den Jungdelinquenten vollends eskalieren lässt.

Das auf eine reiche, bis zu den Anfängen des Mediums zurückreichende Tradition aufgebaute Kino Nordeuropas hat über die Jahre hinweg eine ganz eigene Ästhetik des Kargen entwickelt. Dieser hat sich auch Marius Holst in King of Devil's Island verschrieben. Zwar erinnert die titelgebende Insel selbst etwas an das kafkaeske Setting von Martin Scorseses unterbewertetem Psychothriller Shutter Island; ansonsten aber evoziert die von Autor Dennis Magnusson und Regisseur Holst sehr effektiv konstruierte Geschichte von unzähligen Beschwernissen, denen die Gefangenen ausgesetzt sind, Jan Troells epischen Zweiteiler The Emigrants / The New Land (Utvandrarna und Nybyggarna) oder Bille Augusts Pelle the Conqueror (Pelle Erobreren). Mit äusserster Schlichtheit – bei den ungemein atmosphärischen Bildern von Kameramann John Andreas Andersen herrschen Weiss-, Blau- und Grautöne vor – wird der Arbeitsalltag auf Bastøy geschildert, womit auch der Zuschauer nach und nach mit den Mechanismen der Anstalt vertraut wird.

Es ist Holst überdies hoch anzurechnen, dass er es nicht für nötig hielt, seinem Film die für Gefängnisdramen üblichen Klischees aufzuzwängen. Diese hätten sich vor allem in der zweiten Hälfte, in welcher sich die Angelegenheit enorm verdichtet, angeboten. Doch auch der aufkeimende Widerstand gegen das Regime von Bestyrer und insbesondere Bråthen besticht durch seinen Naturalismus, seinen Verzicht auf Überdramatisierung und falschen Heroismus. Als das Pulverfass Bastøy schlussendlich explodiert, ist der Wunsch nach Freiheit nur der sekundäre Wunsch der Aufrührer. Zuerst soll die brutale Rache, deren Inszenierung dem Aufstand der Soldaten in Akira Kurosawas Throne of Blood nicht unähnlich ist, am herrischen, aber letztlich auch psychisch kranken Bråthen erfolgen.

Die Wut der auf Bastøy festgehaltenen Jugendlichen eskaliert.
Es überrascht dementsprechend nicht, dass von den Schauspielern vor allem der starke Kristoffer Joner im Gedächtnis hängenbleibt. Seine Figur ist zutiefst hassenswert, ohne Frage, ist aber dennoch kein unrealistisches Monster in Menschenverkleidung. Nicht nur in den Insassen des Jugendheims spiegelt sich die "Teufelsinsel" wider; auch Bråthen ist die Qual, seit Jahren auf einer kalten, einsamen Insel festzusitzen, fernab jeglicher Zivilisation und beruflicher Aufstiegsmöglichkeiten, anzusehen. Doch die Kollegen Joners wissen in ihren Rollen ebenso zu gefallen. Auch Benjamin Helstads Erling, dessen Hintergrund auf Ishmael aus Herman Melvilles Moby Dick anspielt, ist ein dreidimensionaler Charakter, der mit guten wie schlechten Eigenschaften ausgestattet ist. Helstad spielt ihn mit all seiner jugendlichen Naivität und Aggression famos. Und Stellan Skarsgård glänzt wieder einmal in seiner Paraderolle als ambivalenter, fast schon Shakespeare'scher Nebenantagonist.

Filme über Gefängnisse und Gefängnisaufstände gibt es viele. Insofern betritt King of Devil's Island kein Neuland. Doch Marius Holst ist es gelungen, das Genre mit einem packenden, sorgfältig inszenierten und von düsterem Naturalismus geprägten Eintrag zu bereichern.

★★★★★

Sonntag, 22. Januar 2012

The Girl with the Dragon Tattoo

Als Regisseur hat man es nicht einfach. Dreht man einen Film, der von allen Seiten überschwänglich gelobt wird, wird der darauf folgende mit grosser Wahrscheinlichkeit von der Kritik als Enttäuschung angesehen. Entsprechend gross war daher die Spannung, mit der David Finchers erstes Werk seit dem meisterhaften The Social Network erwartet wurde, handelte es sich dabei doch um die amerikanische Verfilmung des ersten Teils von Stieg Larssons international gefeierter Millennium-Romantrilogie. The Girl with the Dragon Tattoo, de facto auch ein Remake von Niels Arden Oplevs schwedischer Adaption, enttäuscht zwar nicht, doch das Gefühl, es fehle etwas, wird man dennoch nicht ganz los. 

Kurz nach dem Kinostart von Finchers nunmehr neuntem Film war vor allem ein Element davon in aller Munde. Ausgerechnet in einer Zeit, in welcher der gute alte Titelvorspann mehr und mehr verschwindet, schafft es eine derartige "Credit Sequence", die Massen zu beeindrucken und zu begeistern. Unterlegt mit Led Zeppelins "Immigrant Song" in der Industrial-Version von Trent Reznor und Atticus Ross (Oscar für The Social Network) mit der stimmlichen Unterstützung von Yeah-Yeah-Yeahs-Sängerin Karen O, wird in den ersten zwei Minuten auf intensivste Art und Weise eine eigene kleine Geschichte von Technologie, Gefangensein und Rache erzählt. Kein Zweifel, die Titelsequenz von The Girl with the Dragon Tattoo ist eine kreative Meisterleistung und macht sich das Stilmittel hervorragend zu eigen. Dass dies bei Fincher nichts Neues ist, ist wohlbekannt, zählt der aus dem Hirn seines Protagonisten herauszoomende Anfang von Fight Club doch zu den berühmtesten Vorspännen der jüngeren Kinogeschichte. Der diesbezüglich fundamentale Unterschied zwischen den beiden Buchverfilmungen liegt allerdings darin, dass bei der Palahniuk-Adaption ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen Credits und Story besteht; hier wirkt das Ganze eher wie Selbstzweck. Natürlich ist das Ganze stilsicher, mitreissend und cool aufgezogen, doch dabei kommt der Bezug zu Larssons Krimi etwas abhanden.

