Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud verfilmen nach dem
begeisternden Persepolis (2007) erneut einen von Satrapis
Comics – Poulet aux prunes –, diesmal als Realspielfilm.
Dieser ähnelt seinem Vorgänger zwar in diversen Punkten, ist aber
noch assoziativer und verträumter. Ein Hochgenuss.
"Yekii
boud, yekii naboud". Es war einmal, es war keinmal. So beginnen im
persischen Sprachraum die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Und als
solches präsentiert sich auch Poulet aux prunes, die
Geschichte von Nasser-Ali (Mathieu Amalric, der seine grossen,
traurigen Augen optimal einzusetzen weiss), des begnadetsten Geigers
seiner Zeit. Nach jahrelangem Umherstreifen in der Welt hat er sich,
auf Drängen seiner Mutter (Isabella Rossellini) hin, mit Faranguisse
(Maria de Medeiros) in Teheran niedergelassen und lebt nun mit ihr
und den beiden gemeinsamen Kindern das Leben des iranischen
Mittelstandes der 1950er-Jahre. Doch als Faranguisse seine Geige
irreparabel zerstört und ihn überdies seine alte, wahre Liebe Irâne
(Golshifteh Farahani) nicht mehr erkennt, beschliesst Nasser-Ali,
sich in sein Zimmer zurückzuziehen und darauf zu warten, dass ihn
der Todesengel Azraël (Edouard Baer) ins Jenseits mitnimmt.
Was die Form angeht, so besteht der grösste Unterschied zwischen Poulet aux prunes und Persepolis im jeweiligen Fokus:
Während Letzterer sich ganz und gar auf das Leben seiner
Protagonistin konzentriert – es ist immerhin Marjane Satrapis
Biografie –, ist das Motiv des Ersteren eindeutig der Tod. Nicht
die Hauptfigur ist dieses Mal der Erzähler, sondern gleich Azraël
selbst. Und dieser lässt auch gar keine Zweifel am Ausgang der
Geschichte aufkommen; Nasser-Ali erwartet das Ende seines Daseins,
welches nach acht Tagen auch wahrhaftig eintritt. Doch wesentlich ist
nicht, was die Aussenwelt sieht; im Kopf von Nasser-Ali spielt sich
noch einmal sein Leben ab, während der Todesengel einen Blick hinter
die Kulissen wirft und verrät, was aus den Kindern des Geigers wird,
ob Irâne sich wirklich nicht an ihn erinnert und was es eigentlich
bedeutet zu sterben. So entsteht ein faszinierender
Bewusstseinsstrom, der nicht linear verläuft, sondern sich an den
zufälligen Assoziationen Nasser-Alis orientiert.
Heirat wider Willen: Stargeiger Nasser-Ali Khan (Mathieu Amalric)
ehelicht Faranguisse (Maria de Medeiros).
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Im Verlauf des Films wechseln sich dementsprechend die Trauer des
Protagonisten über seine verflossene Liebe mit den wissenden
Kommentaren Azraëls ab. Dazu passen natürlich jene herrlich
schwarzhumorigen und skurrilen, ja fast schon surrealen Einschübe,
die Satrapi so herausragend beherrscht, und die man auch in Poulet
aux prunes nicht vergebens sucht. Diese mögen zwar in
gezeichneter Form etwas besser funktionieren (auch wenn hier
Panoramen und Hintergründe gezeichnet sind) – man denke an das
himmlische Zusammentreffen von Gott und Karl Marx in Persepolis.
Doch etwaige Einwände dürften sich spätestens nach der "amerikanischen" Szene – einem veritablen Kulturschock, auch
fürs Publikum – verflüchtigt haben.
Aber trotz aller Komik ist Poulet aux prunes primär ein
todtrauriges, wunderschönes und subtil-poetisches Märchen, wie man
es tatsächlich aus Tausendundeiner Nacht zu kennen glaubt. Nach dem
stark politischen Persepolis laden Marjane Satrapi und Vincent
Paronnaud zur orientalischen Traumstunde. Es lohnt sich, der
Einladung Folge zu leisten.
★★★★★☆
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