Am 3. Januar 1889 verlässt der deutsche Philosoph Friedrich
Nietzsche sein Haus in Turin. In der Nähe versucht ein frustrierter
Fuhrmann, sein stures Pferd in Bewegung zu setzen, indem er es mit
seiner Peitsche schlägt. Nietzsche geht dazwischen; der Peitscher
lässt von seinem Tier ab. Doch anstatt wieder seinen Geschäften
nachzugehen, wirft sich der grossgewachsene Deutsche um den Hals des
Pferdes. Kurz darauf wird er nach Hause geführt, wo er zwei Tage
lang vor sich hin stiert, bevor er seine letzten Worte spricht –
"Mutter, ich bin dumm". Die restlichen zehn Jahre seines
Lebens verbringt er in geistiger Umnachtung in Obhut seiner Mutter
und seiner Schwestern. Vom weiteren Schicksal des Pferdes wissen wir
nichts.
Für
die Zuschauer ist es wichtig, diese Anekdote zu kennen und zu
verstehen, auch wenn sie auf den ersten Blick nur marginal mit den
Vorgängen in The
Turin Horse
verknüpft ist. Nach der düster-poetisch vorgetragenen Vorgeschichte
finden wir uns auf dem Land wieder. Auf einem Bauernhof, der von
Hügeln umgeben ist, leben Ohlsdorfer (János Derzsi) und seine
Tochter (Erika Bók) in ärmlichen Verhältnissen. Am ersten Tag
reitet der Bauer, der von einem lahmen Arm gepeinigt wird, in einem
heftigen Sturm nach Hause. Dort stellt er die Kutsche in die Scheune,
bringt das Pferd in den Stall und setzt sich zum Essen hin: eine
gekochte Kartoffel, wie jeden Tag. Danach setzt er sich ans Fenster,
schaut in den Sturm hinaus und begibt sich zu Bett. Am zweiten Tag
entdecken Vater und Tochter, dass ihr Pferd nicht mehr frisst und
sich auch kaum bewegt. Die Tochter kleidet ihren Vater, holt Wasser,
bereitet das Essen zu. Am dritten Tag kämpft sich ein Nachbar
(Mihály Kormos) durch den unablässig wütenden Orkan zum Bauernhaus
und beschwört die Apokalypse, was Ohlsdorfer aber als Unsinn abtut.
Am vierten Tag tauchen Zigeuner auf. Am fünften versiegt der
Brunnen. Der Sturm tobt weiter, das Pferd frisst immer noch nicht.
Was haben diese Phänomene zu bedeuten? Und was wird am sechsten Tag
geschehen?
Erika Bók als Tochter des Bauern Ohlsdorfer. |
Im
Zentrum dieser pessimistischen Weltsicht steht der Besucher, der
Ohlsdorfer und dessen Tochter am dritten Tag aufsucht und dessen
fünfminütiger Monolog zum Eindringlichsten und Besten gehört, was
in jüngerer Zeit im Kino zu sehen war. Mihály Kormos' grossartige
Sprechleistung trifft auf die raue Poesie der Autoren Tarr und László
Krasznahorkai. Der Nachbar will eine Flasche Schnaps kaufen; der
anhaltende Sturm habe die nahe Stadt dem Erdboden gleich gemacht.
Doch diese Zerstörung innerer und äusserer Welten habe schon vor
Jahrhunderten begonnen; sie käme nicht nur von Gott, es seien die
Menschen, welche die Verantwortung für den Ruin ihrer Welt trügen.
So wird die mysteriöse dritte Figur des Films zu einem Rufer in der
Wüste, einer Inkarnation von Nietzsches Zarathustra, der zwar nicht
den Tod Gottes, dafür aber dessen Ohnmacht angesichts der
nachlässigen, in ihrer Apathie destruktiven Menschheit beklagt.
Mihály Kormos als philosophischer Besucher – laut Regisseur Tarr ein "Schatten Nietzsches". |
Der Aktualitätsbezug dieses Klagelieds ist nicht von der Hand zu
weisen: Tarr mag primär universelle Problematiken der Condition
humaine ansprechen, doch sein Film hat auch eine offenkundige
politische Komponente. Es fällt schwer, den Sturm, der laut Erzähler
nur aus einer Richtung bläst und jeden Widerstand überwindet, sowie
den Besucher, der von "Endsiegen" und unbelehrbaren
Menschen spricht, nicht mit den Vorgängen in Ungarns Politik in
Verbindung zu bringen. Tarr, ohnehin ein Gegner der Fidesz-Regierung
unter Premierminister Viktor Orbán, scheint hier die
rechtspopulistische Übernahme seines Landes und die damit verbundene
Ausblutung der unabhängigen Kultur anzuprangern, womit sein
Rücktritt vom Filmemachen auch eine Äusserung politischen Protests
wäre.
Wer
sich auf A
torinói ló
einlassen will, sollte mit Geduld und dem Willen, über den Film
eingehend zu reflektieren, ausgestattet sein. Dann wird man mit einem
tiefgründigen Kunstwerk belohnt, wie es nur das Kino zu bieten hat.
Eine grosse Leistung eines grossen Filmkünstlers.
★★★★★