Der Plot desselben wurde, abgesehen von einer Änderung am Schluss, treu übernommen. Der schwedische Enthüllungsjournalist und Mitinhaber des "Millennium"-Magazins Mikael Blomkvist (Daniel Craig) wurde von einem seiner Opfer erfolgreich auf 600'000 Kronen verklagt. Resultat: Ruf dahin, Feindbild von Presse und Industrie. Zu seiner Überraschung jedoch bittet ihn der legendäre Magnat Henrik Vanger (Christopher Plummer), dessen Geschäfte Schweden zum Sprung in die Moderne verhalfen, zu sich. Vanger will, dass Mikael sich des Falls seiner Nichte Harriet annimmt, die 1966 spurlos verschwunden ist und, nach Vangers Vermutung, von einem Familienmitglied ermordet wurde. Im Zuge seiner Ermittlungen wird Mikael immer mehr mit den dunklen Geheimnissen der Industriellenfamilie vertraut, zu denen Alt-Nazis, berüchtigte Trunkenbolde und mutmassliche Triebtäter gehör(t)en. Hilfe erhält der bald schon überforderte Journalist von der Person, die ihn auf Bitten von Vangers Anwalt Dirch Frode (Steven Berkoff) ausspioniert hat: der soziopathischen Hackerin Lisbeth Salander (Rooney Mara), die ihrerseits mit ihrem perversen staatlichen Vormund, dem Anwalt Nils Bjurman (Yorick van Wageningen), zu kämpfen hat.

Henrik Vanger (Christopher Plummer, links) führt Mikael Blomkvist (Daniel Craig) in seinen Auftrag ein.
Je nach Quellenmaterial tendieren Werke aus David Finchers Filmografie zu Längen von über 130 Minuten (Fight Club, Zodiac, The Curious Case of Benjamin Button), die man ihnen allerdings kaum je anmerkt. Dies ist auch beim knapp 160-minütigen The Girl with the Dragon Tattoo der Fall, welcher kurzweiligste Thriller-Unterhaltung bietet; das Ganze ist spannend genug aufgezogen – Kompliment an Autor Steven Zaillian –, sodass die zweieinhalb Stunden wie im Flug vergehen. Als Zuschauer hat man sogar das Gefühl, nicht das erste Mal bei diesem Regisseur, ewig weiterschauen zu können. Tatsächlich wäre eine längere Laufzeit dem Projekt gut bekommen. Dass der Film von drei Studen heruntergekürzt wurde, macht sich besonders in der ersten halben Stunde bemerkbar. Der erste Akt wird viel zu schnell abgewickelt, die kaum je länger als fünf Sekunden dauernden Einstellungen sorgen für eine für Kirk Baxters und Angus Walls Schnitt ungewohnte Nervosität, mit der in die Geschichte eingeführt wird. Doch auch das Ende des fesselnden, über weite Strecken unaufgeregten, aber äusserst dichten Films stellt eine Antiklimax zum Rest dar. Im Epilog verzettelt sich Zaillian plötzlich, sodass der zuvor stringente Plot auf einmal auszufransen beginnt und den vorangegangenen 135 Minuten ein wenig die Durchschlagskraft raubt – eine Kraft, die The Girl with the Dragon Tattoo als Ganzem etwas abzugehen scheint, was ihn auch weniger eindringlich macht als Fincher-Meisterstücke wie Se7en, Fight Club oder The Social Network.

Ansonsten aber gefällt die Larsson-Vefilmung und ist weit davon entfernt zu enttäuschen. Die packende, spannungsreiche Inszenierung wird von technischen und schauspielerischen Höchstleistungen ergänzt. So übertrifft sich Jeff Cronenweth mit seiner Kameraarbeit wieder einmal selbst, während das Duo Reznor/Ross das Geschehen, passend zur expliziten Gewaltdarstellung, mit einem roheren, martialischeren, weniger geschliffenen Score als man es in Finchers letztem Film gehört hat, musikalisch begleitet. Vor der Kamera gefällt Daniel Craig als unsicherer Möchtegern-Wallander Blomkvist; Christopher Plummer begeistert nach seiner grossartigen, mehrfach ausgezeichneten Darbietung als spät geouteter Homosexueller in Mike Mills' Beginners auch als jovialer Henrik Vanger; und Stellan Skarsgård wandelt in der Rolle von Henriks Neffen Martin erfolgreich auf dem schmalen Grat zwischen sympathisch und unheimlich. Wer aber am stärksten in Erinnerung bleibt, ist Rooney Mara als Lisbeth Salander. Mara, die schon in der brillanten Eingangssequenz von The Social Network als Mark Zuckerbergs Noch-Freundin mit ihrer Bestimmtheit bestach, hatte von allen Akteuren die schwierigste Aufgabe, da sie die als Salander zur Ikone gewordene Noomi Rapace ersetzen musste. Sie ist um einiges zierlicher und mädchenhafter als Rapace; entsprechend ist auch ihre Lisbeth eine andere als die der 32-jährigen Schwedin. Mara konzentiert sich weniger auf die gepiercte und tätowierte Rächerin, sondern mehr auf die dahinter verborgene Soziopathin, die sich den Fängen der Staatsgewalt zu entziehen versucht. Mit dieser Akzentuierung des Tragischen ist Mara Rapace mindestens ebenbürtig.

Lisbeth Salander (Rooney Mara) kümmert sich um den verletzten Mikael.
Die Meinungen der Kritiker zu The Girl with the Dragon Tattoo sind geteilt. Einige sehen in ihm ein fast fehlerloses Meisterwerk, andere ärgern sich über ein bestenfalls fantasiearmes, schlimmstenfalls langweiliges Remake. Beides sind extreme Ansichten, die wahrscheinlich daher rühren, dass der Film, die Adaption eines der am meisten verkauften Bücher der letzten Jahre, verschiedenste Erwartungen schürte. Was einem Fan Stieg Larssons zusagt, kann einem Anhänger David Finchers leicht zuwider sein. Tatsache ist, dass der neue Film des im vergangenen Jahr von der Academy zu Unrecht verschmähten Filmemachers in vielen Bereichen auftrumpfen kann – Kamera, Schauspiel, Musik, Schnitt, Spannungsbogen –, aber nicht, wie diverse andere Werke des Regisseurs, restlos begeistern kann. Im grossen Zusammenhang von Finchers Œuvre wird The Girl with the Dragon Tattoo, ähnlich wie etwa Zodiac, wohl nicht als Klassiker in Erinnerung bleiben. Für sich allein aber ist der düstere Krimithriller zweifelsohne ein unterhaltsames, einen Kinobesuch lohnendes Stück Film.

