Matt King (George Clooney) ist um die 50, Anwalt, Ehemann, Vater und
lebt auf Hawaii. Nicht unerheblicher Reichtum liegt in Griffweite, da
seine weit verzweigte, vom hawaiianischen König Kamehameha I.
abstammende Familie, angeführt von Cousin Hugh (Beau Bridges, Jeffs
älterer Bruder), kurz davor steht, ein riesiges Stück Land auf
einer der Inseln des Archipels zu verkaufen. Man könnte denken, dass
Matt dies zu einem rundum zufriedenen Menschen machen würde. Aber
weit gefehlt: Gattin Elizabeth liegt nach einem Bootsunfall im Koma,
was bedeutet, dass er sich erstmals seit Jahren richtig um seine
Töchter, die aufsässige Zehnjährige Scottie (Amara Miller) und die
exzessiv mit Alkohol und Drogen experimentierende Alexandra (Shailene
Woodley), 17, kümmern muss. Diese Aufgabe wird zusätzlich
verkompliziert, als ihm die Ärzte mitteilen, dass Elizabeth mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie mehr aufwachen wird und
die lebenserhaltenden Gerätschaften in den nächsten Tagen
abgeschaltet würden. Und ausgerechnet jetzt gesteht ihm Alexandra,
dass sie ihre Mutter beim Fremdgehen erwischt habe.
Im kollektiven Bewusstsein spielt Hawaii die Rolle des immer
sonnigen, immer warmen Pazifikparadieses, auf welchem sicherlich die
glücklichsten Erdenbewohner leben. Mit dieser Einstellung rechnet
Matt gleich zu Beginn des Films ab: Ob nun die Sonne scheint oder
nicht, auch Hawaiianer können arbeitslos, missmutig oder sogar
krebskrank sein. "Paradise can go fuck itself", in Matts
Worten. Und The Descendants wird dieser hyperrealistischen
Sichtweise durchwegs gerecht; das Inselidyll wirkt, auch dank der
exzellenten Beleuchtung und der Kamera Phedon Papamichaels,
ausgewaschen, matt, verlebt. So lässt sich auch das Familienleben
der Kings beschreiben, dessen viele Facetten von Alexander Payne und
seinen Co-Autoren Jim Rash und Nat Faxon vorzüglich aufgezeigt
werden. Die Familie, ohnehin dysfunktional, wird mit der
promiskuitiven, aber nun fatalerweise bewusstlosen Mutter auf eine
harte Probe gestellt. Die dabei entstehenden Dynamiken, die lange
schwelenden und jetzt zu Tage tretenden Konflikte werden zu einer
spannenden Geschichte verknüpft, bei welcher die
Charakterentwicklung im Vordergrund steht. Matt muss sich damit
abfinden, in Zukunft allein erziehender Vater zu sein, was aber durch
die Tatsache, dass seine Töchter ihn nicht als Autoritätsfigur
akzeptieren – Alexandra quittiert harsche Worte und
Gesprächsversuche mit Achselzucken und einem "Whatever...",
während für Scottie ihr alter Herr nur ein temporäres
Ersatzelternteil darstellt – erheblich erschwert wird. Dem
Zuschauer wachsen alle diese nachvollziehbaren, weil unvollkommenen,
und ausgezeichnet ausgearbeiteten, Figuren nach und nach ans Herz, sodass
ein genuines Interesse daran besteht, wohin die Familienkrise
schliesslich mündet.
Matt King (George Clooney) mit einer seiner Töchter, Alexandra (Shailene Woodley). |
Grossen Anteil an dieser Überzeugungskraft haben
die Darsteller, besonders Shailene Woodley, die in der sich dem
Erwachsenwerden stellenden Alexandra ungeahnte Tiefen entdeckt, und
George Clooney, der als Matt King wohl seine Karriere-Bestmarke
erreicht. Selten sah man den "Sexiest Man Alive" so
verletzlich und so unsicher wie hier. Es ist ein unglaublicher
Balanceakt, den er als Charakter wie als Schauspieler vollführen
muss; er muss seine Wut über die Affäre seiner im Sterben liegenden
Frau mit der der Situation angemessenen Trauer vereinbaren. Kein
Wunder, dass sich eine der stärksten Szenen von The
Descendants zwischen ihm und Elizabeth
abspielt. Sie liegt reglos im Koma, er tigert aufgebracht und
gekränkt, aber gleichzeitig auch tief getroffen und verzweifelt im
Krankenhauszimmer herum, seine Frau anklagend und beschimpfend. "What
do you have to say for yourself?", fragt er sie zum Schluss,
natürlich ohne eine Antwort zu erhalten. Matt hasst seine
Lebenspartnerin in diesem Moment, aber der irrationale Wunsch, ein
derartiger Angriff würde sie wieder ins Leben zurückholen, tritt
dennoch zu Tage. Darin zeigt sich nicht nur die Klasse von Clooneys
Performance, sondern auch die andere grosse Stärke des Films: Matts
Tirade ist zwar dermassen absurd, dass man sich eines Lächelns nicht
erwehren kann; aber kaum wird einem die ganze Tragweite der Szene
bewusst, offenbart sich einem ihre enorme Tragik. Praktisch jeder der
fein eingesetzten, teils geradezu sardonischen Lacher, welche
entweder die Absurdität gezwungener Interaktion zelebrieren oder das
Prinzip "De mortuis nihil nisi bene" hinterfragen,
hinterlässt einen kleinen Stich; die "unschuldigeren",
etwa diejenigen über die Naivität von Alexandras Freund Sid (der
herrliche Nick Krause), kommen einer Katharsis gleich. Billige Witze
gibt es nicht.
Überhaupt ist The
Descendants zu gleichen Teilen ein Film
der Gegensätze und der Verluste – physische wie Elizabeths sich
abzeichnender Tod oder der Verkauf des sich seit 200 Jahren im
Familienbesitz befindenden Landstücks auf der einen, psychische wie
Matts Neuausrichtung seiner Vaterrolle oder Alexandras Einsicht, ab
sofort Verantwortung übernehmen zu müssen auf der anderen Seite.
Die Wünsche und Hoffnungen der Protagonisten werden mit der harschen
Realität konfrontiert: der Versuch der Kings, Normalität walten zu
lassen trotz der familiären Katastrophe; und, nicht zuletzt, das
trotz seiner Urbanität immer noch von pazifischer Schönheit
geprägte Hawaii mit der grundsätzlich traurigen Geschichte. Das
Ende derselben ist seinerseits ein Geniestreich Paynes. Mit einer
einzelnen, relativ langen Einstellung führt er seinen Film zu einem
versöhnlichen, in seiner beinahe Kaurismäki'schen Einfachheit
genialen Schluss. Einerseits wird dabei eines der Filmgebote des
grossen Billy Wilder – dem Zuschauer muss am Ende eine Richtung
angedeutet werden – in Perfektion berücksichtigt; andererseits
fasst dieses eine Bild, welches manch ein Kinogänger wohl als
komödiantischen Nachsatz missdeuten könnte, den ganzen Film
hervorragend zusammen – und das nicht mit einem abschliessenden
Dialog, sondern bloss mit einem letzten prüfenden Blick auf die
Figuren, mit denen man in den vorangegangenen 115 Minuten
mitgefiebert und -gelitten hat.
Familienausflug: Matt, Scottie (Amara Miller) und Alexandra und ihr Freund Sid (Nick Krause) am Strand. |
★★★★★★
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