Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Mit seinem neuen Film drehte das belgische Brüderpaar Jean-Pierre
und Luc Dardenne, nach eigener Angabe, für einmal keinen
gesellschaftskritischen Film, sondern ein modernes Märchen. Dennoch
fügt sich Le gamin au vélo problemlos ins bisherige Werk der
Dardennes ein.
Der kleine Cyril (Thomas Doret), ungefähr zwölf Jahre alt, lebt in
einem Kinderheim, in welches ihn sein Vater, Guy (Jérémie Renier),
abgeschoben hat. Zwar wurde dem Jungen gesagt, das Ganze sei nur "temporär", doch sein alter Herr macht bislang keine Anstalten,
ihn zu sich zu holen. Im Gegenteil, er hat sogar Cyrils geliebtes
Fahrrad verkauft, Wohnung und Telefonnummer gewechselt und
beschlossen, ein neues Leben anzufangen – ein Leben, in dem sein
Sohn nicht figuriert. Mit dieser harten Realität konfrontiert, sucht
sich Cyril andere Bezugspersonen. So findet das psychisch labile Kind
in der Coiffeuse Samantha (Cécile de France) eine fürsorgliche
Ersatzmutter, deren Bemühungen aber allzu oft nicht gewürdigt
werden, und im Kleinkriminellen Wes (Egon Di Mateo) ein zweifelhaftes
männliches Vorbild, welches ihn allerdings bloss für einen seiner
Fischzüge einzuspannen versucht.
Wenn Le gamin au vélo ein grundsätzliches Problem hat, dann
ist das zweifellos seine Hauptfigur. An Thomas Doret liegt es nicht;
dieser liefert eine für sein Alter herausragende Performance, die
sich durch Nuancen und Differenzierung auszeichnet. Ebenso ist Cyril
ein sehr sorgfältig ausgearbeiteter Charakter, dessen
Vielschichtigkeit erst nach und nach zum Vorschein kommt. Nein, das "Problem" an ihm, wenn man so will, ist sein hochgradig asoziales
Verhalten. Obwohl dies zur Geschichte passt und immer wieder für
spannende Konflikte sorgt, ist es schwer, sich der Figur emotional
verbunden zu fühlen, anders als beispielsweise in François
Truffauts thematisch ähnlichem Klassiker Les quatre cents coups
(1959). Zwar wirkt sich dies niemals so gravierend auf den Filmgenuss
aus wie etwa in Rolando Collas Giochi d'estate, baut aber doch
eine gewisse Distanz zwischen Zuschauer und Film aus, die nie ganz
überwunden werden kann.
Zusammen ist man weniger allein: Der vom Vater vernachlässigte Cyril
(Thomas Doret) findet in Samantha (Cécile de France) eine
Ersatzmutter.
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Trotzdem weiss Le gamin au vélo zu gefallen. Die Dardennes
(La promesse, Le fils) mögen hier eine ihrer
Regie-Maximen brechen – erstmals wird, wenn auch sehr sparsam, so
etwas wie Musikuntermalung verwendet –, doch ansonsten bleiben sie
ihrem naturalistischen Stil mit seiner asketischen, an die Filme
Robert Bressons gemahnenden Strenge treu. Sie folgen dem Alltag ihrer
Charaktere, ohne auf Dramaturgie aus zu sein; der ganze Film wirkt
angenehm ungezwungen und episodisch. Gefilmt wurde, wie bei den
Brüdern üblich, mit viel natürlichem Licht und einer Handkamera,
von Alain Marcoen bravourös geführt, die mit den Figuren mitwandert
– oder -rennt – und den unruhigen Gemütszustand aller
Beteiligten trefflich unterstreicht.
Selbst wenn das Herz des Kinogängers nicht wirklich warm wird mit
dem Bengel ("gamin") Cyril, ist seine Geschichte sehens- und
bedenkenswert. Die Dardennes beweisen einmal mehr ihr scharfes Auge
für Details, physische wie psychische, und erzählen mit Le gamin
au vélo ein interessantes, weil ambivalentes, und ausnehmend gut
gemachtes Märchen aus dem politisch gebeutelten Belgien. Und da wäre
sie dann doch, die gesellschaftskritische Komponente.
★★★★½
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