★★★★½

Samstag, 21. Januar 2012

Award Season: London Film Critics' Circle


Auch die Filmkritiker Londons haben ihre Preise vergeben. Gewonnen hat The Artist, der nun als klarer "Frontrunner" in den letzten Monat der Award Season geht. Interessant ist hier überdies die Tatsache, in wie vielen Kategorien Asghar Farhadis Meisterwerk A Separation (Film of the Year, Foreign Language Film of the Year, Director of the Year, Screenwriter of the Year, Supporting Actress of the Year) nominiert war.

Bester Film: The Artist
Bester britischer Film: We Need to Talk About Kevin
Bester fremdsprachiger Film: A Separation (Iran)
Beste Dokumentation: Senna
Beste Regie: Michel Hazanavicius - The Artist
Bestes Drehbuch: Asghar Farhadi - A Separation
Britischer Breakthrough-Filmemacher: Andrew Haigh - Weekend
Bester Hauptdarsteller: Jean Dujardin - The Artist
Beste Hauptdarstellerin: Anna Paquin - Margaret / Meryl Streep - The Iron Lady
Bester Nebendarsteller: Kenneth Branagh - My Week with Marilyn
Beste Nebendarstellerin: Sareh Bayat - A Separation
Bester britischer Darsteller: Michael Fassbender - A Dangerous Method und Shame
Beste britische Darstellerin: Olivia Coleman - The Iron Lady und Tyrannosaur
Bester junger britischer DarstellerIn: Craig Roberts - Submarine
Beste Technik: Maria Djurkovic (Ausstattung) - Tinker Tailor Soldier Spy
Excellence in Film: Nicolas Roeg

Donnerstag, 19. Januar 2012

Le gamin au vélo

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Mit seinem neuen Film drehte das belgische Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne, nach eigener Angabe, für einmal keinen gesellschaftskritischen Film, sondern ein modernes Märchen. Dennoch fügt sich Le gamin au vélo problemlos ins bisherige Werk der Dardennes ein.

Der kleine Cyril (Thomas Doret), ungefähr zwölf Jahre alt, lebt in einem Kinderheim, in welches ihn sein Vater, Guy (Jérémie Renier), abgeschoben hat. Zwar wurde dem Jungen gesagt, das Ganze sei nur "temporär", doch sein alter Herr macht bislang keine Anstalten, ihn zu sich zu holen. Im Gegenteil, er hat sogar Cyrils geliebtes Fahrrad verkauft, Wohnung und Telefonnummer gewechselt und beschlossen, ein neues Leben anzufangen – ein Leben, in dem sein Sohn nicht figuriert. Mit dieser harten Realität konfrontiert, sucht sich Cyril andere Bezugspersonen. So findet das psychisch labile Kind in der Coiffeuse Samantha (Cécile de France) eine fürsorgliche Ersatzmutter, deren Bemühungen aber allzu oft nicht gewürdigt werden, und im Kleinkriminellen Wes (Egon Di Mateo) ein zweifelhaftes männliches Vorbild, welches ihn allerdings bloss für einen seiner Fischzüge einzuspannen versucht.

Wenn Le gamin au vélo ein grundsätzliches Problem hat, dann ist das zweifellos seine Hauptfigur. An Thomas Doret liegt es nicht; dieser liefert eine für sein Alter herausragende Performance, die sich durch Nuancen und Differenzierung auszeichnet. Ebenso ist Cyril ein sehr sorgfältig ausgearbeiteter Charakter, dessen Vielschichtigkeit erst nach und nach zum Vorschein kommt. Nein, das "Problem" an ihm, wenn man so will, ist sein hochgradig asoziales Verhalten. Obwohl dies zur Geschichte passt und immer wieder für spannende Konflikte sorgt, ist es schwer, sich der Figur emotional verbunden zu fühlen, anders als beispielsweise in François Truffauts thematisch ähnlichem Klassiker Les quatre cents coups (1959). Zwar wirkt sich dies niemals so gravierend auf den Filmgenuss aus wie etwa in Rolando Collas Giochi d'estate, baut aber doch eine gewisse Distanz zwischen Zuschauer und Film aus, die nie ganz überwunden werden kann.

Zusammen ist man weniger allein: Der vom Vater vernachlässigte Cyril (Thomas Doret) findet in Samantha (Cécile de France) eine Ersatzmutter.
Trotzdem weiss Le gamin au vélo zu gefallen. Die Dardennes (La promesse, Le fils) mögen hier eine ihrer Regie-Maximen brechen – erstmals wird, wenn auch sehr sparsam, so etwas wie Musikuntermalung verwendet –, doch ansonsten bleiben sie ihrem naturalistischen Stil mit seiner asketischen, an die Filme Robert Bressons gemahnenden Strenge treu. Sie folgen dem Alltag ihrer Charaktere, ohne auf Dramaturgie aus zu sein; der ganze Film wirkt angenehm ungezwungen und episodisch. Gefilmt wurde, wie bei den Brüdern üblich, mit viel natürlichem Licht und einer Handkamera, von Alain Marcoen bravourös geführt, die mit den Figuren mitwandert – oder -rennt – und den unruhigen Gemütszustand aller Beteiligten trefflich unterstreicht.

Selbst wenn das Herz des Kinogängers nicht wirklich warm wird mit dem Bengel ("gamin") Cyril, ist seine Geschichte sehens- und bedenkenswert. Die Dardennes beweisen einmal mehr ihr scharfes Auge für Details, physische wie psychische, und erzählen mit Le gamin au vélo ein interessantes, weil ambivalentes, und ausnehmend gut gemachtes Märchen aus dem politisch gebeutelten Belgien. Und da wäre sie dann doch, die gesellschaftskritische Komponente.

