Samstag, 25. Februar 2012

Extremely Loud & Incredibly Close

Etwas mehr als zehn Jahre nach den Ereignissen des 11. Septembers 2001 ist in den USA die Erinnerung an die Angriffe auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington immer noch frisch, das Trauma noch längst nicht überwunden. Entsprechend sensibel reagieren gewisse Amerikaner auf fiktionalisierte Erzählungen, welche sich mit 9/11 auseinandersetzen; so klagte der grosse Literat John Updike Jonathan Safran Foers Roman Extremely Loud & Incredibly Close (2005) an, eine globale Tragödie für seine eigenen Zwecke zu missbrauchen. Von ähnlichen Stimmen wird nun auch das Erscheinen der Kinoadaption des Buches begleitet. Über Sinn und Unsinn dieser Diskussion lässt sich endlos debattieren; Tatsache ist, dass der neue Film von Erfolgsregisseur Stephen Daldry (Billy Elliot, The Reader) zwar mit den Verfehlungen der Vorlage zu kämpfen hat, sich aber als emotional stichhaltiges Drama um den Verlust eines Familienangehörigen aus der Sicht eines Kindes präsentiert.

Ein Jahr ist vergangen, seit Thomas Schell (Tom Hanks) bei den 9/11-Terroranschlägen ums Leben kam. Während seine Frau (Sandra Bullock) sich alle Mühe gibt, wieder ins Leben zurückzufinden, wird ihr scheuer Sohn Oskar (Thomas Horn), der möglicherweise am Asperger-Syndrom leidet, zunehmend verschlossener und unberechenbarer. Als dieser sich eines Tages im Schrank seines geliebten Vaters umsieht, entdeckt er in einem mit "Black" beschriebenen Umschlag einen kleinen Schlüssel. Da ihn Thomas früher immer auf Schnitzeljagden durch New York schickte – immer mit dem Ziel, ihn dazu zu bringen, sich mit Menschen zu unterhalten –, folgert Oskar, der Schlüssel würde dem Tod seines Vaters irgendeinen Sinn geben. Also macht er sich auf, alle 472 in der Stadt lebenden Blacks zu finden, wie das sich entfremdende Ehepaar Abby (Viola Davis) und William Black (Jeffrey Wright). Auf seiner Reise begegnet ihm auch der mysteriöse "Renter" (Max von Sydow), der namenlose Untermieter von Oskars Grossmutter, der kein Wort spricht und sich nur mittels Notizzetteln und auf seine Handflächen tätowierten Wörtern – "Yes" auf der einen, "No" auf der andern – mitteilt.

Glückliche Zeiten: Thomas Schell (Tom Hanks) mit seinem Sohn Oskar (Thomas Horn).
Wer sich Extremely Loud & Incredibly Close zu Gemüte führt, wird sich selbst unweigerlich mit einigen kritischen Fragen bezüglich der Prämisse konfrontiert sehen. Warum muss Thomas am 11. September sterben, wenn ein Autounfall oder ein "regulärer" Flugzeugabsturz die Geschichte nicht massgeblich verändert hätten? Verliert der Film nicht an Realitätsbähe und Identifikationspotential, wenn die Hauptfigur kein normaler Zehnjähriger, sondern ein überbegabter kleiner Erwachsener, also durch und durch ein Kunstprodukt, ist? Dies sind Fragen, die wohl nur der Buchautor beantworten könnte, da eine werkgetreue Filmadaption mit diesen problematischen Grundvoraussetzungen wohl oder übel operieren muss. Diese arbeiteten Stephen Daldry und Autor Eric Roth, der sich in Hollywood mittlerweile als Experte für ebenso gefühlvolle wie skurrile Reisen etabliert hat – die Drehbücher zu Forrest Gump und The Curious Case of Benjamin Button stammen aus seiner Feder –, jedoch sehr elegant in ihre Verfilmung ein. Der Fokus liegt nicht auf 9/11 und die Beziehung zu Oskar ist, wenn nicht gerade innig, immerhin stabil genug, um mit ihm letzten Endes mitzufühlen. Auch ist es dem Film hoch anzurechnen, dass Kitsch und Rührseligkeit – immer schon eine kleine Schwäche Roths –, weitestgehend ausgewichen und stattdessen die emotionale Entwicklung seines Hauptcharakters betont wird. Dies geht löblicherweise so weit, dass die Kinderperspektive bis zum Schluss konsequent erhalten bleibt, sodass am Ende einige Fragen unbeantwortet bleiben, was allerdings nicht störend wirkt, sondern sich sehr harmonisch in die Erzählung einfügt.

