Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Altmeister Martin Scorsese, dessen Werke sich oft durch einen rauen
Ton und brutale Gewalt auszeichnen, drehte mit Hugo seinen
ersten Familienfilm. Dieser mag formal unvollkommen sein, strotzt
aber vor Begeisterung und Liebe, denn es geht um Scorseses grosse
Leidenschaft: das Kino.
Paris, 1930: Der Waisenjunge Hugo Cabret (Asa Butterfield) lebt
alleine in einem grossen Bahnhof und kümmert sich ums Funktionieren
der dortigen Uhren. In seiner Freizeit versucht er, einen Roboter,
den sein mittlerweile verstorbener Vater (Jude Law) einst in einem
Museum fand, zu reparieren. Die dazu benötigten Teile stiehlt er aus
dem Spielzeugladen des mürrisch-melancholischen Georges (Ben
Kingsley). Als dieser den jungen Dieb endlich auf frischer Tat
ertappt, nimmt er dessen Tüftler-Notizbuch an sich und droht, es zu
verbrennen. Das kann Hugo selbstverständlich nicht zulassen, also
folgt er Georges nach Hause, wo er dessen Patentochter Isabelle
(Chloë Moretz) kennenlernt. Die beiden Kinder freunden sich schnell
an; sie zeigt ihm im Buchladen von Monsieur Labisse (die 90-jährige
Schauspielerlegende Christopher Lee) die Freuden der Literatur,
während er sie ins Kino mitnimmt und ihr sogar seinen defekten
Roboter zeigt. Wider Erwarten ist Isabelle in der Lage, diesen zu
starten. Sogleich wird klar, dass die Maschine der Schlüssel zu
Georges' sorgfältig gehüteter Vergangenheit ist.
Lernen vom Meister: Hugo (Asa Butterfield) erkennt langsam, dass
Georges (Ben Kingsley) mehr als nur ein mürrischer Ladenbesitzer
ist.
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Hugo
als blosses Kindermärchen einzustufen, wäre zu kurz gegriffen. Zwar
steht ausser Frage, dass Kinder ihre Freude an Aspekten wie Dante
Ferrettis bunter Ausstattung, dem elegant gehandhabten 3-D und den
Missgeschicken des übereifrigen Stationsvorstehers (Sacha Baron "Borat" Cohen) – eine Reminiszenz an Peter Sellers' Inspector
Clouseau aus den Pink Panther-Filmen? – haben werden. Doch
Scorseses vorrangiges Zielpublikum sind Filmliebhaber und
-aficionados; in seinem Kern ist der Film in erster Linie eine
Verneigung vor seinem Medium und eine Art cineastisches Aufklappbuch.
Als Aufhänger dienen dazu nicht nur zahllose feine Anspielungen auf
Klassiker – von Modern Times und Intolerance über Metropolis bis zu La bête humaine –, sondern vor allem
die Figur des Georges, bei welchem es sich um keinen Geringeren als
Georges Méliès handelt, den Erfinder und Pionier des narrativen
Kinos, der um die Jahrhundertwende frühe Meisterwerke wie Le
voyage dans la lune (1902) oder Le voyage à travers
l'impossible (1904) drehte, diese Berufung aber aufgrund neuer
Publikationsstrategien und mangelnden Publikumszuspruchs während des
Ersten Weltkrieges aufgeben musste.
Die
schwärmerische, die Werke Frank Capras evozierende Geschichte,
welche Drehbuchautor John Logan basierend auf einem Roman von Brian
Selznick um diese Verneigung vor Méliès herum aufgezogen hat, ist
zwar eindeutig nicht Scorseses Terrain, doch das Herzblut des
Regisseurs ist in jeder virtuosen Einstellung spürbar – und dieses
ansteckende Feuer für die Thematik hat zur Folge, dass der Film
besser ist als die Summe seiner Einzelteile. Mit seinen vielen
magischen Momenten erinnert Hugo daran, dass das Kino nichts
anderes als ein Ort der Magie ist, wo Kreativität und
Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt sind, und dass der Idee,
Bewegung auf eine Rolle Film zu bannen, von Anfang an etwas
grundsätzlich Revolutionäres innewohnte.
★★★★★☆
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