★★★★½

Dienstag, 17. Januar 2012

The Match Factory Girl

Ein echtes Original des europäischen Independentfilms ist der Finne Aki Kaurismäki. Seit 1981 hat der Mann mit den vielen Attributen sauertöpfischer Kettenraucher, selbsternannter Alkoholiker, humanistischer Sozialist 16 Kinofilme, von denen nur sechs länger als 90 Minuten dauern, elf Kurzfilme und zwei Dokumentationen gedreht. Kaurismäkis Werk besteht zu einem schönen Teil aus Trilogien, welche thematisch mehr oder minder miteinander verknüpft sind – Begründung: "Wenn ich Filme in eine Trilogie einordne, kann ich nicht nach zweien aufhören". Die bekannteste seiner Serien ist die der "Verlierer" (Drifting Clouds, The Man Without a Past – Oscarnomination 2003 –, Lights in the Dusk); eher obskur ist im Vergleich die "Proletarische Trilogie", deren stärkster Bestandteil der tiefschwarze The Match Factory Girl (1990), oder Tulitikkutehtaan tyttö, ist – ein typischer, man ist versucht zu sagen: archetypischer, Film aus dem Werk Aki Kaurismäkis. 

Beneiden kann man Iiris (Kati Outinen, Kaurismäkis Lieblingsschauspielerin) wirklich nicht. Sie geht einer langweiligen Arbeit in einer Streichholzfabrik nach, wo sie eine der wenigen menschlichen Teile der Produktion ist; sie wohnt in einer trostlosen Wohnung in einem freudlosen Quartier Helsinkis, die sie mit ihrer Mutter (Elina Salo) und ihrem Stiefvater (Esko Nikkari) gegen Miete teilt – obwohl sie selbst für Unterhalt, Kochen, Putzen und Waschen aufkommen muss –; und wenn sie abends ausgeht, hat keiner der Männer Augen für sie. Doch eines Tages, der Langeweile und Eintönigkeit überdrüssig, gibt sie ihr Geld für ein schönes Kleid aus und landet prompt mit einem Mann (Vase Vierikko) im Bett. Dieser will aber nach der gemeinsamen Nacht nichts mehr von Iiris wissen. Also beschliesst das Mauerblümchen, zum Racheengel zu mutieren zu nehmen.

Iiris (Kati Outinen, links) mit ihrer Familie.
Klassische Heldenrollen sucht man in den Filmen Aki Kaurismäkis vergebens. Vielmehr fasziniert ihn das Einfache, das quasi Unsichtbare, die im Alltäglichen steckende Skurrilität. Viele seiner Akteure verbringen einen schönen Teil ihres Lebens in Kneipen oder Bistros, rauchen, trinken Bier und lassen hin und wieder einen kurzen Dialogfetzen fallen. Und doch verliebt man sich in diese Charaktere, da sie einen einerseits mit ihrer ureigenen Art zum Lachen bringen und da sie einem andererseits in ihrer Unvollkommenheit durchaus vertraut vorkommen. So verzichtet Kaurismäki denn auch häufig auf klar umrissene oder wenigstens ausgeprägte Antagonisten; ist im wunderbaren La vie de bohème noch die staatliche Willkür ein Feindbild, wenn auch ein relatives, ist ein solches im 59-minütigen Take Care of Your Scarf, Tatiana, einem melancholischen urbanen Märchen, nur sehr schwer auszumachen. In The Match Factory Girl finden sich zwar Antagonisten – der sich der Verantwortung entziehende reiche "Liebhaber", die antriebslosen, stetig mit leeren Augen fernsehenden Eltern –, doch diese stehen letztlich in keinem grossen Gegensatz zur Hauptfigur, da Iiris durch ihre Erlebnisse selber zu einer unredlichen Person, und damit zu einer echten Antiheldin, einer Femme fatale aus dem klassischen Film Noir, wird. Sie, die geschlagene Arbeiterin, wird, ganz im Einklang mit der "proletarischen Trilogie", in gewisser Weise zum Symbol ihrer sozialen Klasse, welche sich ohne grosses moralisches Dilemma an ihren Unterdrückern rächt. Diese Wandlung wird in einen hervorragenden Schlussakt, der gleichermassen lakonisch wie schwarzhumorig ist, verpackt.

Kaurismäkis Minimalismus – vergleichbar allenfalls mit der cineastischen Philosophie eines Robert Bresson oder Jim Jarmusch – äussert sich auch in anderen Punkten, etwa in Timo Salminens grossartiger, spartanischer Kameraarbeit, welche alles aufs absolute Notwendige reduziert. Die Kamera, immer auf Augenhöhe, ist starr, bewegt sich nur in Ausnahmefällen. Ebenso zeichneten sich Kaurismäkis Filme noch nie durch lange, eloquente Dialoge aus – ein Projekt wie Juha, ein Stummfilm, fügt sich da nahtlos ein – und The Match Factory Girl bleibt dem Schema treu. Wenn geredet wird, dann praktisch nur in den ausschliesslich Katastropen gewidmeten Fernsehnachrichten, welche sich Iiris' Eltern in einer Endlosschlaufe anzusehen scheinen. Dialoge, wenn sie denn stattfinden, beschränken sich weitgehend auf Einzeiler, die manchmal nicht einmal erwidert werden. Daraus entsteht die für Kaurismäki so typische Atmosphäre der Einsam- und Trostlosigkeit, die Entfremdung der Figuren ist greifbar. Dies ist teils auch Kati Outinens Iiris zu verdanken, welche sich von ihrer Umwelt im Grunde genommen kaum abhebt; wie alle anderen liefert auch sie sich ein Starrduell mit der Kamera. Doch am Ende ist es nur sie, welcher der Ausbruch aus dem den Ostblock evozierenden Helsinki gelingt. Nach klassischen Massstäben ist das Ende von The Match Factory Girl kein fröhliches, doch beim knorrigen Finnen auf dem Regiestuhl herrschen eben andere Gesetze und ein zwar konsequentes, wenngleich ambivalentes Ende wird zum Silberstreifen, zur etwas verqueren Erlösung.