Dennoch lassen Skript und Inszenierung in einigen formalen Punkten etwas zu wünschen übrig. Roth begnügt sich allzu oft damit, sein Quellenmaterial verbatim wiederzugeben, was zu einigen schmerzlichen Szenen führt, in welchen die Protagonisten, insbesondere Sandra Bullocks Linda Schell, gezwungen sind, künstliche Platitüden herunterzubeten ("Why do you want to come in here?" – "Because I want to tell you I love you"), die, richtig eingesetzt, auf Papier wohl einigermassen funktionieren, gesprochen ihre Wirkung aber verfehlen. Daldry hingegen, obwohl nicht nur ein erfolgreicher, sondern fraglos auch enorm begabter Regisseur, bekundet ungewohnte Probleme damit, seinem Film einen einheitlichen dramaturgischen Rahmen zu geben. Dass etwa diverse Passagen während der ersten Stunde, passend zu Oskars aufgewühltem Seelenzustand, in Hochgeschwindigkeit abgespielt werden, verliert stetig an Reiz, bis sich das Gefühl einer sich ewig wiederholenden Montagesequenz einstellt. Dadurch entsteht eine unangenehm verkrampfte, übertrieben ernste Atmosphäre, welche das Interesse des Zuschauers an Oskars Schicksal zu untergraben droht.

Ein stummer Begleiter: Der namenlose "Renter" (Max von Sydow) hilft Oskar bei seiner Suche.
Und genau in diesen Minuten erweist sich der Auftritt der Figur des geheimnisvollen Mieters als Retter in der Not. Kaum betritt Max von Sydow die Leinwand, entspannt sich die ganze Angelegenheit merklich; der Film wird lockerer; das bis dato eher lauwarme Verhältnis des Zuschauers zum Geschehen wird intensiver. An Renter an sich liegt dies nicht unbedingt, da auch dieser ein recht unrealistisches Konstrukt ist; es ist vielmehr die zurückhaltend-subtile, äusserst berührende und von feinem Witz durchsetzte Darbietung von Sydows, welche Extremely Loud & Incredibly Close davor bewahrt, in der eigenen Melancholie zu ertrinken. Ohne ein einziges Wort von sich zu geben, spielt der 82-jährige Starmime aus Schweden seine Kollegen mühelos an die Wand, obwohl diese ebenfalls beachtliche Leistungen erbringen, besonders Viola Davis und Jeffrey Wright. Jungschauspieler Thomas Horn wiederum, der nach seinem Sieg in der Kinderausgabe der Spielshow Jeopardy! von Produzent Scott Rudin angeheuert wurde, verdient sich durch die Art, seinen altklugen Text in einem nervigen Halbflüsterton vorzutragen, keine Sympathiepunkte, schlägt sich aber wacker für einen 14-Jährigen ohne Schauspielerfahrung.

Extremely Loud & Incredibly Close ist weder eine virtuose Aufarbeitung des amerikanischen 9/11-Traumas, noch ein schamloses Ausnützen der Tragödie. Den grössten Vorwurf, den man dem Film in dieser Hinsicht machen kann, ist der, dass er auch gut und gerne ohne den reisserisch anmutenden Hintergrund auskäme. Ansonsten ist Stephen Daldrys vierte Regie-Arbeit ein nicht allzu bemerkenswertes Drama, welches vor allem dank einer soliden Entwicklungsgeschichte und einer sensationellen Performance Max von Sydows in guter Erinnerung bleibt.

★★★★

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