Wenn
der vielleicht mächtigste Mensch in Washington D.C. zur Audienz
lädt, dann wird der Einladung Folge geleistet. Agent Smith (Ed
Westwick) wird von der Sekretärin, Miss Gandy (von Naomi Watts mit
bewundernswerter Subtilität gespielt), hereingebeten und setzt sich
mit seiner Schreibmaschine ins Büro von J. Edgar Hoover (Leonardo
DiCaprio). Dieser breitet nun sein Leben vor dem jungen Biografen
aus. Von den Anfängen um 1920, als Hoover gegen kommunistische
Terrorgruppen, die das Land in Angst und Schrecken versetzten,
vorging; über seine Berufung zum Direktor des Bureau of
Investigation, seine Frustration ob der Machtlosigkeit dieser
Institution; bis hin zur Allmacht des FBI-Chefs, der, immer mehr der
Paranoia anheim fallend, belastende Akten über Eleanor Roosevelt und
Martin Luther King anlegt, um das Land vor allerlei Gefahren zu
schützen. Doch auch Privates dringt hindurch: Hoover erinnert sich
an die Beziehung zu seiner Mutter (eine herausragende Judi Dench),
die ihm das Stottern abgewöhnte und ihn zu Höherem berufen sah; an
die enttäuschte Liebe zu Ellen Gandy, die ihr Leben ihrem Beruf
widmet und sogar über Hoovers Tod hinaus an ihrer Loyalität ihm
gegenüber festhält; und an die Einstellung Clyde Tolsons (Armie
Hammer), der zu seinem engsten Vertrauten werden sollte.
Man ist
anfangs fast ein bisschen überfordert mit dem Erzählstil, den
Dustin Lance Black (Milk)
seinem Drehbuch auferlegt hat. Nach und nach jedoch weiss man sich
nicht nur darauf einzulassen, sondern auch die Kreativität dahinter
wertzuschätzen. Blacks Titelfigur ist ein alter Mann, der
zurückblickt und sich wenig um lineare Abläufe kümmert, vielmehr
verbindet er Details – einen Satz, eine Abschweifung, einen Blick
aus dem Fenster – miteinander und gewährt so Einblick in sein
bewegtes Leben. Hoover ist Dreh- und Angelpunkt von J.
Edgar und in dieser Funktion
brilliert auch Leonardo DiCaprio. Eine dermassen überlebensgrosse
Figur zu spielen, kann für manchen Schauspieler katastrophal enden,
aber bei DiCaprio funktioniert alles. Er imitiert Hoover nicht, er
fühlt sich in ihn hinein, sodass er zu jeder Zeit menschlich bleibt,
selbst unter dem dicken, dennoch recht gut gelungenen, Altersmakeup –
jenes von Armie Hammer ist leider weniger überzeugend. DiCaprio
verzichtet auf jegliches Chargieren, obwohl es dazu verleitende
Szenen reichlich gäbe, sondern bleibt seiner zurückhaltenden,
intimen Darstellung konsequent treu. Die Genialität der Performance
zeigt sich allein schon in der stimmlichen Darbietung: Wirkt seine
übertrieben genaue Aussprache auf einige Zuschauer zu Beginn
womöglich gestellt, merkt man schon bald, dass dies ein essentieller
Teil seiner Rolle ist. Als "geheilter" Stotterer ist jede
von Hoovers Äusserungen genau kalkuliert, aus Angst, es ertappe ihn
jemand dabei, bei einem Wort stecken zu bleiben.
FBI-Chef J. Edgar Hoover (Leonardo DiCaprio, rechts) und sein Assistent Clyde Tolson (Armie Hammer) |
Diese Tragödie, eine Mischung aus überdimensioniertem Ego,
Geltungssucht und Selbstverleugnung, zieht sich wie ein roter Faden
durch den ganzen Film. Eastwood und Black entschieden sich
klugerweise dagegen, Partei für oder gegen ihre Hauptfigur zu
beziehen. Sie konzentrieren sich auf Hoovers Kampf mit sich selber,
die Unvereinbarkeit seiner unterdrückten privaten Seite mit seinem
Ideal, sein Leben in den Dienst seines Landes und nur seines Landes
zu stellen, selbst dann, als er in Clyde Tolson die Liebe seines
Lebens findet. So entsteht das Bild eines Mannes, dessen Leben zwar
oberflächlich von Triumphen bestimmt wurde, im Grunde genommen aber
tragischer nicht hätte sein können. Im Zentrum steht dabei Hoovers
Unfähigkeit, sich seine Homosexualität einzugestehen und seine
Überzeugung, der einzige Amerikaner zu sein, der seinem
patriotischen Auftrag vollumfänglich gerecht wird; selbst der
paranoideste und perfideste aller Kommunistenjäger, Senator Joseph
McCarthy, wird als Opportunist abgekanzelt. Dem Film gelingt
es dabei vorzüglich, die durch kluge Selbstdarstellung entstandenen
Legenden mit der oftmals nur leicht abgeänderten, weniger gloriosen
Wahrheit zu kontrastieren.
Doch J. Edgar weiss auch, dass Hoover für eine transformative
Periode in der amerikanischen Geschichtsschreibung steht. Muss der
junge Staatsangestellte anfangs noch darum kämpfen, dass die älteren
Polizei-Semester Tatorte unberührt lassen und nach Fingerabdrücken
suchen, sieht er sich als alter FBI-Boss als Auslaufmodell, der immer
noch in Gewerkschaften und Universitäten nach bolschewistischen
Aufrührern suchen will. Dazwischen liegen 50 Jahre, in denen er sich
mit ausländischen Subversiven, den zu Volkshelden emporgejubelten
Gangstern der Weltwirtschaftskrise, der Entführung von Charles
Lindberghs Sohn und der Bürgerrechtsbewegung befassen muss und dazu
Präsident um Präsident, Ideologie um Ideologie vorbeiziehen sieht.
Es steht ausser Frage, dass Clint Eastwood hier seine
Kindheitserinnerungen an den "Super G-Man" der Dreissiger-
und Vierzigerjahre einfliessen liess. Hinzu kommen eine stimmige
Austattung und Tom Sterns wie gewohnt fantastische Kamera, die einen
visuell durch dieses wichtige Kapitel der US-Historie geleitet.
DiCaprio als gealterte Ikone im Zwielicht. |
Clint Eastwoods neuer Film, Nummer 32, trägt unverkennbar die
Handschrift seines Regisseurs. Der chaotisch anmutende, aber
innerlich äusserst stringente J. Edgar wird schnörkellos
vorgetragen, ist meisterhaft inszeniert und zeichnet sich durch
Unaufgeregtheit und Abgeklärtheit aus. Die Legenden, die sich um J.
Edgar Hoover ranken, werden kritisch beleuchtet, aber nicht
demontiert; der Mann selbst wird als herrische, unsichere, das eigene
Mysterium tunlichst aufrechterhaltende, tragische Figur gezeigt. Aber
eben doch als Mensch.
★★★★★☆
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