Iiris nach der gemeinsamen Nacht mit dem reichen Fremden.
Viele listen Tulitikkutehtaan tyttö als einen der besten Filme seines Regisseurs auf – wer könnte es ihnen verdenken? Mit wenigen filmischen Extravaganzen und noch weniger Dialog wird hier, wie so oft bei Kaurismäki, ein Mikrokosmos der Verlierer, der "Have Beens and Never Weres" erschaffen. Iiris mag keine Sympathieträgerin wie Marcel Marx (André Wilms) in Le Havre, Rodolfo (Matti Pellonpää) in La vie de bohème oder der Namenlose (Markku Peltola) in The Man Without a Past sein, doch hassen mag man sie auch nicht so recht. Wie all die anderen unvergesslichen Charaktere in Kaurismäkis Universum ist auch sie eine arme, verlorene Seele – Hans Christian Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern nicht unähnlich , die, so minimalistisch und phlegmatisch wie nur möglich, ihre Langeweile vergessen will. Und in den Händen von Finnlands (Anti-)Starregisseur werden solche Geschichten zu wahren cineastischen Höhepunkten.

★★★★★½ 

Award Season: Golden Globes


Die Golden Globes wurden vergeben und der Trend der Kritikerpreise scheint bestätigt: The Descendants und The Artist bleiben vor allen anderen Mitstreitern, wenn es um den besten Film geht; einige Schauspielkategorien, insbesondere "Bester Nebendarsteller", bleiben eine knappe Sache; und Martin Scorseses Chancen für seinen zweiten Regie-Oscar sind intakt. Überdies bleibt Woody Allens Midnight in Paris seiner Rolle als Geheimtipp treu und George Clooney behauptet sich als Favorit für den Schauspieloscar. Beim Animationsfilm gab es eine kleine, freudige Überraschung: Der mittelmässige Rango verlor gegen Steven Spielbergs hinreissenden The Adventures of Tintin, dem besten Film der Kategorie.

Bester Film (Drama): The Descendants
Bester Film (Musical/Komödie): The Artist
Beste Regie: Martin Scorsese - Hugo
Bester Hauptdarsteller (Drama): George Clooney - The Descendants
Beste Hauptdarstellerin (Drama): Meryl Streep - The Iron Lady
Bester Hauptdarsteller (Musical/Komödie): Jean Dujardin - The Artist
Beste Hauptdarstellerin (Musical/Komödie): Michelle Williams - My Week with Marilyn
Bester Nebendarsteller: Christopher Plummer - Beginners
Beste Nebendarstellerin: Octavia Spencer - The Help
Bestes Drehbuch: Woody Allen - Midnight in Paris
Beste Musik: Ludovic Bource - The Artist
Bester Song: "Masterpiece" - W.E. (Madonna)
Bester Animationsfilm: The Adventures of Tintin
Bester fremdsprachiger Film: A Separation (Iran)

Prognosen: 9 von 14 richtig

Sonntag, 15. Januar 2012

Golden Globes 2012 - Prognosen


Heute Abend werden die Golden Globes zum 69. Mal verliehen. Hier die Sieger zu tippen ist Jahr für Jahr schwieriger als bei den Oscars, da die Hollywood Foreign Press einen ganz eigenen Geschmack hat. Dennoch versucht man es immer wieder. Auf die TV-Awards soll hier verzichtet werden, da sich der Schreibende in diesen Kategorien überhaupt nicht auskennt.

Best Motion Picture, Drama
The Descendants 
The Help 
Hugo 
The Ides of March 
Moneyball 
War Horse

Prognose: The Descendants


Best Motion Picture, Musical or Comedy
50/50 
The Artist 
Bridesmaids 
Midnight in Paris 
My Week With Marilyn

Prognose: The Artist


Best Director
Woody Allen - Midnight in Paris 
George Clooney - The Ides of March 
Michel Hazanavicius - The Artist 
Alexander Payne - The Descendants 
Martin Scorsese - Hugo

Prognose: Martin Scorsese - Hugo


Best Actor, Drama
George Clooney - The Descendants 
Leonardo DiCaprio - J.Edgar 
Michael Fassbender - Shame
Ryan Gosling - The Ides of March 
Brad Pitt - Moneyball

Prognose: Brad Pitt - Moneyball


Best Actress, Drama
Glenn Close - Albert Nobbs 
Viola Davis - The Help 
Rooney Mara - The Girl With The Dragon Tattoo 
Meryl Streep - The Iron Lady 
Tilda Swinton - We Need To Talk About Kevin

Prognose: Meryl Streep - The Iron Lady


Best Actress, Musical or Comedy
Jodie Foster - Carnage 
Charlize Theron - Young Adult 
Kristin Wiig - Bridesmaids 
Michelle Williams - My Week With Marilyn 
Kate Winslet - Carnage

Prognose: Michelle Williams - My Week With Marilyn


Best Actor, Musical or Comedy
Jean Dujardin - The Artist 
Brendan Gleeson - The Guard 
Joseph Gordon Levitt - 50/50 
Ryan Gosling - Crazy Stupid Love 
Owen Wilson - Midnight in Paris

Prognose: Jean Dujardin - The Artist


Best Supporting Actress
Bérénice Bejo - The Artist
Jessica Chastain - The Help 
Janet McTeer - Albert Nobbs 
Octavia Spencer - The Help 
Shailene Woodley - The Descendants

Prognose: Shailene Woodley - The Descendants


Best Supporting Actor
Kenneth Branagh - My Week With Marilyn 
Albert Brooks - Drive 
Jonah Hill - Moneyball 
Viggo Mortensen - A Dangerous Method 
Christopher Plummer - Beginners

Prognose: Christopher Plummer - Beginners


Best Screenplay
The Artist 
The Descendants 
The Ides of March 
Midnight in Paris 
Moneyball 

Prognose: Moneyball


Best Foreign Language Film
A Separation (Iran)
The Flowers of War (China)
Le gamin au vélo (Belgien)
In the Land of Blood and Honey (USA)
La piel que habito (Spanien)

Prognose: A Separation 


Best Animated Feature Film
The Adventures of Tintin 
Arthur 
Christmas 
Cars 2 
Puss In Boots 
Rango 

Prognose: Rango


Best Original Score
Ludovic Bource - The Artist
Abel Korzeniowski - W.E.
Trent Reznor, Atticus Ross - The Girl With The Dragon Tattoo
Howard Shore - Hugo
John Williams - War Horse

Prognose: Ludovic Bource - The Artist



Best Original Song
"Hello Hello" - Gnomeo & Juliet  (Elton John)
"Lay Your Head Down" - Albert Nobbs (Sinéad O'Connor, Glenn Close)
"The Living Proof" - The Help (Mary J. Blige)
"The Keeper" - Machine Gun Preacher (Chris Cornell)
"Masterpiece" - W.E. (Madonna)

Prognose: "The Living Proof" - The Help

Freitag, 13. Januar 2012

Award Season: Critics Choice Awards


Einer der Höhepunkte der Award Season ist über die Bühne gegangen: Die Critics Choice Awards wurden vergeben. Zwar werden diese normalerweise nicht als allzu wichtigen Oscar-Indikator angesehen, können das Oscarrennen aber immerhin leicht in eine Richtung lenken, so wie es dieses Jahr wohl beim Kampf um den Besten Nebendarsteller der Fall sein wird. Christopher Plummers Sieg hier dürfte ihm eine Nomination bei den Academy Awards gesichert haben. Zudem empfiehlt sich Viola Davis weiterhin als Kandidatin für die beste Darstellerin. Und nach der Enttäuschung, für keinen Golden Globe nominiert worden zu sein, erobert The Muppets mit Bret McKenzie (Flight of the Conchords) die Song-Kategorie zurück. Vorne bleibt alles beim Alten: The Artist und The Descendants schwingen weiter obenauf.

Bester Film: The Artist
Beste Regie: Michel Hazanavicius - The Artist
Bester Hauptdarsteller: George Clooney - The Descendants
Beste Hauptdarstellerin: Viola Davis - The Help
Bester Nebendarsteller: Christopher Plummer - Beginners
Beste Nebendarstellerin: Octavia Spencer - The Help
Bestes Jungtalent: Thomas Horn - Extremely Loud & Incredibly Close
Bestes Ensemble: The Help
Bestes Originaldrehbuch: Woody Allen - Midnight in Paris
Bestes adaptiertes Drehbuch: Steven Zaillian, Aaron Sorkin - Moneyball
Beste Kamera: Janusz Kaminski - War Horse / Emmanuel Lubezki - The Tree of Life
Beste Ausstattung: Dante Ferretti, Francesco Lo Schiavo - Hugo
Bester Schnitt: Kirk Baxter, Angus Wall - The Girl with the Dragon Tattoo
Bestes Makeup: Harry Potter and the Deathly Hallows: Part 2
Beste Spezialeffekte: Rise of the Planet of the Apes
Bester Ton: Harry Potter and the Deathly Hallows: Part 2
Bester Animationsfilm: Rango
Bester Actionfilm: Drive
Beste Komödie: Bridesmaids
Bester fremdsprachiger Film: A Separation
Beste Dokumentation: George Harrison: Living in the Material World
Bester Song: Bret McKenzie: "Life's a Happy Song" - The Muppets
Beste Musik: Ludovic Bource - The Artist

Donnerstag, 12. Januar 2012

Drive

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Wer denkt, ein Film, in dem Autos eine wichtige Rolle spielen, kann nicht mehr als ein krachiges Actionvehikel Marke Hollywood sein, wird beim achten Film des Dänen Nicolas Winding Refn eine Überraschung erleben. Drive ist schlicht und ergreifend grossartiges Kino.

Zuerst hört man nur seine Stimme. 100'000 Strassen gebe es in Los Angeles, sagt der namenlose Protagonist (Ryan Gosling), und er fände immer die passende Route, was man ihm nach der Pre-Credit-Sequenz auch ohne weiteres glaubt. Am Steuer eines Autos, wo er Robert De Niros Rolle in Taxi Driver evoziert, ist der geheimnisvolle Einzelgänger ein Naturtalent. Sein Geld verdient er mit Stuntfahrten für Filmdrehs, Fluchtfahrten für Kriminelle sowie Autoreparaturen für seinen väterlichen Freund Shannon (Bryan Cranston). Eine neue Einnahmequelle wäre das Fahren von Rennautos, doch dazu muss Shannon erst den Geschäftsmann Bernie Rose (Albert Brooks) dazu überreden, einen anständigen Wagen zu bezahlen. Derweil freundet sich der schweigsame "Driver" mit seiner Nachbarin Irene (Carey Mulligan) und deren Sohn Benicio an. Als Irenes Mann Standard (Oscar Isaac) aus dem Gefängnis entlassen wird, wird er von Gangstern bedroht, woraufhin Driver seine Hilfe anbietet – nicht ahnend, dass er sich damit auf einen Höllentrip einlässt.

Eastwood'scher "Lone Man": Der Fahrer (Ryan Gosling, rechts) setzt sich gegen skrupellose Gangster zur Wehr.
Es steht ausser Frage, dass Regisseur Refn und Drehbuchautor Hossein Amini mit ihrer Romanadaption ein ganz besonderes Stück Film geschaffen haben. Schon von Anfang an wird klar, dass Drive mehr als ein Fliessband-Actionfilm ist. Es finden sich zwar einige spärlich eingesetzte Actionszenen, welche brillant gemacht sind und nie zum Selbstzweck verkommen, doch die Inszenierung zeichnet sich vor allem durch ihre Ruhe aus; die Einstellungen sind lang, die Dialoge der wortkargen Hauptfigur von Pausen durchsetzt. Zudem lässt Refn in seiner Erzählung, deren Spannungsbogen hervorragend konstruiert ist, auch Elementen wie Melancholie und bittersüsser Romantik ihren Raum. Insofern erinnert Drive, obwohl er stets ein eigenständiges Werk bleibt, an die Filme Don Siegels, Clint Eastwoods, Sam Peckinpahs oder John Fords. Ähnliche Assoziationen ergeben sich ob der Ausbrüche kompromissloser Gewalt, die besonders im zweiten Teil vermehrt auftreten. Nichts wird glorifiziert oder verherrlicht, vielmehr wirkt die entfesselte Härte dieser Szenen (Stichwort: Lift) eher abstossend, was mit der Technik Peckinpahs oder auch der eines Martin Scorsese vergleichbar ist.

Doch Drive ist nicht nur genial gemacht und konstruiert, sondern auch exzellent gespielt. Allen voran begeistert Ryan Gosling mit seiner unaufgeregten, subtilen, intensiven und äusserst vielschichtigen Darbietung als Inkarnation der sanftstimmigen, tragischen, manchmal ebenfalls namenlosen Figuren am Rande des Gesetztes, ganz in der Tradition von Eastwoods "Dirty" Harry Callahan oder seinem Man with No Name der Western Sergio Leones sowie Alain Delons Jef Costello in Jean-Pierre Melvilles Le samouraï. Nicht minder überzeuegnd sind Albert Brooks, Carey Mulligan und Bryan Cranston.

Es fällt schwer, Refns neuem Film verbal gerecht zu werden, schon deshalb, weil er sich kaum einordnen lässt. Drive ist, kurz gesagt, ein packendes und fesselndes Meisterwerk nach klassischer "körperlicher" Hollywood-Machart.

★★★★★★

Mittwoch, 11. Januar 2012

Throne of Blood

Verfilmungen von den Theaterstücken William Shakespeares gibt es viele. Während sich einige ganz genau an Originaltext und -setting halten (Kenneth Branaghs Henry V, Laurence Oliviers berühmte Trilogie, bestehend aus Hamlet, Richard III und Henry V), interpretieren andere den zeitlichen Hintergrund wie die Figurenkonstellation um (Titus und The Tempest von Julie Taymor). Doch nicht nur die amerikanische und europäische Filmindustrie hat viele bemerkenswerte Adaptionen von Werken des Barden hervorgebracht. Zwei der bekanntesten aus einem "exotischen" Land stammen vom japanischen Meisterregisseur Akira Kurosawa (Rashomon, Seven Samurai), oftmals als "Tenno", Kaiser, des Kinos bezeichnet. Ran wurde 1985 gedreht und ist ein Jidaigeki-Epos nach King Lear; Throne of Blood erschien 1957 und basiert auf Macbeth – beide wurden ins feudale Japan der Samurais transponiert. Kumonosu-jō, wie Letzterer im Original heisst, ist nicht nur eine der besten Shakespeare-Interpretationen, sondern auch ein Musterbeispiel für die Klasse von Kurosawas Filmkunst.

Es beginnt mit der starken, von den traditionellen Klängen Japans inspirierten Musik Masaru Satōs, die einem einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Das erste Bild ist unverkennbar eines von Kurosawa: eine karge, von Nebelschwaden verhangene Landschaft, im Hintergrund zeichnet sich ein Hügel ab, der Wind heult und ein gespenstischer Chor, begleitet von Satōs Score, führt mit einem Klagelied über Krieg, Verrat und Machtgier ein in die nachfolgende Geschichte. Die Generäle Yoshiaki Miki (Minoru Chiaki) und Taketoki Washizu (der legendäre Toshirō Mifune) haben einen Aufstand wider Erwarten niedergeschlagen und werden von Fürst Kuniharu Tsuzuki (Hiroshi Tachikawa) ins als unneinnehmbar geltende Schloss im Spinnwebwald gebeten. Auf dem Weg verlaufen sich die Freunde im dunklen Wald, welcher der Festung ihren Namen gibt, und stossen auf einen von Skeletten umgebenen Geist (Chieko Naniwa), der ihnen vorhersagt, beide Männer würden noch am selben Tag befördert – Miki zum Herrn der Ersten Feste, Washizu zum Vorsteher der nördlichen Befestigung – und Washizu würde in naher Zukunft sogar so weit aufsteigen, dass er Tsuzuki als Fürst des Spinnwebschlosses ablösen würde. Als die ersten Prophezeiungen tatsächlich eintreten, drängt Washizus Frau Asaji (Isuzu Yamada) ihren Ehemann dazu, Tsuzuki zu stürzen.

Chieko Naniwa als Waldgeist.
Einer der beachtlichsten Aspekte an Throne of Blood ist die Art, mit der hier drei unterschiedliche Theatertraditionen zusammengeführt werden. Die euopäische Grundlage trifft auf die fernöstlichen Kabuki- und Nō-Techniken, wodurch ein durch und durch harmonisches Ganzes entsteht. Die Geschichte weicht zwar in einigen Punkten von Shakespeares Original ab, bewahrt aber Sinn und Geist von Macbeth ohne jeglichen Verlust von Subtext. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Film kein eigenständiger ist. Im Gegenteil, das Motiv der Intrigen unter den herrschenden Kasten fügt sich hervorragend ins Feudalwesen des spätmittelalterlichen Japans ein, eines von Kurosawas bevorzugten Settings, welches hier mit grossartiger Ausstattung und elaborierten Kostümen rekonstruiert wird. Zudem ist Toshirō Mifune zweifelsfrei einer der stärksten Macbeths, die man je auf der Leinwand erleben durfte, auch wenn er hier Washizu heisst. Seine Performance ist nuanciert, kraftvoll und wahrhaft bedrohlich. In jeder Szene spiegeln seine sprichwörtlichen stechenden Augen Angst und Verunsicherung wider; jedoch werden diese Gefühle stets verschleiert, mal von Wut, mal von übertriebener Selbstsicherheit.

Die formalen Elemente wiederum, jedes einzelne, zeugen von der aussergewöhnlichen Gestaltungskraft des Regisseurs. Jede der meist langen Einstellungen von Kameramann Asakazu Nakai hat ihren Zweck und wirkt genauestens überlegt; die Ästhetik von Bildkomposition und Cadrage sind, wie üblich bei Kurosawa, unübertroffen; die Inszenierung ist magistral. Es wundert nicht, dass die ikonische, genial gemachte Schlussszene mit Washizu im Pfeilregen häufig zu den besten, weil eindringlichsten Todesszenen der Filmgeschichte gezählt wird. Überdies kreiert Throne of Blood mit seinen fesselnden Bildern und der brillanten Montage eine kraftvolle, gespenstische Atmosphäre. So erhalten vor allem die übernatürlichen sowie die übernatürlich anmutenden Szenen eine äusserst unheimliche Komponente – etwa wenn der Geist der Waldhexe, von Chieko Naniwa herausragend gespielt, seine Vorhersagen macht, sei es ruhig und scheinbar verträumt, worauf die Figur Boonsong in Apichatpong Weerasethakuls Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives zurückgreift, sei es wild und dämonisch wie in seinem letzten Auftritt; oder wenn der Spinnwebwald in einer der beeindruckendsten, obgleich einfachsten Einstellungen schlussendlich tatsächlich wandert.

Der Macbeth-Charakter Washizu (Toshirō Mifune) kurz vor seinem Tod.
Was ist ein Meisterwerk? Ist es eine originelle Geschichte, meisterhaft inszeniert und präsentiert? Ist es das einwandfreie, aber gleichzeitig unabhängige Verfilmen von grandiosem Quellenmaterial? Im Falle von Throne of Blood trifft beides zu. Ob es sich dabei um Akira Kurosawas Besten handelt, darüber liesse sich lange diskutieren; immerhin weist das Œuvre des Regisseurs zahlreiche weitere Filme auf ähnlich hohem Niveau auf – man denke an Seven Samurai, Ikiru oder Yojimbo. Für sich alleine ist Kumonosu-jō jedenfalls eine der bedeutendsten cineastischen Shakespeare-Adaptionen sowie eines der grossen Werke des Kinos selbst.

★★★★★★ 

Freitag, 6. Januar 2012

Poulet aux prunes

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud verfilmen nach dem begeisternden Persepolis (2007) erneut einen von Satrapis Comics – Poulet aux prunes –, diesmal als Realspielfilm. Dieser ähnelt seinem Vorgänger zwar in diversen Punkten, ist aber noch assoziativer und verträumter. Ein Hochgenuss.

"Yekii boud, yekii naboud". Es war einmal, es war keinmal. So beginnen im persischen Sprachraum die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Und als solches präsentiert sich auch Poulet aux prunes, die Geschichte von Nasser-Ali (Mathieu Amalric, der seine grossen, traurigen Augen optimal einzusetzen weiss), des begnadetsten Geigers seiner Zeit. Nach jahrelangem Umherstreifen in der Welt hat er sich, auf Drängen seiner Mutter (Isabella Rossellini) hin, mit Faranguisse (Maria de Medeiros) in Teheran niedergelassen und lebt nun mit ihr und den beiden gemeinsamen Kindern das Leben des iranischen Mittelstandes der 1950er-Jahre. Doch als Faranguisse seine Geige irreparabel zerstört und ihn überdies seine alte, wahre Liebe Irâne (Golshifteh Farahani) nicht mehr erkennt, beschliesst Nasser-Ali, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und darauf zu warten, dass ihn der Todesengel Azraël (Edouard Baer) ins Jenseits mitnimmt.

Was die Form angeht, so besteht der grösste Unterschied zwischen Poulet aux prunes und Persepolis im jeweiligen Fokus: Während Letzterer sich ganz und gar auf das Leben seiner Protagonistin konzentriert – es ist immerhin Marjane Satrapis Biografie –, ist das Motiv des Ersteren eindeutig der Tod. Nicht die Hauptfigur ist dieses Mal der Erzähler, sondern gleich Azraël selbst. Und dieser lässt auch gar keine Zweifel am Ausgang der Geschichte aufkommen; Nasser-Ali erwartet das Ende seines Daseins, welches nach acht Tagen auch wahrhaftig eintritt. Doch wesentlich ist nicht, was die Aussenwelt sieht; im Kopf von Nasser-Ali spielt sich noch einmal sein Leben ab, während der Todesengel einen Blick hinter die Kulissen wirft und verrät, was aus den Kindern des Geigers wird, ob Irâne sich wirklich nicht an ihn erinnert und was es eigentlich bedeutet zu sterben. So entsteht ein faszinierender Bewusstseinsstrom, der nicht linear verläuft, sondern sich an den zufälligen Assoziationen Nasser-Alis orientiert.

Heirat wider Willen: Stargeiger Nasser-Ali Khan (Mathieu Amalric) ehelicht Faranguisse (Maria de Medeiros).
Im Verlauf des Films wechseln sich dementsprechend die Trauer des Protagonisten über seine verflossene Liebe mit den wissenden Kommentaren Azraëls ab. Dazu passen natürlich jene herrlich schwarzhumorigen und skurrilen, ja fast schon surrealen Einschübe, die Satrapi so herausragend beherrscht, und die man auch in Poulet aux prunes nicht vergebens sucht. Diese mögen zwar in gezeichneter Form etwas besser funktionieren (auch wenn hier Panoramen und Hintergründe gezeichnet sind) – man denke an das himmlische Zusammentreffen von Gott und Karl Marx in Persepolis. Doch etwaige Einwände dürften sich spätestens nach der "amerikanischen" Szene – einem veritablen Kulturschock, auch fürs Publikum – verflüchtigt haben.

Aber trotz aller Komik ist Poulet aux prunes primär ein todtrauriges, wunderschönes und subtil-poetisches Märchen, wie man es tatsächlich aus Tausendundeiner Nacht zu kennen glaubt. Nach dem stark politischen Persepolis laden Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud zur orientalischen Traumstunde. Es lohnt sich, der Einladung Folge zu leisten.

★★★★★

Dienstag, 3. Januar 2012

Das Jahr 2011

Die Liste wird, wenn der eine oder andere Film nachgeholt ist, selbstverständlich aktualisiert.